Die Schafe blöken laut und aufgeregt, die Hühner gackern, der Hahn kräht. Es ist heiß, der Kaffee in dem kleinen Becher in meiner Hand ist sehr stark. Heute empfinde ich die Geräusche der Tiere nicht als idyllisch. Es ist laut. Es mutet fast an, als ob die Tiere versuchen würden, ihren Hirten übertönen zu wollen. Heute sind wir im Jordantal unterwegs, um Übergriffe von Siedlern zu dokumentieren, die sich in der letzten Woche ereignet hatten, während wir uns auf unserem Zwischenseminar befanden.
Al Hadidiya
Gerade sind wir bei Abdallah zu Besuch, einem Hirten, der uns seinen Augenzeugenbericht vom Aufeinandertreffen eines Siedlers und zweier israelischer Friedensaktivist*innen der Gruppe Ta’ayush wiedergibt.
Ta’ayush ist eine israelisch-palästinensische Friedensorganisation, die ähnlich wie EAPPI als schützende, präventive Präsenz unter anderem Hirten in ihrem Alltag begleitet, um sie vor gewalttätigen Übergriffen oder Belästigungen zu schützen. Abdallah berichtet: Der Siedler eines Außenpostens, der sich in der Nähe von Al Hadidiya befindet, kam auf ihn, seine Schafe und die zwei Aktivist*innen von Ta’ayush zu. Der Siedler forderte sie auf, das Gebiet zu verlassen. Es entspann ein Streit darüber, wer ein Recht habe, diesen Flecken Land zu nutzen. Bald begann der Siedler, sie zu beschimpfen und die Schafe aufzuscheuchen. Einer der Aktivist*innen stellte sich ihm in den Weg und wurde von dem Siedler zu Boden geworfen.
Dieser Siedler hat Abdallah und seine Familie auf ihrem Land schon häufig bedroht. Abdallah berichtet von drei weiteren Vorfällen, die sich allein in den letzten Tagen ereignet haben.
Al Farisiya
Der Besuch bei Abdallah ist unser zweiter Besuch in einer Hirtengemeinde an diesem Tag. In der ersten Gemeinde berichtete die Hirtin Tarab von Vorfällen, bei denen Siedler auf ihr Grundstück fuhren und ihr zuriefen, dass sie „nach Hause“ gehen, also dieses Land, ihr Land, verlassen solle. Ein andermal kamen Siedler mit ihren Quad Bikes und jagten hinter den Schafen her, um diese auseinanderzutreiben. Bereits Anfang November, so berichtet sie, waren zwei Siedler auf ihr Grundstück gekommen und hatten ihre Hunde gegen die Schafe und Kinder der Familie aufgehetzt. Seitdem nehmen die Kinder einen längeren Schulweg auf sich, weil sie Angst davor haben, den Siedlern zu begegnen.
Nur ein paar Tage vor unseren Besuchen bei Abdallah und Tarab hatte die US Regierung den Siedlungsbau als „nicht per-se illegal“ neu beurteilt. Als direkte Folge wurden die Rufe nach Annexion der Siedlungen in der Westbank, speziell aber des Jordantals einschließlich der Gebiete um das nördliche Tote Meer, in Israel lauter[1].
Premierminister Netanyahu präsentierte bei der Vorstellung seiner Annexionspläne eine Karte, aus der hervorgeht, dass die Annexion des Jordantals fast ein Viertel des Gebiets der Westbank betreffen würde[2]. Im Jordantal gibt es laut der israelischen Friedensorganisation PeaceNow 30 Siedlungen und 18 sogenannte Siedlungsaußenposten, von denen 7 in der Zeit seit der Wahl von Donald Trump im November 2016 errichtet wurden[3]. In 2016 lebten laut B’Tselem (The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories) etwa 10.000 Palästinenser*innen und 11.000 Siedler*innen im C-Gebiet des Jordantals[4].
Es ist eine vergleichsweise kleine Gruppe national-religiöser Aktivisten, die die palästinensische Bevölkerung durch direkte gewalttätige Konfrontationen zur Aufgabe ihres Landes drängt. Doch es sind die Siedlungen an sich, die die Existenz der palästinensischen Bevölkerung im Jordantal massiv bedrohen.
Das Jordantal ist eines der fruchtbarsten Gebiete in der Region und könnte die Kornkammer und ein Wirtschaftszentrum eines zukünftigen palästinensischen Staates sein. Heute stehen jedoch fast 90% des Jordantals als C-Gebiet unter vollständiger israelischer Kontrolle[5]. 20% davon sind palästinensisches Privatland[6]. Ein Großteil des Jordantals ist außerdem als militärisches Sperrgebiet ausgezeichnet, was massive Einschränkungen für die lokale palästinensische Bevölkerung bedeutet. Die Siedlungen nehmen große landwirtschaftliche Flächen ein und benötigen für die Bewirtschaftung immense Wassermengen. Die palästinensischen Gemeinden in den C-Gebieten des Jordantals wiederum sind größtenteils nicht an das Wasser- und Stromnetz angeschlossen und erhalten in der Regel keine Erlaubnis zum Bau von Brunnen oder Wasserbecken[7].
Während die Entwicklung der palästinensischen Landwirtschaft im Jordantal ausgebremst wird, sind viele Siedlungen auf palästinensische Arbeiter*innen aus der Umgebung angewiesen, um die Felder bewirtschaften zu können. So kommt es, dass beispielsweise Tarabs Ehemann in einer Siedlung arbeitet, während er und seine Familie von anderen Siedlern aus der Region belästigt und bedrängt werden. Da sie ihr eigenes Land nicht bewirtschaften können stellt die Arbeit in den Siedlungen für viele Palästinenser*innen die einzige Möglichkeit dar, Geld zu verdienen. Die Arbeitsverhältnisse sind jedoch prekär. Die palästinensischen Arbeiter*innen, so wird uns berichtet, erhalten keine Sozialleistungen, sie haben keine Krankenversicherung, keinen Anspruch auf Krankengeld oder eine Weiterbezahlung im Krankheitsfall. Unsere lokalen Kontakte berichteten uns immer wieder, wie niedrig die Löhne sind.
Ras ‘Ein al ‘Auja
Ras ‘Ein al ‘Auja ist eine weitere von uns begleitete Gemeinde, die besonders unter den Siedlungen leidet. Das Dorf nahe Jericho liegt zwischen drei Siedlungen mit sechs Außenposten. Einer dieser Außenposten, Mevo’ot Jericho, wurde im September diesen Jahres von der israelischen Regierung rückwirkend legalisiert.
Im März, so berichten unsere lokalen Kontakte, fuhren Siedler in die Mitte der Gemeinde, stiegen aus ihrem Auto und schossen mit einem Gewehr in die Luft und in den Boden. Die Bewohner*innen von Ras Ein Al Auja berichteten uns außerdem von Übergriffen auf ihre Schafe. Diese Ereignisse führten dazu, dass die Hirten sich nicht mehr trauen, die Schafe entfernt von der Gemeinde zum Grasen zu führen. Zudem ist es ihnen untersagt, die Schafe in der Nähe der Siedlungen und dem von den Siedlungen beanspruchten Land grasen zu lassen. Somit bleibt ihnen kaum noch ein Ort für ihre Tiere. Im Dorf wächst kein Gras, also müssen die Hirten Futter für ihre Tiere zukaufen, eine finanzielle Belastung, die auf Dauer nicht zu stemmen ist.
Al Muarrajat East
Das Dorf Al Muarrajat East liegt direkt neben Ras Ein Al Auja. Hier lebt Suleman, er ist 31 Jahre alt und auch er verdiente seinen Lebensunterhalt bis Anfang 2018 als Hirte. Er erzählt uns: Während er mit seinen Schafen in der Bergen unterwegs war wurde er von maskierten Siedlern attackiert. Sie schossen drei Mal in sein Bein und flüchteten. Sein Bruder, der in der Nähe war, hörte die Schüsse und brachte seinen Bruder ins Krankenhaus.
Sulemans Bein konnte nicht gerettet werden. Sein Vater musste den Großteil der Schafherde verkaufen, um für die Behandlung seines Sohnes im Krankenhaus bezahlen zu können. Suleman erzählte uns, dass er keine finanzielle oder rechtliche Unterstützung nach diesem Vorfall erhalten hat.
Inzwischen hat er sich ein kleines Geschäft aufgebaut. Er hat einen alten Truck zu einem „Kaffee und Snacks“ – Auto umgebaut und verkauft nun am Strassenrand Getränke und Süssigkeiten, um seine 8 köpfige Familie zu ernähren. Das Einkommen reicht jedoch nicht aus. Sulemans größter Wunsch ist eine Beinprothese. Mit ihr könnte er am Alltag unbeschwerter teilnehmen und eine andere Lohnarbeit aufnehmen.
Zurück in unserer Wohnung ist es nach all diesen Begegnungen leise, nur in meinem Kopf klingen die Geräusche und Geschichten des Tages nach, und in der Ferne ist der Muezzin zu hören. Eine neue Nachricht auf meinem Handy reißt mich aus meinen Gedanken: Der gerade fertiggestellte Wassertank in Tubas und noch ein weiterer, der bereits in Betrieb war – ich berichtete im November[8] – wurden von den israelischen Behörden zerstört. Von Mahyoub und den Landwirten vor Ort erfahren wir später, dass 300 Landwirte und ihre Familien davon betroffen sind.
Abdallah, Tarab, Suleman, Mahyoub und die vielen anderen Palästinenser*innen, denen wir hier begegnen, bestehen trotz allem auf ihren Rechten und hoffen dabei auf wesentlich mehr internationale Unterstützung.
Friederike, im Dezember 2019
Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von Pax Christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-heftige-kritik-an-us-kurswechsel-zu-israels-siedlungspolitik-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-191119-99-788141
[2] https://peacenow.org.il/en/data-on-netanyahus-jordan-valley-annexation-map
[3] Ebd.
Karte taz: https://taz.de/Netanjahu-droht-mit-Annexion/!5625462/https://taz.de/Netanjahu-droht-mit-Annexion/!5625462/
[4] https://www.btselem.org/jordan_valley
[5] Ebd.
[6] https://peacenow.org.il/en/data-on-netanyahus-jordan-valley-annexation-map
[7] Eine Übersicht zum Wasserverbrauch findet sich hier: peacenow.org.il/wp-content/uploads/2017/04/JordanValleyEng.pdf
[8] http://www.eappi-netzwerk.de/lebensrealitaeten-jordantal/