Alle Teilnehmer/innen am „Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel“ treffen sich zur „Midterm Orientation“ in Jerusalem. Um sich über die vielen nachhaltig irritierenden Beobachtungen in den ersten Wochen in Tulkarem, Yanoun, Jericho, Jerusalem, Bethlehem, Hebron und den South Hebron Hills auszutauschen und die Vielzahl widersprüchlicher Eindrücke zu verarbeiten, ist diese Woche sehr willkommen. Aber es stehen nicht nur der Austausch und das Nachdenken über die Erfahrungen der vergangenen Wochen auf dem Programm. Wir werden Gelegenheit haben, unsere Sicht auf die jüdisch-israelische Seite, die bisher an vielen Tagen auf die Wahrnehmung der israelischen Soldaten als Vertreter der Besatzungsmacht reduziert war, ganz wesentlich zu erweitern. So hoffen wir – und wir werden nicht enttäuscht. Über einige unserer Begegnungen in dieser Woche möchte ich berichten.
Danya Cohen, 1999 aus den USA eingewandert, mit Kibbuz Erfahrung, couragiert und kenntnisreich, was die komplizierte rechtliche Situation in den besetzen Gebieten angeht, schildert uns zu Beginn der Woche ihre Arbeit in der Menschenrechtsorganisation B‘Tselem[1], einer weltweit anerkannten Organisation, die schon mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen bedacht und deren Vorsitzender wiederholt vom UN-Menschenrechtsausschuss angehört wurde. Ihre Arbeit bestand bis 2015 zu einem großen Teil darin, zur Aufklärung von Vorfällen beizutragen, bei denen Palästinenser verletzt oder getötet wurden oder ihr Eigentum beschädigt wurde, damit dieses Vorgehen nicht ungestraft geduldet wird. Danya berichtet: Von 739 Fällen (darunter 208 Todesfälle), in denen B‘Tselem in den Jahren 2000 – 2015 Beschwerden einreichte und das Vorgehen des Militärs und seiner Behörden detailliert dokumentierte, wurden 182 Fälle nicht untersucht und 343 Untersuchungen ergebnislos beendet; 93 Fälle waren im Mai 2016 noch nicht abgeschlossen, als B’Tselem seine Strategie der Zusammenarbeit mit den Behörden überprüfte. Die Zahl der Fälle, in denen Akten unauffindbar verschwunden waren – nämlich 44 -, überstieg die Zahl der Fälle, in denen man erfolgreich war – nämlich 38. Nur in 13 der 739 Fälle waren disziplinarische Maßnahmen ergriffen und in 25 Fällen Anklage erhoben worden. Nach dieser Bilanz beschloss man 2015 einen grundlegenden Strategiewandel: „Wir beschlossen, nicht länger als Feigenblatt der Besatzung zu dienen.“[2]
Danya Cohen und das Team von B‘Tselem dokumentieren und berichten weiterhin über Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten – ihre Mitwirkung an der Aufklärung von Fällen, um sie vor die Militärgerichte zu bringen, haben sie beendet. Im Vordergrund steht jetzt die öffentliche und auch internationale Informations- und Aufklärungsarbeit. Eine Woche zuvor hatte uns Kareem Issa Jubran von B‘Tselem bereits seine Arbeit als „field officer“ geschildert und uns die Grundregeln seiner Berichterstattung erläutert: 1. Credibility – Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit – alles andere schadet dem Opfer, dem Anliegen und der Organisation – deshalb ist es das oberstes Prinzip. 2. Accuracy – Genauigkeit und Faktentreue in der Berichterstattung – nichts unterschlagen, nicht übertreiben 3. Transparency – Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Recherchearbeit – „double check“ aller Fakten und Quellen. Für uns EAs, die vieles beobachten und über vieles berichten, summierten sich die eindrucksvollen Beispiele aus seinen Erfahrungen und die nachdenklich stimmenden Ausführungen zu einer sehr praxisorientierten Ergänzung des menschenrechtspolitischen Vortrags von Danya Cohen.
Die zweite Israelin, der wir ziemlich gebannt zuhörten, war Hanna Barag[3]: „I am in my eighties“. Hanna ist Mitbegründerin von Machsom Watch, einer israelischen Frauenorganisation die seit 2001 an Checkpoints und den sogenannten „agricultural gates“ (landwirtschaftlichen Checkpoints) beobachtet, mit welchen Einschränkungen die Palästinenser im Alltag konfrontiert sind und wie die israelischen Soldaten sich ihnen gegenüber bei den Kontrollen verhalten. Auf ihrer Website[4] definiert die Organisation ihr Ziel so: „Through our observations, reports, films, photographs and tours we aim to influence public opinion in Israel and throughout the world by recording and authenticating the impossible conditions faced by the Palestinians under Israeli occupation; conditions which also corrode the fabric of Israeli society and the values of democracy. We attempt to ease the frustrations and hardships of Palestinians by offering formal assistance wherever we can.“[5]
Hannah Barag kann anschaulich und pointiert von unendlich vielen erlebten Situationen berichten, in denen Palästinensern das Recht auf Bewegungsfreiheit, der Zugang zu ihren Äckern, Obstgärten und Olivenhainen oder zum Arbeitsplatz und zu medizinischer Versorgung verweigert wurde. Sie kritisiert das System der „Permits“ (Passierscheine) als ein Bürokratiemonster, in dessen Vorschriftendschungel sie sich nach 18 Jahren gelernt hat zu orientieren. Sie gilt auch bei den Militärs als Expertin, die sich nicht abschütteln lässt, wenn sie in einer Sache für einen Palästinenser streitet. An dieser Streitbarkeit und Beharrlichkeit besteht nicht der leiseste Zweifel in unserer Runde, als sie nach eineinhalb Stunden freier Rede – ohne auch nur einmal nach dem Wasserglas zu greifen – ihren lebendigen Vortrag beendet.
Wir haben Fragen über Fragen – was haben wir nicht alles noch zu lernen für unsere restlichen Wochen Checkpoint Watch – und was sind schon 3 Monate gegenüber 18 Jahren? Für die Nachhaltigkeit und Entschlossenheit ihres Engagements wurde Hanna Barag mit dem Yeshayahu Leibovitz Award ausgezeichnet[6]. Ob diese Auszeichnung die vielen Feindseligkeiten, denen Hanna durch ihr Engagement ausgesetzt ist, aufwiegt? Danach haben wir nicht gefragt.
Zunächst galt es aber für uns auch noch ganz Grundlegendes über die israelische Gesellschaft zu lernen: Aline Jaccotett[7], eine Journalistin aus der französischen Schweiz, verheiratet mit einem Israeli und seit einigen Jahren in Israel lebend, beleuchtete verschiedenste Facetten des Staates Israel. Sie vermittelte in einem souveränen Vortrag, wie unterschiedlich die Antworten von Moses Mendelsohn und Theodor Herzl auf die Bedrohung der Juden durch Antijudaismus und Antisemitismus ausfielen. Der eine sprach für den Teil der jüdischen Diaspora, der durch eine gewisse Assimilation die Integration in die Gesellschaft, in der man lebte, propagierte, während der andere einen eigenen jüdischen Staat kreieren wollte, der eine sichere Zuflucht für die Juden vor dem Antisemitismus zum Ziel hatte – eine Vorstellung, die wiederum von ultraorthodoxen Juden, für die einzig der zukünftige Messias einen solchen Staat errichten darf, abgelehnt wurde.
Mit welchen Zugeständnissen es Ben Gurion, dem führenden Staatsgründer, gelang, dennoch die Zustimmung der strenggläubigen Rabbiner zur Ausrufung des Staates zu erlangen, das, so Aline, erleben alle, die in irgendeiner Weise in Israel Religionszugehörigkeits-, Staatsbürgerschafts- und Familienstandsfragen zu klären haben – und wer hat das nicht? – denn der/diejenige muss sich an ein Rabbinatsgericht wenden. Auch Aline hat diese Erfahrung gemacht: Sie wollte ihre christliche Religionszugehörigkeit behalten und hat deshalb ihren jüdischen Mann in Zypern geheiratet, da vor den religiösen Instanzen in Israel keine gemischten Ehe geschlossen werden können. Auch eine zivile Eheschließung ist in Israel nicht möglich ist, und so gibt es in Zypern einen florierenden Wirtschaftszweig, der sich der vielen Israelis annimmt, die nach jüdischem Recht nicht heiraten dürfen oder wollen. Auch in anderen Politikfeldern – besonders in der Sozialpolitik – üben die religiösen und orthodoxen Kräfte einen großen Einfluss aus.
Aline erläuterte drei Elemente, die aus ihrer Sicht den jetzigen Staat charakterisieren: Zunächst das Gefühl, trotz enormer militärischer Stärke bedroht, d.h. “David“ zu sein. Dann gibt es einen enormen demographischen Druck, denn Israel wird mit einer Geburtenrate von 3,4 bald das am dichtesten besiedelte Industrieland der Welt mit wachsenden wirtschaftlichen Problemen sein und schließlich erzeugt seine fragmentierte Gesellschaft in ihrer enormen Bandbreite starke Spannungen in der Politik und im Alltagsleben jedes Einzelnen.
Aus der Vielzahl der Entwicklungen und Fakten, die von Aline aufgezeigt wurden, greife ich noch zwei heraus, die mich besonders verwunderten: „Immer mehr ultra-orthodoxe Frauen, deren Männer dem täglichen (Vollzeit-)Thorastudium nachgehen, nehmen eine Arbeit auf, denn „it is no longer sexy to be poor“, und: Eine Befragung hat ergeben, dass 50% der Israelis, die in Siedlungen in den besetzten Gebieten leben, bereit sind, diesen Wohnort aufzugeben, um in Zukunft in Israel proper zu leben, wenn dort die gleichen günstigen Bedingungen herrschen. Am Ende dieses Tages ahnten wir, welche riesigen Wissenslücken noch zu füllen sind, bevor wir verstehen was in diesem Land so alles vor sich geht.
Grundlegend für das Selbstverständnis der Israelis ist auch der Holocaust. Und so stand selbstverständlich ein geführter Besuch in Yad Vashem, der Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, auf dem Programm. Unsere sonst zu recht ausgiebigen Statements und Fragen neigende Gruppe verstummte zum ersten Mal, als wir nach dem Besuch zu einer Reflexion versammelt waren. Auch während der anschließenden zweistündigen Busfahrt nach Haifa war es eine ganze Weile außergewöhnlich still im Bus.
Bei der Ankunft in Haifa, im Guesthouse des Klosters Stella Maris hoch über der Stadt mit grandiosem Blick über die Stadt und aufs Mittelmeer, wurden wir von Schwester Ester Maria herzlichst willkommen geheißen. Wir fühlten uns ermutigt, jetzt mal ein wenig Abstand zu gewinnen zu all dem balagan und muschkele (hebräisch u. arabisch für: Probleme) der letzten Wochen und Tage; die Nordeuropäer wagten einen kurzen (!) Ausflug ins Mittelmeer, andere besuchten die Bahai Anlage und die German Colony – ich saß im österreichisch anmutenden Café des Guesthouses und genoss bei einer Melange die Sonne und den Blick aufs Meer.
In Haifa hörten wir Vorträge zum Engagement für eine Demilitarisierung der israelischen Gesellschaft und zur Parteienlandschaft in Israel. Besonders letzterer stimmte mich, angesichts der bevorstehenden Wahlen und der möglichen Konsequenzen ihres Ausgangs im Blick auf ein friedlicheres Zusammenleben mit den Palästinensern eher pessimistisch, traurig und ratlos.
Am Nachmittag ging es zurück nach Jerusalem zum Shabbat Gottesdienst in die Reformgemeinde im Stadtteil Baqa. Uns empfing eine junge Rabbinerin argentinischer Herkunft. Sie kam gerade aus Hebron, wo sie mit Kollegen von den „Rabbis for Human Rights“ ein außerschulisches Bildungsprogramm für palästinensische Kinder durchführt – eine politische „Ausnahmeerscheinung“ also.
Vor dem Gottesdienst, in dem in ungezwungener Atmosphäre begleitet von einem Vorsänger mit Gitarre viel und mit großem Engagement gesungen wurde, machte sie uns mit Grundüberzeugungen der jüdischen Reformgemeinden bekannt und erklärte uns die Bedeutung des Shabbats. Danach ging es zum gemeinsamen Shabbat Dinner mit dem Anzünden der Kerzen, dem Shabbat Wein und den Segnungen des Shabbat Brotes. Unter den Gemeindemitgliedern entdeckten wir Bekannte. An den Tischen saßen wir in gemischten Gruppen zusammen. Wir diskutierten mit Martin, vor 25 Jahren aus Wien eingewandert, heute Chef der psychiatrischen Abteilung eines großen Krankenhauses und Vorsitzender von AMCHA, einer psychosozialen Hilfsorganisation für Überlebende der Shoah und ihrer Familien. Aliona ist Sabra, eine im Land geborene Israelin jemenitischer Abstammung, die ihr Kind in die “hand-in-hand“– Schule schickt, eine der wenigen bilingualen Schulen in Israel, in der jüdische und arabische Kinder gemeinsam unterrichtet werden – wir entdeckten gemeinsame Überzeugungen.
An anderen Tischen gab es lebhafte und kontroverse Gespräche über die Notwendigkeit der Mauer und die Rolle der Religion im Konflikt mit den Palästinensern und natürlich war der Abend zu kurz, um alle spannenden Themen auszudiskutieren.
Diese Woche bot intensive Einblicke in die Vielfalt der israelischen Gesellschaft – eine wohltuende Horizonterweiterung – wobei uns auch bewusst wurde, dass wir nur einen kleinen Ausschnitt aus dem ungeheuer breiten Spektrum dieses Landes kennenlernen konnten.
Christa, im März 2019
Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Meine Berichte und Stellungnahmen geben nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] https://www.btselem.org/
[2] The Occupation`s Fig Leaf : Israel’s Military Law Enforcement System as a Whitewash Mechanism, Jerusalem May 2016, S.5: „B’Tselem has reached the conclusion that continuing to file complaints to the military law enforcement system does more harm than good. Because B’Tselem has no desire to help the system create a mere semblance of doing justice, we have decided to stop applying to the military law enforcement system.“
[3] https://www.youtube.com/watch?v=JkxL5uYn60A
[4] https://machsomwatch.org/en/about
[5] Mit unseren Beobachtungen, Berichten, Filmen, Fotos und Führungen wollen wir auf die öffentliche Meinung in Israel und auf der ganzen Welt einwirken, indem wir die unmöglichen Bedingungen aufnehmen, denen die Palästinenser unter israelischer Besatzung ausgesetzt sind. Bedingungen, die auch das Gefüge der israelischen Gesellschaft und die Werte der Demokratie beeinträchtigen. Wo auch immer es uns möglich ist versuchen wir die Frustration und die Nöte der Palästinenser zu lindern, indem wir formelle Unterstützung anbieten.“ (Übers d. Verf.)
[6] http://born-equal.net/blog/2017/04/21/hanna-barags-speech-at-the-leibovitz-prize-2017/
[7] http://alinejaccottet.com/