Kisan – Wo die Besatzung die Idylle verblassen lässt

Sonnenaufgang nahe Kisan; © WCC-EAPPI/Helga

Sonnenaufgang über im Morgendunst liegenden Bergen und Hügeln. In der Ferne silbern glitzernd das Tote Meer. Vögel zwitschern, Hähne krähen, Hunde bellen, Schafe und Ziegen blöken.

Der rote Sonnenball erscheint am Horizont und wirft Tageslicht auf das kleine Dorf Kisan 20 km südlich von Bethlehem. Doch unser Wissen um die besatzungsbedingte Situation des Ortes und seiner Menschen trübt unsere Freude an der mystischen Morgenstimmung.

In Kisan begleiten wir regelmäßig Hirtinnen mit ihren Herden auf ihr Weideland, weil die Frauen auf den Weidegängen immer wieder von Siedlern bedrängt wurden. Die Hirtinnen sagen uns, dass die Siedler fernbleiben, wenn wir da sind. Frühmorgens beobachten wir aus einiger Entfernung, wie die Frauen mit ihren Herden umherziehen. Zuletzt gab es mehrmals neue Vorgaben seitens des Militärs, bis wohin die Hirtinnen mit ihren Tieren gehen können. Eine der Frauen sagte uns dazu: „Unsere Ziegen müssen fressen, Futter zukaufen ist teuer. Außerdem ist das hier doch unser Land.“

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Frauen für den Frieden

Im Oktober begaben sich israelische und palästinensische Frauen auf eine „Reise für Frieden“: Die Journey for Peace[1] führte durch mehrere Orte, von Akko bis Jerusalem. Gespräche wurden geführt, es gab Konzerte, eine Statue für Frieden wurde enthüllt. Am Ende der Tour wurden die Frauen vom israelischen Staatspräsidenten begrüßt und führten ein längeres Gespräch mit dessen Frau[2].

Organisiert wurden die Aktivitäten von der israelischen Organisation Women Wage Peace[3] und der palästinensische Organisation Women of the Sun. Im Juli konnte ich die Gruppen während meines Einsatzes mit EAPPI erleben, als sie gemeinsam eine Demonstration anlässlich des Besuchs des US Präsidenten Joe Biden in Jerusalem veranstalteten:

Mitglieder der Women Wage Peace auf dem Protestzug Richtung Altstadt; © WCC-EAPPI/Tabea

Am 14.Juli versammeln sich die Mitglieder von Women Wage Peace im westlichen Teil von Jerusalem. Der Name der Frauenorganisation steht im Kontrast zur englischsprachigen Formulierung „wage war“ – Krieg führen. Als Ökumenische Begleiter:innen sind wir anwesend, um die Aktivität der Friedensgruppe zu erleben und zu dokumentieren. Etwa 100 Frauen, aus verschiedenen Regionen Israels, verteilen blaue Flaggen und Plakate, u.a. mit der Aufschrift „President Biden – Women Want Peace“, während sie sich zu Fuß auf die Altstadt von Jerusalem zubewegen. Eskortiert werden Sie von israelischen Polizist:innen. Die Stimmung unter den Frauen ist sehr ausgelassen, Lieder wie „We shall overcome“ werden gesungen, es wird viel gelacht und getanzt.

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Die Frauen von An Nabi Samwil

Das heutige An Nabi Samwil liegt eingeklemmt zwischen Siedlungen und Trennbarriere; © UNOCHA-OPT Humanitarian Atlas 2019

Das Dorf An Nabi Samwil – Prophet Samuel – liegt auf einem Hügel in der Westbank, etwa vier Kilometer nördlich von Jerusalem. Am höchsten Punkt des Hügels befindet sich ein Grabmal, das dem Propheten Samuel zugeschrieben wird. Hier steht eine Moschee, die zum Teil in eine Synagoge umgewandelt wurde. Ausgrabungen haben ergeben, dass hier bereits ab dem 4. Jahrhundert v.Chr. Menschen gelebt haben.[1] Bis 1971 lag rund um die Moschee das ursprüngliche palästinensische Dorf An Nabi Samwil. Von den etwa 1.000 Einwohner:innen flohen viele im 6-Tage-Krieg. 1971 wurde das Dorf von der israelischen Armee zerstört und die verbliebenen Einwohner:innen umgesiedelt.[2]

Zwischen Siedlungen, Trennbarriere und Nationalpark

Heute läuft man entlang der Trennbarriere, um nach An Nabi Samuel zu gelangen, das versteckt hinter Stacheldrahtzäunen und einem israelischen Wachposten liegt, etwa hundert Meter von seinem ursprünglichen Ort. An Nabi Samwil liegt in der sogenannten „Seam Zone“, zwischen der Trennbarriere, die hier – wie an vielen anderen Stellen – unter Verstoß gegen internationales Recht innerhalb des besetzten Gebiets verläuft, und der „Grünen Linie“, der Waffenstillstandslinie von 1949, die als Verhandlungsgrundlage für eine zukünftige Grenze zwischen Israel und einem palästinensischen Staat gilt. Um in die Westbank zu fahren müssen die Einwohner:innen von An Nabi Samwil den Checkpoint Al Jib passieren. Eine physische Grenze nach Israel gibt es zwar nicht, jedoch droht die Verhaftung, sollten sie sich als Einwohner:innen der Westbank ohne gültige Genehmigung in Israel aufhalten.

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Begegnungen mit palästinensischen Frauen und Mädchen

Schülerinnen in der Altstadt von Jerusalem; Foto © WCC-EAPPI

Jeden Tag sehen wir Mädchen und Frauen unterwegs in den Straßen von Ost-Jerusalem: Schülerinnen auf dem Weg zur Schule – meist in kleinen Gruppen zu zweit oder zu dritt, lachend und schwatzend, junge Frauen mit ihren kleinen Kindern, ältere Frauen unterwegs beim Einkaufen, oft mit großen Tüten, Geschäftsfrauen und die alten Bäuerinnen, die am Damaskustor sitzen mit großen Bergen von Weinblättern und Gewürzen, die sie verkaufen. In manchen Restaurants sitzen, nach wie vor, unten im „öffentlichen“ Saal die Männer und im ersten Stock die Frauen und Familien. Dort herrscht meist eine fröhliche lebendige Stimmung. Gestern waren wir in einem schicken Café auf der Terrasse im ersten Stock – zusammen mit vielen jungen Frauen – manche arbeiten an Laptops, manche unterhalten sich, andere rauchen Wasserpfeife.

Auf der Straße kommen wir mit den Frauen kaum ins Gespräch. Ich möchte jedoch mehr erfahren über die Lebenssituation der Frauen hier. Vielfach höre ich, dass palästinensische Frauen einer zweifachen Belastung ausgesetzt sind: durch kulturelle Normen und die Auswirkungen der israelischen Besatzung. Auf der anderen Seite wird mir immer wieder erzählt, dass Frauen das starke Element in der Familie seien.

Bewegungsfreiheit

Die Auswirkungen der Besatzungssituation betreffen nicht selten die Bewegungsfreiheit von Frauen in Palästina. Ich höre immer wieder, dass Frauen mehr zuhause bleiben. Viele Frauen machten sich Sorgen, was bei der Fahrt durch die besetzten Gebiete alles passieren könnte. Viele zögerten, allein die Checkpoints zu passieren.

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Standhafte Frauen und internationaler Druck

Eine fragile Erfolgsgeschichte aus Jubbet Adh Dhib

Fadia in ihrem Garten; Foto © WCC-EAPPI

Nach einer halbstündigen Fahrt aus Bethlehem kommen wir in Jubbet Adh Dibh an. Es ist eines der entlegensten Dörfer im Verwaltungsgebiet der Stadt Bethlehem. Wir betreten das mit Klimaanlage gekühlte Wohnzimmer von Fadia, die uns freundlich mit Wasser und arabischem Kaffee begrüßt. Wir sind hier mit Hamed, der für die UNOHCHR arbeitet und zwei seiner Kolleg:innen. Hamed ist im Dorf bekannt, schon häufig konnte er unterstützen und vermitteln, wenn Hilfe im Dorf benötigt wurde.

Erst seit ein paar Jahren hat das Dorf rund um die Uhr Zugang zu Elektrizität und ausreichend Wasser. Lokale und internationale Organisationen haben bei der Umsetzung geholfen, aber es ist vor allem auch ein Verdienst von Frauen wie Fadia, die unermüdlich für ihre Rechte und die des Dorfs eintreten[1].

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Unruhige Feiertage in Jerusalem

Dieses Jahr werden Ramadan, Ostern und Pessach im April gefeiert. Ein Zusammenfallen der Feiertage der drei monotheistischen Weltreligionen kommt nur etwa alle 30 Jahre vor und ist an keinem Ort der Welt so spürbar wie in Jerusalem. Die Erwartung ist groß – endlich darf nach Corona wieder gefeiert werden. Gleichzeitig ist steigende Spannung spürbar.

Festlicher Schmuck zu Ramadan nahe des Damaskustors; © WCC-EAPPI

Am Abend des 1. April hat der Ramadan begonnen – eine Zeit, die das öffentliche Leben in Ost-Jerusalem sehr verändert. Tagsüber ist das Leben ruhiger.  Nach Sonnenuntergang – und damit nach dem täglichen Fastenbrechen – ist mehr los. Die muslimisch geprägten palästinensischen Viertel Ost-Jerusalems sind in der Nacht geschmückt mit bunten Lichtern, die mich an bunte weihnachtliche Lichterspiele an Häusern in Deutschland erinnern.

Dazu haben am Sonntag, den 10.04., mit dem lateinischen Palmsonntag die christlichen Osterwochen begonnen. Die Christ:innen in Palästina und Israel sind nur eine kleine Minderheit neben den großen muslimischen und jüdischen Religionsgruppen[1]. Eine Teamkollegin schickte mir vor kurzem einen Artikel aus der New York Times, in dem eine palästinensische Pfadfinderleiterin mit den Worten zitiert wird: “We are like a potato mashed between everyone.”[2]Wir sind wie eine Kartoffel, zwischen allen zerdrückt.

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Kisan – Ein kleines Dorf in großer Bedrängnis

Ökumenische Begleiterin vor Ort auf den Schafweiden von Kisan; © WCC-EAPPI

Wenn man von Bethlehem nach Süden Richtung Hebron fährt, kommt man irgendwann durch Kisan. Das Dorf ist so unscheinbar, dass man leicht daran vorbeifahren könnte. Von der Straße zurückgesetzt ein paar unverputzte Häuser, einfache Konstruktionen, dann links ein holpriger Abzweig, der zum bescheidenen Gemeindehaus und zu einer kleinen Moschee mit golden gestrichener Mini-Kuppel führt. Erst wenn man diesem Weg folgt, erschließen sich weitere unbefestigte Pfade mit schlichten Steinhäusern, und dann öffnet sich plötzlich die Sicht auf den breiten Rücken eines sanft abfallenden Hangs und auf den südlich gegenüber ansteigenden Hügel. Am östlichen Horizont erheben sich die majestätischen Silhouetten der jordanischen Berge. Rundum nur Steine und Wind.

Der Frühling ist auch in Kisan angekommen; © WCC-EAPPI

Ende Februar sprießt Gras zwischen dem Geröll und in den verwitterten Falten der hellen Felsen, dazwischen einzelne Blumen und kleine Blütenkissen – gelb, blau, vereinzelt Rot. Der Frühling hat begonnen und die wichtigste Phase der Schafzucht eingeläutet. Die Lämmer sind da und staksen hinter ihren Muttertieren her. Jetzt ist die wichtigste Weidezeit, damit sie gut wachsen und später zu einem guten Preis verkauft werden können. Früher war die Schafzucht für die Menschen in Kisan das Rückgrat der Familienökonomie, neben Landwirtschaft und Oliven. Heute spielt sie weiterhin eine große Rolle für das familiäre Grundeinkommen. Inzwischen sind es jedoch meistens die Frauen und die Kinder, die die Herden rausführen und hüten, die meisten Männer arbeiten irgendwo im Bethlehemer Raum oder in einer der Siedlungen.

„Für uns ist diese Jahreszeit die schlimmste im Jahr“, erzählt uns Fatma. „Wir sind darauf angewiesen, die Schafe jetzt draußen zu weiden, denn nur jetzt gibt es ausreichend Grün für die Tiere. Das wissen die Siedler und kommen uns dauernd in die Quere.“ Sie berichtet von einem Vorfall im Februar, als Siedler ihre eigenen Herden auf Weiden von Kisan trieben und Fatmas Schafe mit Steinen bewarfen, um sie zurückzutreiben. Die Tiere seien auseinandergestoben und sie habe Mühe gehabt, sie zusammenzuhalten. Der Siedler habe dann mit Pfefferspray gedroht, um Fatma zur Umkehr zu zwingen. Als sie Steine zur Verteidigung aufgehoben habe, sei er zurückgegangen und mit der israelischen Polizei wiedergekommen. Man habe sie angewiesen, dieses Gebiet zu meiden. Fatma gehört zu einer Familie von ausschließlich Frauen. Sie fühlen sich besonders schutzlos gegenüber den dauernden Aggressionen.

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„Darum stehe ich hier“

Das Plädoyer einer Tochter von Holocaustüberlebenden gegen die Gleichgültigkeit und für Solidarität mit den Palästinensern

Ob bei den „Women in Black“ oder bei den Protesten gegen die Zwangsräumung palästinensischer Familien in Sheikh Jarrah: Die israelische Künstlerin Rosemary Solan engagiert sich für ein Miteinander von Israelis und Palästinensern  – und ein zentrales Motiv dafür liegt in den Holocaust-Erfahrungen ihrer Familie.

Seit mehr als zehn Jahren jeden Freitag im palästinensischen Ostjerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah: Israelis protestieren gegen die Besatzung und für die Zwei-Staaten-Lösung. Foto © EAPPI
Seit mehr als zehn Jahren jeden Freitag im palästinensischen Ostjerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah: Israelis protestieren gegen die Besatzung und für die Zwei-Staaten-Lösung. Foto © EAPPI

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Tourismus mit Tiefgang

Alle Teilnehmer/innen am „Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel“ treffen sich zur „Midterm Orientation“ in Jerusalem. Um sich über die vielen nachhaltig irritierenden Beobachtungen in den ersten Wochen in Tulkarem, Yanoun, Jericho, Jerusalem, Bethlehem, Hebron und den South Hebron Hills auszutauschen und die Vielzahl widersprüchlicher Eindrücke zu verarbeiten, ist diese Woche sehr willkommen. Aber es stehen nicht nur der Austausch und das Nachdenken über die Erfahrungen der vergangenen Wochen auf dem Programm. Wir werden Gelegenheit haben, unsere Sicht auf die jüdisch-israelische Seite, die bisher an vielen Tagen auf die Wahrnehmung der israelischen Soldaten als Vertreter der Besatzungsmacht reduziert war, ganz wesentlich zu erweitern. So hoffen wir – und wir werden nicht enttäuscht. Über einige unserer Begegnungen in dieser Woche möchte ich berichten.

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New Profile – für eine entmilitarisierte Gesellschaft

Ruth Hiller, Foto: Albin Hillert/WCC
Ruth Hiller, Foto: Albin Hillert/WCC

Nun ist auch unsere „Halbzeitpause“, das Zwischenseminar in Haifa und Jerusalem, schon wieder einige Tage vorbei. Ein buntes und volles Programm hat diese Woche geprägt und wir hatten nicht nur Gelegenheit, einige Tage etwas anderes zu sehen, sondern vor allem auch, mit verschiedenen israelischen Friedensaktivist*innen und -organisationen ins Gespräch zu kommen. Besonders in Erinnerung ist mir der Vortrag von Ruth Hiller geblieben. Ruth hat die feministische Organisation New Profile mitgegründet, die sich für eine Entmilitarisierung der israelischen Gesellschaft sowie für das Recht auf Verweigerung des Militärdiensts einsetzt[1].

Ruths Vortrag beginnt sehr persönlich: Sie berichtet uns, wie sie in eine tiefe Sinnkrise gestürzt sei, als ihre älteste Tochter zum Militär musste.

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