Schulkinder vor besonderen Herausforderungen

Eine der ersten Schulen, die wir EAs vom Team Bethlehem besuchten, war die Al Minya Schule im gleichnamigen Dorf. Das Vorgängerteam hatte uns berichtet, dass es dort oft Schikane der Kinder durch Siedler gegeben hatte und schützende Präsenz durch EAs dringend notwendig sei und von der Schule ausdrücklich gewünscht werde. Auch israelische Soldat:innen seien regelmäßig präsent und sogar schon in die Schule eingedrungen.

Al Minya (hier al-Maniyah) liegt zu beiden Seiten der Umgehungsstraße, in der Nähe der Siedlungen Tekoa und Ma’ale Amos mit ihren jeweiligen Außenposten. Karte © B’Tselem https://www.btselem.org/map

Die Schule liegt direkt an einer viel (und schnell) befahrenen Umgehungsstraße, die auch von Siedler:innen genutzt wird, im C-Gebiet der Westbank[1] und in der Nähe der israelischen Siedlungen Ma’ale Amos und Tekoa. Wir kommen an verschiedenen Tagen je zweimal zu den kritischen Zeiten, zu Schulbeginn und zu Schulende, um sogenannte schützende Präsenz zu zeigen. Im Ramadan beginnt die Schule erst um 9 Uhr und endet um 11 Uhr. Als der Monat des Ramadan Anfang Mai zu Ende ist, findet der Unterricht von 7.45 bis 10.10h statt, die Lehrer:innen bleiben bis 11 Uhr.  Der Unterricht ist während der gesamtem Zeit unseres Einsatzes verkürzt: die Lehrer:innen der öffentlichen Schulen befinden sich im Streik, da sie seit fünf Monaten kein oder ein reduziertes Gehalt bekommen haben.

Auch die Soldaten bzw. Soldatinnen kennen diese Zeiten. Sie fahren in ihrem Jeep wieder ab, wenn der Unterricht begonnen hat, also die Kinder nicht mehr außerhalb des Schulgeländes unterwegs sind – und kommen, wenn auch nicht immer, zu Schulschluss wieder. Die Soldat:innen sind immer sehr jung, frisch eingezogen, scheint es uns.

An der gemischten Schule für Mädchen und Jungen werden Kinder im Alter von 6 bis 14 unterrichtet, insgesamt ca. 130 Schüler und Schülerinnen, letztere in der Mehrzahl. Bei unserem ersten „School Run“ werden wir, noch bevor wir uns dem Schulleiter als neues Team vorstellen können, freudig-aufgeregt von vielen Schulkindern begrüßt. Good morning! How are you? What’s your name? Where are you from? Sie wenden ihre Englischkenntnisse bei uns an, wir versuchen ein paar arabische Wörter und Wendungen. Das bringt sie teilweise zum Lachen, und besonders einige Jungen treiben ihre Späßchen mit uns. Als Schuluniform tragen die Jungen blaue T-Shirts und Jeans, die Mädchen fein grün-weiß oder lila-weiß gestreifte Blusen und meist schwarze Hosen oder Jeans. Die meisten älteren Mädchen tragen weiße Kopftücher.

Militärpräsenz (im Hintergrund) gegenüber der Schule von Al Minya; Foto © WCC-EAPPI

Schulleiter Hani heißt uns in seinem Büro herzlich willkommen und entschuldigt sich, uns wegen des Ramadan keinen Kaffee anbieten zu können. Er bestätigt uns unsere Informationen hinsichtlich der Präsenz von Siedlern und Armee am und auf dem Schulgelände und berichtet uns, dass es an diesem Tag bisher keine Probleme gegeben habe. In der Woche zuvor sei allerdings ein mit einem Gewehr bewaffneter Siedler auf den Schulhof gekommen. Im Büro des Schulleiters steht ein Bildschirm, auf den die Bilder der Überwachungskamera übertragen werden – man sieht u.a. den Schulhof mit seinen zwei Eingängen. Dazu ein Aufzeichnungsgerät. Übrigens, wie ein Aufkleber zeigt, finanziert aus Mitteln der Europäischen Union, „Civil Protection and Humanitarian Aid“.

Kurz nach unserer recht frühen Ankunft an der Schule vor Schulbeginn kommt ein Jeep, aus dem drei israelischen Soldaten in voller Ausrüstung inklusive Helm und Gewehr steigen und direkt gegenüber dem Schulhaupteingang Position beziehen. Einerseits sind Schüler:innen und Lehrer:innen dies gewöhnt, andererseits sind sie im permanenten Habacht-Zustand, wie Englisch-Lehrerin Mirvat uns später erklärt. Denn nicht immer stehen die Soldaten einfach nur dort.

Start in den Tag an der Schule von Al Minya; Foto © WCC-EAPPI

Zunächst aber folgen wir interessiert und neugierig dem morgendlichen Schulritual. Die Schülerinnen und Schüler stellen sich klassenweise und getrennt nach Mädchen und Jungen in Reihen hintereinander auf. Nach der Begrüßung durch den Schulleiter werden von Schüler:innen Verse aus dem Koran  vorgelesen oder sogar gesungen. Wir sind sehr beeindruckt von ihrem Selbstbewusstsein. Es folgen Worte eines Lehrers und des Schulleiters, schließlich wird die palästinensische Nationalhymne gespielt. Manchmal, so erleben wir es bei weiteren Besuchen der Schule, gibt es noch andere Musik hinterher, oder ein Wissensquiz mit kleinen Preisen für die richtige Antwort. Am Ende ziehen die Kinder und Jugendlichen klassenweise in ihre Unterrichtsräume.

Bei einem unserer nächsten Besuche verlassen die Soldaten, es sind vier, ihren Standort direkt gegenüber dem Schuleingang, gehen in das angrenzende Feld und bleiben dort stehen. Das Feld wird ein paar hundert Meter weiter durch einen Fußweg begrenzt, den die Schüler:innen benutzen und an dessen Biegung heute ein Militärtransporter steht, den wir aus der Ferne nur mithilfe des Kamera-Teleobjektivs sehen können, daneben auch vier Soldaten. Warum die verstärkte Militärpräsenz heute? Keiner weiß es. Die Schulkinder strömen nach Schulschluss unter Aufsicht von Lehrern und Schülerlotsen über die Umgehungsstraße und den Fußweg hinauf. Plötzlich rennen die Soldaten im Feld zu dem Fußweg und den Schüler:innen hinterher. Diese fangen an zu schreien und zu rennen. Sie haben Angst. Einige Lehrer laufen hinterher, um sie zu schützen. Oben am Weg angekommen, am Militärtransporter vorbei, scheinen sie sich wieder zu beruhigen, die verfolgenden Soldaten auf dem Feld rennen nicht weiter hinter ihnen her. Was war passiert? Wir hören später, dass ein Kind einen Stein aufgehoben, aber nicht geworfen habe. Wir können das nicht verifizieren, aber fragen uns doch: Reicht das schon aus, um Kinder so einzuschüchtern?

Mirvat, die Englischlehrerin, erzählt uns, dass es nicht leicht ist, hier zu unterrichten. Man wisse nie, was die Soldaten:innen oder auch Siedler am nächsten Tag tun würden. Die Kinder müssten unter permanenter latenter Bedrohung lernen. Die Schulleistungen würden darunter leiden.

Mitte Mai haben wir EAs selbst ein unangenehmes Erlebnis. Gegen Schulende, wir sind praktisch im Aufbruch, kommt ein Siedler in seinem Auto und blockiert damit die Nebenstraße, in dem unser Taxi parkt. Ich bin noch in einem Gespräch auf dem Schulhof, als der Siedler meine beiden EA-Kollegen aus dem Auto heraus mit seinem Handy filmt und auf schlimmste Weise beschimpft und anschreit. Dann fährt er mit seinem Auto am Schultor vorbei, sieht mich dahinter stehen, filmt weiter mit dem Handy und schreit „Nazi“. Als wir kurz darauf mit dem Taxi aufbrechen, sehen wir denselben Siedler an einem Posten mit Soldaten stehen und auf sie einreden.

Schülerlotse und Soldatin vor der Schule; Foto © WCC-EAPPI

Bei unserem nächsten Besuch sind wir auf dem Schulhof, als zwei Soldatinnen herankommen. Eine von ihnen positioniert sich wieder direkt gegenüber der Schule – und die zweite neben dem Eingang auf unserer Straßenseite, direkt neben dem kleinen, etwa zehnjährigen Schülerlotsen. Wir benachrichtigen die Schule, und eine Lehrerin kommt heraus und spricht die Soldatin auf Englisch an, fragt sie, warum sie direkt hier am Ausgang und neben dem Kind stehe. Sie berichtet uns später, die Soldatin habe gesagt, sie verstehe kein Englisch (d.h., nur Hebräisch) und es sei ein Befehl. Die Soldatin hält die Position, bis alle ankommenden Kinder das Tor passiert haben und auch noch, bis sie nach der Morgenzeremonie in die Klassen gegangen sind.

Wie soll das weitergehen? Was macht das mit den Kindern? Vielleicht ist es ein Trost, dass am 7. Juni der letzte Schultag vor den Sommerferien ist und es dann für Lehrer:innen wie Schüler:innen eine Verschnaufpause gibt von diesem zermürbenden Alltag mit ständiger militärischer Präsenz – jedenfalls an der Schule.

Ende Mai gehen wir auf Tour nach Hebron mit Breaking the Silence[2] – einer Organisation ehemaliger israelischer Soldaten und Soldatinnen, die in den besetzten Gebieten eingesetzt waren und sich entschlossen haben, über ihre Erlebnisse und ihr Handeln zu sprechen. Wir sind mit Tal unterwegs. Aus ihrer persönlichen Erfahrung berichtet sie, dass die frisch rekrutierten Soldaten:innen überhaupt kein Wissen über die Besatzungspolitik und die mit ihr verbundenen Rechtsverletzungen hätten. Viele von ihnen seien damit aufgewachsen, Palästinenser:innen kollektiv als Bedrohung oder Feinde wahrzunehmen, als potentielle Terrorist:innen.

Organisationen wie Breaking the Silence setzen genau dort an, sie wollen die israelischen Bevölkerung über die Realitäten der Besatzung aufklären, von den Umständen berichten, in denen die Menschen unter Besatzung leben, in der Hoffnung, damit einen Beitrag hin zu einem gerechten Frieden zu leisten. Auf der Webseite von BtS heißt es: „Wir bemühen uns, eine öffentliche Debatte über den Preis anzuregen, der für eine Realität gezahlt wird, in der junge Soldaten täglich einer Zivilbevölkerung gegenüberstehen und den Alltag dieser Bevölkerung kontrollieren. Unsere Arbeit zielt darauf ab, die Besatzung zu beenden.“

EA Kerstin, im Juni 2022

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] Nach den Oslo-Verträgen II von 1995 wurde die West Bank in A, B und C-Gebiete unterteilt. Gebiet A befindet sich unter vollständiger Kontrolle durch die Palästinensische Autonomiebehörde, im B-Gebiet hat die PA die administrative und Israel die Sicherheitskontrolle. Das C-Gebiet umfasst 61% der Westbank und steht unter vollständiger, d.h. administrativer und polizeilich-militärischer Kontrolle Israels.

[2] https://www.breakingthesilence.org.il/

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