Begegnungen mit palästinensischen Frauen und Mädchen

Schülerinnen in der Altstadt von Jerusalem; Foto © WCC-EAPPI

Jeden Tag sehen wir Mädchen und Frauen unterwegs in den Straßen von Ost-Jerusalem: Schülerinnen auf dem Weg zur Schule – meist in kleinen Gruppen zu zweit oder zu dritt, lachend und schwatzend, junge Frauen mit ihren kleinen Kindern, ältere Frauen unterwegs beim Einkaufen, oft mit großen Tüten, Geschäftsfrauen und die alten Bäuerinnen, die am Damaskustor sitzen mit großen Bergen von Weinblättern und Gewürzen, die sie verkaufen. In manchen Restaurants sitzen, nach wie vor, unten im „öffentlichen“ Saal die Männer und im ersten Stock die Frauen und Familien. Dort herrscht meist eine fröhliche lebendige Stimmung. Gestern waren wir in einem schicken Café auf der Terrasse im ersten Stock – zusammen mit vielen jungen Frauen – manche arbeiten an Laptops, manche unterhalten sich, andere rauchen Wasserpfeife.

Auf der Straße kommen wir mit den Frauen kaum ins Gespräch. Ich möchte jedoch mehr erfahren über die Lebenssituation der Frauen hier. Vielfach höre ich, dass palästinensische Frauen einer zweifachen Belastung ausgesetzt sind: durch kulturelle Normen und die Auswirkungen der israelischen Besatzung. Auf der anderen Seite wird mir immer wieder erzählt, dass Frauen das starke Element in der Familie seien.

Bewegungsfreiheit

Die Auswirkungen der Besatzungssituation betreffen nicht selten die Bewegungsfreiheit von Frauen in Palästina. Ich höre immer wieder, dass Frauen mehr zuhause bleiben. Viele Frauen machten sich Sorgen, was bei der Fahrt durch die besetzten Gebiete alles passieren könnte. Viele zögerten, allein die Checkpoints zu passieren.

In Kisan, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bethlehem in der Westbank, spreche ich mit Sabah, einer jungen Frau im Gemeinderat. In dem abgelegenen Dorf leben etwa 800 Menschen. Es gibt keinen öffentlichen Bus, bis zur nächsten Busstation läuft man 5 km. Einmal die Woche gibt es medizinische Versorgung, es kommt eine Ärztin. Für Schwangerschaftsuntersuchungen kommt eine Hebamme von einem privaten Krankenhaus aus Bethlehem.

Sabah ist die erste und bisher einzige Gemeinderätin in Kisan. Sie selbst ist im Ayda Flüchtlingscamp in Bethlehem aufgewachsen. In der traditionellen Dorfgemeinschaft von Kisan ist es für sie nicht immer leicht, vieles werde von Männern entschieden. Also habe sie mit ihrem Mann geredet und sich dann zur Wahl aufstellen lassen und wurde gewählt. Mittlerweile akzeptieren die Männer die erste Frau im Gemeinderat. Und auch bei den Frauen in Kisan hat es sich schnell herumgesprochen, dass einige Dinge mit einer Frau im Gemeinderat einfacher zu besprechen sind.

Dass die Frauen in Kisan auch sehr von den Auswirkungen der Besatzung betroffen sind, wurde bereits von einer meiner Vorgängerinnen[1] berichtet. Immer wieder schikanieren z.B. Bewohner umliegender israelischer Siedlungen Frauen aus Kisan, die in der Umgebung des Dorfs Schafe hüten. Das schränke die Bewegungsfreiheit der Frauen zusätzlich ein, so Sabah. Im bereits oben erwähnten Bericht von UNOCHA-OPT heißt es zu dieser Problematik: „Etwa 10 Prozent der Haushalte berichten, dass Frauen und Mädchen Gebiete in der Nähe israelischer Siedlungen, Checkpoints, öffentliche Plätze und Märkte sowie öffentliche Verkehrsmittel meiden, weil sie sich unsicher fühlen.“[2]

Während Sabah erzählt, kommen immer wieder Frauen in das kleine Gemeindebüro. Die junge Gemeindevertreterin kümmert sich um ihre Anliegen, dann spricht sie weiter mit uns: “I want to make a change.” Sie hofft, dass vielleicht nach vier Jahren – in der nächsten Wahlperiode – andere Frauen im Gemeinderat mitarbeiten werden. Mehr Frauen bedeuten für sie mehr Chancen auf Veränderung. Wenn ich sie so im Gemeindebüro sehe, dann wird mir klar: Die Veränderung hat schon begonnen.

Die “Tyre School” in Khan al Ahmar; Foto © WCC-EAPPI

Die Schulleiterin der „Tyre School“[3] im Beduinendorf Khan Al Ahmar östlich von Jerusalem erzählt uns bei einem unserer Besuche ebenfalls von besatzungsbedingten Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Besonders für die Mädchen und ihre Familien sei es sehr wichtig, dass es eine Schule im Dorf selbst gibt. Wenn der Schulweg zu weit ist dürften viele Mädchen aus den traditionellen Beduinen-gemeinschaften nicht zur Schule gehen, vor allem aus Angst vor Übergriffen und Belästigung durch Siedler oder Soldaten. Die Gefahr sei zu groß, so die Schulleiterin. Die NGO Norwegian Refugee Council berichtete Ende 2020, dass im Zeitraum von Januar 2018 bis Juni 2019 im Durchschnitt 10 Übergriffe pro Tag auf Schüler:innen, Lehrpersonal, Schulen oder Kindergärten registriert wurden.[4] Die Schule in Khan al Ahmar, eine Konstruktion aus alten Reifen und Lehm, die Mädchen wie Jungen seit 2009 den Zugang zu Bildung ermöglicht, soll nach den Vorstellungen der israelischen Behörden abgerissen werden. So wie das gesamte Dorf, dessen Umsiedlung beschlossen, aber wohl vor allem aufgrund des großen internationalen Drucks bisher nicht umgesetzt wurde.[5]

Hauszerstörungen

Nach einer Hauszerstörung im Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan; Foto © WCC-EAPPI

Wenn ich darüber nachdenke, in welchen schwierigen Situationen wir Frauen und ihre Familien bisher hier getroffen haben, dann fallen mir auch die Hauszerstörungen ein. Diese sind eine reale Bedrohung für viele Familien in Ost-Jerusalem, da es aufgrund der restriktiven Stadtplanung[6] für sie fast keine Möglichkeiten gibt, eine Baugenehmigung zu bekommen. Viele Häuser werden daher ohne Genehmigung gebaut und die Zerstörungsanordnung kommt früher oder später. Oft haben die Familien nur wenige Tage oder auch nur Stunden Zeit, ihre Habe aus dem Haus zu schaffen, bevor die Bulldozer kommen oder sie die Zerstörung ihres Heims in die eigenen Hände nehmen müssen. Wenn wir vor einem Steinhaufen stehen, der vorher ein Zuhause für eine oder mehrere Familien war, denke ich immer an die Frauen und daran, was sie alles aushalten müssen. Wie mag es ihnen ergehen?

Einsatz für Frauenrechte und Frieden

Im Büro des Jerusalem Center for Women; Foto © WCC-EAPPI

Fadwah Khawaja treffen wir in ihrem Büro in Ramallah. Sie ist die Leiterin des Jerusalem Center for Women. Selbstbewusst sitzt sie in ihrem Büro und erzählt uns davon, wie wichtig es ist, dass Frauen gemeinsam für Frieden und Freiheit kämpfen. „Dann sind Frauen stark.“ Sie berichtet, dass das Jerusalem Center for Women“ 1994 gegründet wurde – in der Zeit nach dem Osloabkommen. Damals gab es Kooperationen mit israelischen Frauen. „Wir haben israelische Frauen getroffen, ehrliche und starke Friedensaktivistinnen. Wir Frauen haben viel gemein. Damals hatten wir alle große Hoffnungen.“, so sagt sie. Die Verbindungen zu den israelischen Frauen gäbe es immer noch, aber es gäbe mittlerweile auch Widerstände gegen diese Art der Vernetzung.

Ziel der Arbeit des Frauenzentrums ist es, palästinische Frauen zu fördern und ihre Rolle als Motoren des Wandels in ihren Gemeinschaften zu stärken. Ein weiteres Ziel ist es, auf lokaler und internationaler Ebene die Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Besatzung zu erhöhen, deren Auswirkungen, so die Einschätzung der Organisation, Frauen besonders betreffen.[7] Fadwah berichtet auch von den unterschiedlichen Auswirkungen von Armut in Ost-Jerusalem auf Frauen, den Auswirkungen des Gefühls des „Eingesperrt-Seins“ in den durch den Bau der Mauer von der Stadt isolierten Gemeinden Ost-Jerusalems. Fadwah ist es u.a. besonders wichtig, dass es Schutz für Mädchen und junge Frauen vor sexueller Belästigung und Missbrauch gibt, auch daran arbeitet sie.

Und auch wenn sich nach vielen Jahren des Engagements für Frieden und Frauenrechte noch zu wenig geändert hat, wie Fadwah sagt, so ist sie doch weiterhin voller Elan. Es gibt so viel zu tun. Zum Abschluss beschwört sie noch einmal: „Wenn wir Frauen zusammen stehen, dann sind wir stark.“

Elisabeth, im Juni 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von/des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] http://www.eappi-netzwerk.de/kisan/

[2] https://www.ochaopt.org/content/specific-risks-facing-women-and-girls-palestine Übersetzung der Autorin

[3] https://www.ventoditerra.org/en/vdt_frontiers/khan-al-ahmar-school-of-tires-en-en/

[4] https://www.nrc.no/news/2020/november/10-attacks-on-palestinian-education-per-month-by-israeli-authorities-and-settlers/

[5] https://www.ynetnews.com/article/r1o8yc11eyn

[6] http://www.eappi-netzwerk.de/restriktive-stadtplanung-in-ost-jerusalem/

[7] https://www.j-c-w.org/index.php#aboutus

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