Schrumpfendes Weideland

Wie Siedlungen und Siedlergewalt palästinensischen Schäfer:innen das Leben erschweren

Das Dorf Khirbet Zanuta liegt nahe der südlichen Grenze zwischen Westbank und Israel, etwa 200 Menschen leben hier. Schäfer Sulejman hat EAs – Ökumenische Begleiter:innen des Ökumenischen Rats der Kirchen in Palästina und Israel – um schützende Präsenz gebeten. Vor Ort berichtet er uns, was passiert war.

Schäfer Abu Suleyman aus Khirbet Zanuta; © WCC-EAPPI

So viele Schafe wie in diesem Jahr hat Schäfer Sulejman noch nie verloren: Jedes zehnte Schaf, jedes siebte Lamm ist vermutlich wegen des schlechten Wetters und der widrigen Umstände gestorben. Der Winter kam spät, das Gras ist noch nicht gewachsen und die Muttertiere haben nicht genug Milch für ihre Lämmer. Ein herber Verlust. „Schlimmer für uns sind jedoch die Siedler und die Armee“, sagt er. „Um ein Uhr in der Nacht am vergangenen Samstag fuhr ein Siedler mit einem Quad in unser Dorf und drehte wie verrückt Runden direkt vor unserem Haus. Er hat alle Leute in Unruhe versetzt und uns um unseren Schlaf gebracht.“

Khirbet Zanuta liegt nahe der Grenze zwischen Westbank und Israel. Die Trennbarriere (rot) folgt hier, wie an vielen Orten, nicht der Waffenstillstandslinie von 1949 (Grüne Linie). Karte © UNOCHA-OPT

Die Aufregung dieser Nacht ist zum Glück vorbei und Sulejman zeigt uns die Gegend: Auf dem Hügel gegenüber sitzt die Regionalverwaltung für israelische Siedlungen, daneben steht das Industriegebiet Meitarim, das zur etwas weiter entfernten Siedlung Shim’a gehört. Im Südwesten, direkt oberhalb einer Schafsweide von Zanuta, wird gerade ein Außenposten ausgebaut. Im vergangenen Jahr als kleine Farm errichtet wird nun in großem Stil erweitert. Außenposten sind selbst nach israelischem Recht illegal.

In der Nähe dieser Farm, erzählte uns Sulejman, ließen Schäfer aus Zanuta am 3. Februar wie gewohnt ihre Schafe weiden. An diesem Tag aber sei der ihnen bereits bekannte Siedler aus dem Außenposten mit sechs weiteren Siedlern gekommen, habe die Schäfer mit seinen Hunden belästigt und ihnen gesagt, sie sollten verschwinden. Dieses Land sei israelisches Staatsland geworden, da es nicht bewirtschaftet werde, hätten die Siedler behauptet. Ein Armee-fahrzeug sei gekommen und Soldaten hätten dann drei palästinensische Schäfer inhaftiert. Nach Bezahlung einer Geldstrafe seien sie am 7. Februar wieder freigelassen worden – als eine neue Attacke startete:

An diesem Tag näherten sich vormittags zeitgleich drei Siedlergruppen aus verschiedenen Richtungen einem Hirten aus Zanuta. Von Nordosten kam ein Siedler auf einem Traktor und einer Kamera. Von Südwesten fuhr ein weiterer Siedler mit vier israelischen Hirten ebenfalls auf einem Traktor, lenkte eine Drohne über das Gelände und verjagte die Schafsherde. Von Nordwesten kam ein dritter Siedler auf den palästinensischen Hirten zu und sagte, er müsse mit seiner Herde nach Hause gehen. Mit seinen Rufen habe er den Schafen einen solchen Schrecken eingejagt, dass diese davonrannten.

Ziegen ziehen auf ihrer Wanderung am Außenposten vorbei. Durch dessen Bau und Ausbau hat Khirbet Zanuta erneut sehr viel Weideland verloren; © WCC-EAPPI

Der Hirte ließ sich das nicht gefallen und rief die israelische Polizei um Hilfe. Diese habe ihm jedoch entgegnet: „Warum gehst du zu dem Siedler?“ Am Nachmittag wurde schließlich eine Drohne über Zanuta gesichtet, ein weiterer Grund für Sulejman, uns EAs für den nächsten Tag einzuladen.

„Angesichts der Tatsache, dass die Siedler den palästinensischen Hirten gleichzeitig angriffen, vermuten wir, dass der Übergriff geplant und koordiniert war“ fasst Sulejman den Vorfall zusammen.

Ein anderer Hirte aus Zanuta kommt hinzu: „Dies ist eine Politik der israelischen Regierung, um die Palästinenser von ihrem Grund und Boden zu vertreiben. Die Armee behauptet, dass sie die Siedler vor den Palästinensern schützen muss. Aber gestern, als wir von den Siedlern angegriffen wurden, tauchte zwar ein Armeeauto auf, kam aber nicht zu uns, sondern erkundigte sich nur bei den Siedlern, was passiert war. Einen solchen koordinierten Angriff habe ich noch nie erlebt.“

Nach diesem Bericht über den Vorfall am Vortag  beginnt für die Schäfer die Arbeit des Tages. Viertel nach neun überquert der erste Hirte aus Zanuta die Autoroute Nr. 60 – ein schwieriges Unterfangen für die Schafe aufgrund des hohen Fahrtempos der Autos sowie einer Leitplanke auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Jetzt können auch wir starten. In ordentlichem Tempo leitet ein Schäfer einhundert Ziegen zu ihren Weidegründen zwischen Hügeln und Tälern in Sichtweite des Außenpostens. Dort gibt es nur spärliches Grün, der Winter war einfach zu trocken geblieben. In den Tälern hat der Schäfer allerdings viel zu tun, um die Ziegen von den Getreidesprießen fernzuhalten. Die Ziegen gehorchen aufs Wort auch ohne Einsatz von Hunden.

Weiter im Südwesten ist das Weideland durch die Trennbarriere zwischen Westbank und Israel begrenzt. Die langgestreckten Berghänge jenseits der Waffenstillstandslinien von 1949 (Grüne Linie) wurden bewaldet und in ein Naturschutzgebiet verwandelt, dem Yatir Forest. Der Kontrast zwischen einem semi-ariden Gebiet mit großer Wasserknappheit und direkt daneben einem Staatsforst könnte größer nicht sein.

Ökumenische Begleiter hat Schäfer Abu Sulejman um schützende Präsenz gebeten. An diesem Morgen bleibt es ruhig; © WCC-EAPPI

Um 10:40 sichten wir eine Drohne am Himmel. Neben dem Außenposten beobachtet uns ein Siedler mit Fernglas. Um 11:20 Uhr taucht ein weißes Auto neben der Farm auf, möglicherweise ein Fahrzeug der israelischen Zivil-verwaltung in Palästina, einem Teil der israelischen Armee. Aber alles bleibt ruhig. Die Ziegen haben ihre Weide zweimal umrundet und kehren gegen Mittag nach Zanuta zurück.

„War das heute nicht ein guter Morgen?“ frage ich Sulejman. „Al-ḥamdu li-Llāh – Gott sei Dank!“ – „Gehen Sie heute Nachmittag nochmals auf die Weide?“ will ich wissen. „Nein, die Weidefläche, auf die wir ohne Sorge gehen können, ist wegen der Bedrohung durch die Siedler zu klein geworden, und wir haben Angst vor ihnen. Die Schafe bleiben im Stall. Wir müssen jetzt zusätzliches Schafsfutter kaufen. Und das kostet viel Geld.“, fügt er nachdenklich hinzu. Um Viertel nach Zwölf passieren zwei Helikopter das Dorf Zanuta in Richtung Südwesten.

Ein Hahn kräht und kündigt Mittag an. Wir wollen gehen, doch Sulejman lädt uns zweimal ein zu einem Mittagessen mit Brotfladen, Tomaten, Schafsbutter und Ayran, einem gesalzenen Getränk aus Schafsjoghurt und Wasser. Seine Frau bringt uns frischgebackenes Brot aus dem Taboun. „Sachtayn!“ – „Einen zweifachen guten Appetit!“ wünscht uns Sulejman. Wir genießen zusammen die leckere Brotzeit in der warmen Mittagssonne.

Theodor, im Februar 2022

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

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