In Galiläa besuchen Ökumenische Begleiter*innen ein im israelischen Unabhängigkeitskrieg zerstörtes christlich-muslimisches Dorf – und sprechen mit einem Zeitzeugen der damaligen Ereignisse
Der sandige Weg schwingt sich in weiten Bögen den bewaldeten Hang hinauf und führt mitten durch einen Pinienwald an zwei Kirchen vorbei. Wer dem Weg bis zum hohen Stacheldrahtzaun eines militärischen Sperrgebiets folgt, ist schon zu weit gewandert. Denn bei den beiden Kirchen im Wald, genau da lag einmal das palästinensische Dorf Ma’Alul.
Dort ist Abu Jad Saba Yosef Salem 1924 zur Welt gekommen, als damals jüngster Einwohner eines Ortes, dessen Anfänge Jahrhunderte, vielleicht sogar bis in biblische Zeiten zurückreichen[1].
Jetzt ist Abu Salem der Älteste in einer Gesprächsrunde, die gespannt zuhört, was er aus seinem Leben zu erzählen hat. Das Treffen findet in einer der beiden Kirchen statt. Hier nimmt der 95-Jährige vor der Ikonostase der griechisch-orthodoxen Sankt-Jacobs-Kirche Platz, auf einen Krückstock gestützt, doch mit hellwachem Blick. Und er beginnt auch hier: Er erzählt von ersten Schuljahren im Querflügel der Kirche, von seiner Hochzeit in ebendieser Kirche am 1. Juni 1947, dann aber vor allem von jenen Ereignissen, die ihn gezwungen haben, den Ort zu verlassen.
Ma’Alul, wenige Kilometer westlich von Nazareth gelegen, hatte rund 700 Einwohner, mehr als 100 Häuser standen hier, für 75 großenteils christliche, teils aber auch muslimische Familien war dies die Heimat. Die meisten lebten von der Landwirtschaft, bauten Obst und Getreide auf Terrassen an, deren ebene Flächen auf den zweiten Blick noch zwischen den Bäumen erkennbar sind. Viele fuhren aber auch zur Arbeit in die teils schon industrialisierten Küstenregionen im Norden des damaligen britischen Mandatsgebiets Palästina.
1947 beschloss die UN mit Resolution 181 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Von arabischer Seite wurde die Aufteilung abgelehnt, bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen jüdischen und arabischen Milizen begannen umgehend, einschließlich der Flucht und Vertreibung von Teilen der palästinensisch-arabischen Bevölkerung. Diese Auseinandersetzungen mündeten nach dem Ende des britischen Mandats, der Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 und dem Einmarsch arabischer Armeen im ersten arabisch-israelischen Krieg – im israelischen Bewusstsein der Unabhängigkeitskrieg, im palästinensischen Bewusstsein die Katastrophe – „Nakba“.
Abu Salem arbeitete zu dieser Zeit bei der Eisenbahn in Haifa, und dort war er auch in jener Nachtschicht, nach der alles anders war als zuvor. Da hat er aus der Zeitung erfahren müssen, dass sein Heimatdorf am 15. Juli 1948 von israelischen Truppen verwüstet worden war. Nur die beiden Kirchen wurden verschont. Die Moschee wurde so beschädigt, dass davon heute bloß noch eine Ruine zu sehen ist. Alle übrigen Gebäude sind – nach der „Operation Dekel“, die in Untergaliläa binnen zehn Tagen 19 palästinensische Orte eingenommen hat[2] – vollständig eingeebnet worden.
Insgesamt wurden im israelischen Unabhängigkeitskrieg rund 400 arabisch-palästinensische Dörfer und Städte eingenommen und großenteils zerstört. Über 700.000 Menschen flüchteten oder wurden vertrieben[3]. „Dass so etwas geschehen kann, war für uns ein Schock“, sagt Abu Salem. Denn zu den Menschen in den benachbarten jüdischen Orten sei das Verhältnis bis dahin gut gewesen. „Sie haben unsere Dorfquelle mitbenutzt, wir haben von ihren fortschrittlichen Ideen in der Landbewirtschaftung gelernt“, erzählt er. „Wir haben zum Beispiel begonnen, genau wie sie mehrere Fruchtfolgen im Jahr anzubauen.“
Drei Tage musste er damals warten, um aus Haifa zurückzukehren, weil die israelischen Truppen alle Straßen blockiert hatten. Ein Cousin starb bei einem Haganah-Anschlag auf den Bus von Haifa nach Nazareth. „Dorthin war meine Familie erst einmal geflohen“, erzählt er, „und nur zwei Tage nach der Flucht ist unser Haus in Ma’Alul gesprengt worden.“ Ebenso wie – außer den Gotteshäusern – alle anderen Gebäude des Ortes.
Die Familie hat elf Jahre in Nazareth gelebt, danach ist sie in das nahegelegene Dorf Yafa an-Naseriyye bei Nazareth umgezogen. Von dort ist Abu Salem immer wieder nach Ma’Alul hinübergegangen, ist zwischen den vom Jewish National Fund anstelle der Obstbäume gepflanzten europäischen Pinien hindurchgewandert. Die machen den Ort für Außenstehende fast unsichtbar, doch Abu Salem lässt sein Heimatdorf nicht los. „Ich bin hier und bin doch nicht hier“, sagt er und deutet damit an, wie widerspruchsvoll, wie gebrochen die palästinensische Identität ist. „Ich lebe hier, bin Bürger dieses Landes, und lebe doch nicht hier, in meiner Heimat.“
Obwohl seine Familie umfassend dokumentieren kann, welches Eigentum sie im Ort und an Ländereien drumherum hatte, obwohl sie, wie Abu Salem betont, nie mehr als zehn Kilometer entfernt wohnte, wurde ihr Besitz als „Absentee Property“ beschlagnahmt, und die Familie zu „anwesenden Abwesenden“.[4] Diese Palästinenser, die nun Binnenflüchtlinge im neuen Staat Israel waren, verloren in der Regel das Recht auf Zugang zu ihrem Grundbesitz. „,Geh‘ in den Libanon‘, hat meine Mutter gesagt“, erzählt Abu Salem mit tränenfeuchten Augen und fast brechender Stimme, „,geh‘ fort, denn hier hast du keine Zukunft.‘“ Er habe darauf entgegnet: „Wenn wir sterben, dann hier alle zusammen“, und er ist geblieben, anders als viele christliche Palästinenser.
Offiziell, so Abu Salem, war es den einstigen Bewohnern des Ortes und ihren Kindern lange Zeit nur einmal im Jahr erlaubt, das Dorf zu besuchen, am 14. Mai, dem israelischen Unabhängigkeitstag. Seit 2005 dürfen Palästinenser mit Wurzeln in Ma‘Alul die Kirchen wieder gelegentlich für festliche Anlässe nutzen. Dann können sie auch den Pinienwald auf der Suche nach weiteren Zeugnissen des einstigen Dorfes durchstreifen. Viel mehr als Mauerreste und die Gräber des muslimischen Friedhofs sind da allerdings nicht zu entdecken, auch weil ein Großteil des einstigen Dorfterrains heute hinter dem Stacheldraht des Militärsperrgebiets liegt, darunter auch der christliche Friedhof.
Das hat durchaus tragische Konsequenzen. So konnte Salwa Salem Copty – geboren 1948, wenige Monate nachdem ihr Vater von israelischen Soldaten erschossen worden war – dessen Grab jahrzehntelang nicht besuchen. Erst im Juni 2019, nach zwei Jahrzehnten erfolgloser Anträge an Israels Armee und an Gerichte, darunter zuletzt auch einer Petition an Israels Supreme Court, ist ihr erlaubt worden, zum Grab ihres Vaters zu gehen. Gestattet wurden drei Friedhofsbesuche im Jahr, mit bis zu drei Personen, eine Ausnahmegenehmigung. Viele andere hoffen bislang vergeblich darauf, die Gräber ihrer Angehörigen besuchen zu können.
Abu Salem hat nicht nur zwei Töchter und drei Söhne, sondern längst auch eine Anzahl von Kindeskindern, die er nicht beziffern kann. „Inzwischen hat auch die Generation meiner Kinder schon Enkel.“ Viele andere einstige Einwohner von Ma’Alul leben heute im Libanon, in Syrien oder Jordanien oder sind in die USA oder nach Kanada ausgewandert. Abu Salem aber sagt: „Für mich ist dieses Land in meinem Herzen eingeschrieben.“
Daniel, im Dezember 2019
Ich habe für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi – Deutsche Sektion oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Ma%27alul
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_Dekel
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3%A4stinakrieg#B%C3%BCrgerkrieg_im_Mandatsgebiet
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Present_absentee