Kisan – Ein kleines Dorf in großer Bedrängnis

Ökumenische Begleiterin vor Ort auf den Schafweiden von Kisan; © WCC-EAPPI

Wenn man von Bethlehem nach Süden Richtung Hebron fährt, kommt man irgendwann durch Kisan. Das Dorf ist so unscheinbar, dass man leicht daran vorbeifahren könnte. Von der Straße zurückgesetzt ein paar unverputzte Häuser, einfache Konstruktionen, dann links ein holpriger Abzweig, der zum bescheidenen Gemeindehaus und zu einer kleinen Moschee mit golden gestrichener Mini-Kuppel führt. Erst wenn man diesem Weg folgt, erschließen sich weitere unbefestigte Pfade mit schlichten Steinhäusern, und dann öffnet sich plötzlich die Sicht auf den breiten Rücken eines sanft abfallenden Hangs und auf den südlich gegenüber ansteigenden Hügel. Am östlichen Horizont erheben sich die majestätischen Silhouetten der jordanischen Berge. Rundum nur Steine und Wind.

Der Frühling ist auch in Kisan angekommen; © WCC-EAPPI

Ende Februar sprießt Gras zwischen dem Geröll und in den verwitterten Falten der hellen Felsen, dazwischen einzelne Blumen und kleine Blütenkissen – gelb, blau, vereinzelt Rot. Der Frühling hat begonnen und die wichtigste Phase der Schafzucht eingeläutet. Die Lämmer sind da und staksen hinter ihren Muttertieren her. Jetzt ist die wichtigste Weidezeit, damit sie gut wachsen und später zu einem guten Preis verkauft werden können. Früher war die Schafzucht für die Menschen in Kisan das Rückgrat der Familienökonomie, neben Landwirtschaft und Oliven. Heute spielt sie weiterhin eine große Rolle für das familiäre Grundeinkommen. Inzwischen sind es jedoch meistens die Frauen und die Kinder, die die Herden rausführen und hüten, die meisten Männer arbeiten irgendwo im Bethlehemer Raum oder in einer der Siedlungen.

„Für uns ist diese Jahreszeit die schlimmste im Jahr“, erzählt uns Fatma. „Wir sind darauf angewiesen, die Schafe jetzt draußen zu weiden, denn nur jetzt gibt es ausreichend Grün für die Tiere. Das wissen die Siedler und kommen uns dauernd in die Quere.“ Sie berichtet von einem Vorfall im Februar, als Siedler ihre eigenen Herden auf Weiden von Kisan trieben und Fatmas Schafe mit Steinen bewarfen, um sie zurückzutreiben. Die Tiere seien auseinandergestoben und sie habe Mühe gehabt, sie zusammenzuhalten. Der Siedler habe dann mit Pfefferspray gedroht, um Fatma zur Umkehr zu zwingen. Als sie Steine zur Verteidigung aufgehoben habe, sei er zurückgegangen und mit der israelischen Polizei wiedergekommen. Man habe sie angewiesen, dieses Gebiet zu meiden. Fatma gehört zu einer Familie von ausschließlich Frauen. Sie fühlen sich besonders schutzlos gegenüber den dauernden Aggressionen.

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„Wir sehen, was geschieht“

Besuch im Madaa Creative Center in Batn al Hawa, Silwan

Zohair Rajabi auf dem Dach des Madaa Creative Center in Batn al Hawa, Silwan, im Hintergrund der Zionsberg mit Dormitio-Abtei und Stadtmauer; Foto © WCC-EAPPI

An einem Mittwochmittag im Februar, kurz nach 13 Uhr, empfängt uns Zohair Rajabi, der Sprecher des Ost-Jerusalemer Stadtteils Silwan, zur Besichtigung des Madaa Creative Centers im Ortsteil Batn al Hawa.

Zohair Rajabi führt uns durch die Räume des Madaa Kinderhortes in Batn al Hawa. Es ist eines von 3 Zentren in Silwan. Zohair Rajabi und andere starteten mit den Kinderhorten 2016 nach einer Reihe von Zusammenstößen mit Siedlern und Polizei. Viele Kinder und Jugendliche wurden damals verhaftet. „Für unsere Kinder  – dachten wir – müssten wir dieses Zentrum schaffen“.

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Schrumpfendes Weideland

Wie Siedlungen und Siedlergewalt palästinensischen Schäfer:innen das Leben erschweren

Das Dorf Khirbet Zanuta liegt nahe der südlichen Grenze zwischen Westbank und Israel, etwa 200 Menschen leben hier. Schäfer Sulejman hat EAs – Ökumenische Begleiter:innen des Ökumenischen Rats der Kirchen in Palästina und Israel – um schützende Präsenz gebeten. Vor Ort berichtet er uns, was passiert war.

Schäfer Abu Suleyman aus Khirbet Zanuta; © WCC-EAPPI

So viele Schafe wie in diesem Jahr hat Schäfer Sulejman noch nie verloren: Jedes zehnte Schaf, jedes siebte Lamm ist vermutlich wegen des schlechten Wetters und der widrigen Umstände gestorben. Der Winter kam spät, das Gras ist noch nicht gewachsen und die Muttertiere haben nicht genug Milch für ihre Lämmer. Ein herber Verlust. „Schlimmer für uns sind jedoch die Siedler und die Armee“, sagt er. „Um ein Uhr in der Nacht am vergangenen Samstag fuhr ein Siedler mit einem Quad in unser Dorf und drehte wie verrückt Runden direkt vor unserem Haus. Er hat alle Leute in Unruhe versetzt und uns um unseren Schlaf gebracht.“

Khirbet Zanuta liegt nahe der Grenze zwischen Westbank und Israel. Die Trennbarriere (rot) folgt hier, wie an vielen Orten, nicht der Waffenstillstandslinie von 1949 (Grüne Linie). Karte © UNOCHA-OPT

Die Aufregung dieser Nacht ist zum Glück vorbei und Sulejman zeigt uns die Gegend: Auf dem Hügel gegenüber sitzt die Regionalverwaltung für israelische Siedlungen, daneben steht das Industriegebiet Meitarim, das zur etwas weiter entfernten Siedlung Shim’a gehört. Im Südwesten, direkt oberhalb einer Schafsweide von Zanuta, wird gerade ein Außenposten ausgebaut. Im vergangenen Jahr als kleine Farm errichtet wird nun in großem Stil erweitert. Außenposten sind selbst nach israelischem Recht illegal.

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Wir weigern uns zu hassen

Eigentlich wollten wir schon in unserer ersten Woche in Bethlehem das Friedensprojekt Tent of Nations (Zelt der Völker) nahe dem Dorf Nahalin besuchen. Dabei handelt es sich um ein internationales Begegnungszentrum auf den Ländereien der Familie Nassar im südwestlichen Umland von Bethlehem. Menschen aus Palästina und aller Welt, auch aus Israel, an diesem Ort zusammenzubringen, ist Teil einer eindrucksvollen Strategie gewaltlosen Widerstands. Seit der Jahrtausendwende 2000 finden hier Camps und Workshops statt und helfen Freiwillige beim Aufbau einer Öko-Farm. Widerstanden wird der Enteignung des Familienlandes, die seit 1991 droht.

Tent of Nations: Hinter dem von Freiwilligen angelegten Kräutergarten die Siedlung Neve Daniel; © WCC-EAPPI

Statt vor Ort treffen wir jedoch Daoud Nassar in Bethlehem. Er und sein Bruder wurden am 28. Januar auf der Farm von 15 maskierten Männern überfallen und mit Stöcken und Eisenstangen ernsthaft verletzt. Noch im Krankenhaus erhielten sie zahllose Unterstützungsbriefe und -besuche aus dem nahen Dorf, den Besetzten Gebieten und aus aller Welt. Eine Woche nach dem Überfall erzählt uns Daoud über die Hintergründe. Es ist eine Geschichte wie vom „letzten Dorf in Gallien“ – gar nicht lustig, aber Mut machend:

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Strukturelle und physische Gewalt im Jordantal

Die Schafe blöken laut und aufgeregt, die Hühner gackern, der Hahn kräht. Es ist heiß, der Kaffee in dem kleinen Becher in meiner Hand ist sehr stark. Heute empfinde ich die Geräusche der Tiere nicht als idyllisch. Es ist laut. Es mutet fast an, als ob die Tiere versuchen würden, ihren Hirten übertönen zu wollen. Heute sind wir im Jordantal unterwegs, um Übergriffe von Siedlern zu dokumentieren, die sich in der letzten Woche ereignet hatten, während wir uns auf unserem Zwischenseminar befanden.

Eine Gruppe Siedler bedrängt Schäfer und Schafe im Jordantal; Foto © EAPPI
Eine Gruppe Siedler bedrängt Schäfer und Schafe im Jordantal; Foto © EAPPI

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Lebensrealitäten zwischen Bergidylle, Siedlungen und Militärtrainings – Von der Standhaftigkeit der Menschen im Jordantal

Es ist heiß, trocken, die Schafe, Ziegen und der Esel mampfen bedächtig trockene Grashalme. Auf den wenigen schattigen Plätzen haben sich die Hütehunde ausgestreckt und faulenzen. Mein Blick schweift in die Ferne. Eine faszinierende Hügellandschaft erstreckt sich vor mir. Weite, Steinwüste, grüne Tupfer hier und dort: Das Jordantal.

Plötzlich beginnen die Schafe wie wild zu blöken und versammeln sich. Ein Zicklein wurde soeben geboren. Der Hirte Fawzi ist verwundert. Er hat es noch nie erlebt, dass sich alle Tiere bei einer Geburt versammeln. Dieses Zicklein scheint etwas Besonderes auszustrahlen.

EAs begleiten einen Schäfer und seine Herde im Jordantal; Foto © EAPPI
EAs begleiten einen Schäfer und seine Herde im Jordantal; Foto © EAPPI

Langsam beruhigen sich die Schafe und Ziegen wieder und wenden sich der Suche nach etwas Essbarem zu. Das Zicklein macht seine ersten Aufsteh- und Gehversuche. Die Szenerie wirkt friedlich- doch die Idylle täuscht: In der Ferne donnern Schiessgeräusche. Wir sind in allen Richtungen von Militärzonen, einer Siedlung sowie zwei Siedlungsaußenposten umgeben.

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Die nächste Runde im Kampf ums Land

Nach internationalem Recht sind alle israelischen Siedlungen und Siedlungsaußenposten in den besetzten palästinensischen Gebieten illegal. Wie eine neue Siedlung dennoch entsteht und heranwächst – das ist derzeit östlich von Jerusalem zu erleben, wo auf der kahlen Kuppe des Jabal al-Muntar eine „Landwirtschaftliche Farm“ als neue Form der Außenposten entsteht. Die palästinensischen Besitzer des Landes kämpfen dagegen mit juristischen Schritten und politischem Protest.

Spannungsgeladen: Vorn das Protestzelt der Palästinenser aus Sawahre Al-Sharqiya, hinten der neue Outpost, der Grundstein einer künftigen israelischen Siedlung im besetzten Westjordanland. Foto © EAPPI
Spannungsgeladen: Vorn das Protestzelt der Palästinenser aus Sawahre Al-Sharqiya, hinten der neue Outpost, der Grundstein einer künftigen israelischen Siedlung im besetzten Westjordanland. Foto © EAPPI

Weiß, blau und groß ist die Fahne, die da über der kargen Berglandschaft  im Osten von Jerusalem weht. So groß, dass sie, die israelische Flagge, auch aus einigen Dutzend Metern Entfernung noch gut zu erkennen ist, wo an einem zweiten Flaggenmast die palästinensische Fahne weht.

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„Ich bin so froh, dass ihr hier seid“

Silwan – Fundstätte der ältesten Zeugnisse menschlicher Siedlungen in Jerusalem – Ort der Verdrängung von Palästinensern

Zu viele Häuser, zu wenig Geschichte? Teile von Silwan sollen der „City of David“ weichen. Foto © EAPPI
Zu viele Häuser, zu wenig Geschichte? Teile von Silwan sollen der „City of David“ weichen. Foto © EAPPI

„Hello, my name is Mara“, sagt die jüngste Gastgeberin dieses Treffens in ziemlich perfektem Englisch und mit strahlenem Lachen. Mara, dieser Name steht im Arabischen für  Freude. Und tatsächlich leuchten die Augen der Teenagerin, als sie den Ökumenischen Begleiter*innen des Weltkirchenrats ihre Fotos von Tanzstunden im palästinensischen Dabke-Tanz zeigt.

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Das Gewächshaus von An-Nahla

Gelebter Widerstand gegen Verdrängung und Siedlungsausbau

Es hat geregnet in der vergangenen Nacht, aber jetzt herrscht ein strahlend blauer Himmel. Die frühen Sonnenstrahlen lassen auf den Hängen der Judäischen Berge südlich von Bethlehem das üppige Grün der Vegetation glitzern. In wenigen Wochen wird wieder karges Braun die steinigen Höhen dominieren. Wir sind auf dem Weg zu Abu Ahmad in Khirbet An Nahla[1]. Nachdem wir das Dorf durchfahren haben, gräbt sich der Jeep die letzten Kilometer auf dem verschlammten Feldweg langsam und schlingernd seinen Weg; auf den Hügeln ringsum schmucke Häuschen mit roten Ziegeldächern und moderne, weiß getünchte Mietblocks – die jüdischen Siedlungen: Efrat, Givat Hadagan, Neve Daniel. Ein Fußpfad führt uns die letzten Meter am Rande eines Feldes zu dem in einem Bergsattel gelegenen Gewächshaus, nicht weit dahinter auf der felsigen Hügelkuppe sind ein aus Brettern gezimmerter wachturmähnlicher Verschlag, ein Wohncontainer, ein paar Bretterhütten, ein Bulldozer und viele israelische Flaggen zu sehen: Der outpost (Außenposten) Givat Eitam[2].

Abu Ahmads Gewächshaus, auf dem Hügel der Außenposten Givat Eitam; Foto © EAPPI
Abu Ahmads Gewächshaus, auf dem Hügel der Außenposten Givat Eitam; Foto © EAPPI

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Unangenehme Begegnung

Die Übergriffe durch Siedler nehmen in der Westbank zu

Ökumenische Begleiterin beobachtet den Schulweg der Kinder in Tuqu‘, südlich von Bethlehem; Foto © EAPPI
Ökumenische Begleiterin beobachtet den Schulweg der Kinder in Tuqu‘, südlich von Bethlehem; Foto © EAPPI

Zwei israelische Soldaten haben sich auf Felsen am Hang postiert und beobachten gelangweilt die Schulkinder, die sich auf dem steinigen Pfad bergauf zu ihrer Schule bewegen; der dritte Soldat ist im Jeep am Straßenrand sitzen geblieben. Ein zweiter Jeep steht oben auf dem Parkplatz der Grundschule. Es ist ein kühler Wintermorgen und der vorhergesagte sonnige Tag lässt sich durch die feuchten Nebelfetzen nur erahnen. Wir stehen auf der anderen Straßenseite und haben die Wege im Blick, die zur Jungenschule auf der einen Hangseite und zur Mädchenschule und gemischten Grundschule auf der anderen Hangseite führen. In kleinen Gruppen kommen die Kinder aus verschiedenen Richtungen: Kleine Mädchen passieren uns schwatzend und kichernd, winken schüchtern zum Gruß, einige rufen uns ein verschmitztes „Sabach ilcher“ (Guten Morgen) zu und amüsieren sich über unsere (noch) nicht ganz akzentfreie Antwort. Die männlichen Teenies – zumeist mit modischer Undercut-Frisur – schlendern betont lässig an uns vorbei und stellen mit einem fließenden „Good Morning“ ihre Weltläufigkeit unter Beweis, die weiblichen – zumeist in Schuluniform und mit Kopftuch – unterstreichen ihre sprachliche Kompetenz mit der kühnen Frage „How are you?“. Der eine oder andere Lehrer bleibt für ein Schwätzchen stehen und bedankt sich für unsere Anwesenheit.

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