Mehr als ein Langstreckenlauf – der Palästina-Marathon

Fitnessstudio im Freien: Tel Aviv. © WCC-EAPPI

Tel Aviv, die zweitgrößte Stadt Israels, wirkt auf mich wie ein riesiges Fitnessstudio im Freien: Trainierte und gebräunte Israelis wie Internationals in Sport- oder Badesachen joggen, spielen Volleyball oder Fußball am gekämmten Strand. Die Stimmung ist ausgelassen, Musik tönt aus den Lautsprechern der Bars und Cafés der Promenade, die Sonne scheint.

Soldaten in der Zone H2 in Hebron. © WCC-EAPPI

Hebron, die zweitgrößte Stadt in der Westbank, ist da anders:  Wer hier unter freiem Himmel joggen möchte, sollte es sich zweimal überlegen. Ein junger Aktivist der Organisation Palestinian Youth Movement erzählt uns, dass „rennende Palästinenser:innen für israelische Sicherheitskräfte grundsätzlich ein verdächtiges Objekt seien“. In der Zone H2, einst ein wichtiges kommerzielles Zentrum Hebrons und der südlichen West Bank, die seit 1997 von israelischen Sicherheitskräften kontrolliert wird und zum Teil für Palästinenser:innen gesperrt ist[1], geht er erst gar nicht laufen. Seine Kopfhörer lässt er grundsätzlich zuhause, denn „sollte ein Soldat etwas rufen, und ich ihn beim Joggen nicht hören, so könnte dies schlimme Konsequenzen für mich haben…“.

Um gewaltfrei und kreativ auf diese durch die israelische Besatzung eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen aufmerksam zu machen, welche laut Artikel 13 „Right to Freedom of Movement“ ein Grundrecht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte[2] ist, starteten drei junge palästinensische und dänische Aktivist:innen 2013 die Graswurzelbewegung Right to Movement (RtM). Noch im selben Jahr organisierten sie den ersten Palästina-Marathon in Bethlehem.

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„Alle Mächte, die die Barmherzigkeit verlieren, haben keine Zukunft“

Das Wohnzelt von Abu Jamal im Jahr 2017, auf den Hügeln im Hintergrund die Siedlungen Ibei Hanahal und Ma’ale Amos; © WCC-EAPPI

Das Beduinendorf Al Ganoub liegt zwischen Hebron und Bethlehem. Hamed Qawasmeh, der Vertreter des Büros des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte für die südliche Westbank hat uns zu einem Besuch dieses Ortes eingeladen. Dieses Mal bin ich mit dem EAPPI-Team aus Hebron unterwegs. Sie sind eigentlich vor allem innerhalb der Stadt tätig. Der Besuch von Al Ganoub im Umland von Hebron ist auch für sie eine besondere Erfahrung.

Al Ganoub liegt zwischen vier Siedlungen; © UNOCHA-OPT Interactive Map

Wir brechen im Regen auf, das vollbesetzte Auto kämpft sich in dichtem Nebel über kurvenreiche Straßen durch Berg und Tal. An einer Tankstelle warten Vertreter der israelisch-palästinensischen Organisation Combatants for Peace auf uns und schließen sich an. Plötzlich sind wir über der Nebelgrenze und überschauen eine karge Hügellandschaft. Eine unbefestigte Straße führt uns auf dem Kamm eines Hügels weiter – vor uns ist nichts zu sehen außer einem roten Schrottauto.

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Ein Lichtstreif am Horizont

Trüb nasskalt ist das Wetter, als wir zu fünft im Auto Jerusalem verlassen, um nach Nahalin zum Tent of nations zu fahren, und es wird noch nässer, je mehr wir uns unserem Ziel nähern. Tief hängen die Wolken zwischen den Hängen und Hügeln um den Bergrücken vom Tent of Nations, keine einzige der fünf umliegenden israelischen Siedlungen ist zu erkennen.

Das EAPPI-Büro in Jerusalem hat uns – das Ost-Jerusalemer EAPPI-Team  – gebeten, den wichtigen Termin an diesem Samstagnachmittag im Februar wahrzunehmen, nachdem das ganze EAPPI-Team Bethlehem an COVID erkrankt ist.

Es ist die erste offizielle Rückkehr der beiden Nassar-Brüder auf ihr Grundstück seit dem Überfall vom 28. Januar, bei dem sie schwer verletzt wurden. Maskierte Männer aus dem Nachbardorf hatten die Brüder Daoud und Daher mit Metallstangen und Messern angegriffen.

Auf dem Weg erklärt uns Hanna vom Jerusalemer EAPPI-Büro, was uns vielleicht erwartet. Im besten Fall könnte es zu einer “atwe” kommen, das ist ein traditionelles Schlichtungsverfahren, bei dem “Älteste” – ehrenwerte Vertreter beider Konfliktparteien –  zusammenkommen und Entschuldigungen und Entschädigungsleistungen aushandeln, um so den Konflikt beizulegen. Auf Einladung der beiden Brüder werden hochrangige Vertreter der lokalen Kirchenleitungen und andere lokale und internationale Unterstützer:innen des Tent of Nations-Projekts sowie hochrangige und lokale politische Vertreter aus dem Nachbarort, Bethlehem und der palästinensischen Autonomiebehörde mit viel Medienpräsenz erwartet.

Als wir gegen 13 Uhr am Tent of Nations eintreffen, sind wir die ersten und werden von Daher Nassar herzlich willkommen geheißen. Er zeigt uns die Narbe am Kopf, deutet auf die Stelle am Oberschenkel, wo er mit einem Messerstich verletzt worden ist. Dann führt er uns zu einer nahen Unterkunft für Freiwillige, die schwer beschädigt wurde.

Daher Nasser zeigt die beschädigte Freiwilligen-Unterkunft; © WCC-EAPPI

Neue Gäste treffen ein. Es sind lokale Unterstützer:innen und führende Vertreter der verschiedenen Kirchen vor Ort, begleitet von internationalen Freiwilligen. Daoud Nasser heißt sie im Namen der Familie willkommen und dankt ihnen für ihr Kommen, ihre Unterstützung und für die vielen Zeichen der Solidarität in diesen letzten sehr schweren Wochen.

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Kisan – Ein kleines Dorf in großer Bedrängnis

Ökumenische Begleiterin vor Ort auf den Schafweiden von Kisan; © WCC-EAPPI

Wenn man von Bethlehem nach Süden Richtung Hebron fährt, kommt man irgendwann durch Kisan. Das Dorf ist so unscheinbar, dass man leicht daran vorbeifahren könnte. Von der Straße zurückgesetzt ein paar unverputzte Häuser, einfache Konstruktionen, dann links ein holpriger Abzweig, der zum bescheidenen Gemeindehaus und zu einer kleinen Moschee mit golden gestrichener Mini-Kuppel führt. Erst wenn man diesem Weg folgt, erschließen sich weitere unbefestigte Pfade mit schlichten Steinhäusern, und dann öffnet sich plötzlich die Sicht auf den breiten Rücken eines sanft abfallenden Hangs und auf den südlich gegenüber ansteigenden Hügel. Am östlichen Horizont erheben sich die majestätischen Silhouetten der jordanischen Berge. Rundum nur Steine und Wind.

Der Frühling ist auch in Kisan angekommen; © WCC-EAPPI

Ende Februar sprießt Gras zwischen dem Geröll und in den verwitterten Falten der hellen Felsen, dazwischen einzelne Blumen und kleine Blütenkissen – gelb, blau, vereinzelt Rot. Der Frühling hat begonnen und die wichtigste Phase der Schafzucht eingeläutet. Die Lämmer sind da und staksen hinter ihren Muttertieren her. Jetzt ist die wichtigste Weidezeit, damit sie gut wachsen und später zu einem guten Preis verkauft werden können. Früher war die Schafzucht für die Menschen in Kisan das Rückgrat der Familienökonomie, neben Landwirtschaft und Oliven. Heute spielt sie weiterhin eine große Rolle für das familiäre Grundeinkommen. Inzwischen sind es jedoch meistens die Frauen und die Kinder, die die Herden rausführen und hüten, die meisten Männer arbeiten irgendwo im Bethlehemer Raum oder in einer der Siedlungen.

„Für uns ist diese Jahreszeit die schlimmste im Jahr“, erzählt uns Fatma. „Wir sind darauf angewiesen, die Schafe jetzt draußen zu weiden, denn nur jetzt gibt es ausreichend Grün für die Tiere. Das wissen die Siedler und kommen uns dauernd in die Quere.“ Sie berichtet von einem Vorfall im Februar, als Siedler ihre eigenen Herden auf Weiden von Kisan trieben und Fatmas Schafe mit Steinen bewarfen, um sie zurückzutreiben. Die Tiere seien auseinandergestoben und sie habe Mühe gehabt, sie zusammenzuhalten. Der Siedler habe dann mit Pfefferspray gedroht, um Fatma zur Umkehr zu zwingen. Als sie Steine zur Verteidigung aufgehoben habe, sei er zurückgegangen und mit der israelischen Polizei wiedergekommen. Man habe sie angewiesen, dieses Gebiet zu meiden. Fatma gehört zu einer Familie von ausschließlich Frauen. Sie fühlen sich besonders schutzlos gegenüber den dauernden Aggressionen.

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Wir weigern uns zu hassen

Eigentlich wollten wir schon in unserer ersten Woche in Bethlehem das Friedensprojekt Tent of Nations (Zelt der Völker) nahe dem Dorf Nahalin besuchen. Dabei handelt es sich um ein internationales Begegnungszentrum auf den Ländereien der Familie Nassar im südwestlichen Umland von Bethlehem. Menschen aus Palästina und aller Welt, auch aus Israel, an diesem Ort zusammenzubringen, ist Teil einer eindrucksvollen Strategie gewaltlosen Widerstands. Seit der Jahrtausendwende 2000 finden hier Camps und Workshops statt und helfen Freiwillige beim Aufbau einer Öko-Farm. Widerstanden wird der Enteignung des Familienlandes, die seit 1991 droht.

Tent of Nations: Hinter dem von Freiwilligen angelegten Kräutergarten die Siedlung Neve Daniel; © WCC-EAPPI

Statt vor Ort treffen wir jedoch Daoud Nassar in Bethlehem. Er und sein Bruder wurden am 28. Januar auf der Farm von 15 maskierten Männern überfallen und mit Stöcken und Eisenstangen ernsthaft verletzt. Noch im Krankenhaus erhielten sie zahllose Unterstützungsbriefe und -besuche aus dem nahen Dorf, den Besetzten Gebieten und aus aller Welt. Eine Woche nach dem Überfall erzählt uns Daoud über die Hintergründe. Es ist eine Geschichte wie vom „letzten Dorf in Gallien“ – gar nicht lustig, aber Mut machend:

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Konflikte kennen keine Quarantäne

Zur Situation in der Westbank

Geschrieben Anfang Mai 2020

Friederike: Ich bin wütend. Der Konflikt macht auch trotz Pandemie keine Pause. Weiterhin blinkt alle paar Minuten mein Handy auf und berichtet entweder, um wie viel die Zahl der Covid- 19 Infizierten in Gaza, der Westbank und Israel gestiegen ist oder an welchen Orten in den C-Gebieten der Westbank, trotz Corona, weiterhin Häuser zerstört werden, Menschen ihr Obdach verlieren, Materialien im Kampf gegen Corona von den israelischen Behörden konfisziert werden oder Siedler gewaltvoll auftreten[1].

EAs begleiten Schäfer bei ihrem Weidegang im Jordantal; Foto EAPPI

Seit drei Monaten bin ich zurück aus meinem Einsatz im Jordantal. Eigentlich wollte ich meinen letzten Blogartikel Hauszerstörungen und Konfiszierungen in Ras Ein Al Auja Anfang Januar widmen. Es war der gewalttätigste Vorfall, den ich in meinen drei Monaten als EA im Jordantal miterlebt habe.

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Die Zerstörung der Lebensgrundlage

Wir waren gerade von der morgendlichen Begleitung von Kindern auf ihren Schulwegen zurückgekehrt und hatten begonnen, unseren Bericht darüber zu schreiben. Da klingelte mein Handy und uns wurde mitgeteilt, dass in einem Dorf außerhalb Bethlehems in der vergangenen Nacht zwei Straßen durch das israelische Militär zerstört worden waren. Einige Nachrichten und Anrufe später erfuhren wir, dass in der letzten Nacht insgesamt sogar drei Zerstörungen stattgefunden hatten. Nachdem wir die Zerstörung der beiden Straßen dokumentiert hatten machten uns auf den Weg zu einer Familie, deren Tierhaltung vollständig zerstört worden war.

Mohammed, der älteste Sohn der Familie, erzählt mir was letzte Nacht geschehen ist; Foto © EAPPI
Mohammed, der älteste Sohn der Familie, erzählt mir, was letzte Nacht geschehen ist; Foto © EAPPI

Direkt nach unserer Ankunft berichten uns die Familienmitglieder: In der vergangenen Nacht gegen 03:30 Uhr kam das israelische Militär mit zwei Bulldozern auf das Land der Familie. Die Bulldozer zerstörten das Zelt, in dem die Hühner gehalten wurden, den Taubenschlag, einen Überseecontainer, in dem das Futter der Tiere lagerte und mehrere Futter- und Wassertröge für die Schafe. Das Wohnhaus blieb unversehrt.

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Ramadan Kareem

Vom 5. Mai bis zum 3. Juni war Ramadan und die muslimische Bevölkerung des Westjordanlands fastete. Das öffentliche Leben war verlangsamt, kein Restaurant hatte auf und die Läden öffneten erst nachmittags. Die Menschen gingen später zur Arbeit und ruhten sich tagsüber, bei Temperaturen über 30 °C, so viel wie möglich aus. Auch die Gastfreundschaft war anders: Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der im Rest des Jahres bei jeder Gelegenheit Kaffee oder Tee angeboten wird, fiel dies nun weg. Auch für uns EAs bedeutet Ramadan, aus Respekt tagsüber im öffentlichen Raum weder zu trinken, noch zu essen oder auch zu rauchen.

Die hitze- und fastenbedingte Trägheit wurde einmal in der Woche unterbrochen. An den Freitagen machten sich Zehntausende auf, zu den Checkpoints[1] nach Jerusalem, um in der Al-Aqsa-Moschee zu beten.

Frauen auf dem Weg zum Checkpoint 300 in Bethlehem; Foto © EAPPI
Frauen auf dem Weg zum Checkpoint 300 in Bethlehem; Foto © EAPPI

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Keine besonderen Zwischenfälle – nur Machtgefälle

Die  Provinzstadt Qalqiliya liegt im Nordwesten der Westbank direkt an der sogenannten Grünen Linie, der international anerkannten Grenze nach Israel, und wird von der in dieser Region wie wild mäandernden Mauer nahezu komplett eingeschlossen. Irgendeine ökonomische Entwicklung in diesem durch die Mauer zur Enklave mutierten Ort ist kaum möglich.

Karte UNOCHA / Humanitarian Atlas 2019; die landwirtschaftlichen Tore in der Trennbarriere sind mit grünen Kreuzen markiert, die palästi-nensischen Orte braun und die Siedlungen lila dargestellt.
Karte UNOCHA / Humanitarian Atlas 2019; die landwirtschaftlichen Tore in der Trennbarriere sind mit grünen Kreuzen markiert, die palästi-nensischen Orte braun und die Siedlungen lila dargestellt.

Eine der besonderen Aufgaben des EAPPI-Teams ist hier das „monitoring der agricultural gates.“ Diese landwirtschaftlichen Tore in der Mauer – die hier in den ländlichen Gebieten als Sicherheitszaun mit Patrouillenstraße und Graben ausgebaut ist – wurden eingerichtet, weil sich viele der Äcker, Gewächshäuser oder Olivenhaine der Bauern hiesiger palästinensischer Dörfer nach dem Mauerbau auf der anderen, von Israel vereinnahmten Seite befinden.

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„Palästina steh auf“

(Sliman Mansour)

Wenn man in Palästina unterwegs ist, stößt man immer wieder auf die Sperranlage, die Israel und die Westbank voneinander trennt[1]. In Beit Jala, in der Nähe von Betlehem, ist das eine Mauer. Beim Fotografieren der Mauer treffe ich Mohammed (12) und seine Schwester Nadja (16). Die Geschwister führen mich in den Garten der Familie und zeigen mir stolz, was dort alles wächst. Der Garten wird durchschnitten von der Sperrmauer, der beim Bau auch uralte Olivenbäume, die sich seit Generationen im Besitz der Familie befanden, weichen mussten.

Garten der Familie in Beit Jala, im Vordergrund der verwaiste Pferdestall; Foto © EAPPI
Garten der Familie in Beit Jala, im Vordergrund der verwaiste Pferdestall; Foto © EAPPI

Mohammed zeigt mir einen massiven Olivenbaum, der noch immer gefällt unmittelbar neben der Mauer liegt. Im Haus befindet sich ein Haufen bereits zerkleinertes Olivenholz, das von weiteren Bäumen stammt. Mohammed nimmt ein Stück Holz und macht mich auf die feine Maserung aufmerksam. Die Geschwister erzählen, dass die Familie früher ein Pferd besaß, das im Garten weidete. Sie zeigen mir den Pferdestall, neben ihrem Haus. Als die Mauer errichtet wurde, hätten sie auch das Pferd nicht behalten können, es befände sich bei neuen Besitzern auf der anderen Seite der Mauer. Den Geschwistern ist die Empörung deutlich anzumerken.

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