Wir EAs (Ecumenical Accompaniers oder Ökumenische Begleiter:innen des Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel des Weltkirchenrats) begleiten am Nachmittag in den South Hebron Hills den Schäfer Hajj Jibrin und seine Herde auf seinem Land in der Gegend des Dorfes Qawawis – und in der Nähe des israelischen Siedlungsaußenpostens Avigayil. Ich bin eigentlich Teil des Teams in Bethlehem und nur für drei Tage auf Besuch im Einsatzort in den South Hebron Hills. Ich genieße den Blick über die Hügel in die weite Landschaft, auf die wilden Pflanzen, die rötliche Erde, die mit verschiedenen Flechten überzogenen Felsen und Steine – und das ruhige, würdevolle Voranschreiten des Schäfers mal hinter, mal inmitten seiner grasenden Schafherde. Auch einige Ziegen sind dabei. Wenn einige Tiere sich zu weit entfernen, hebt er einen der in großer Zahl herumliegenden Steine auf und wirft sie hinter die abseits gebliebenen Schafe – und sie laufen rasch zurück zur Herde. So ziehen wir gemächlich voran, queren auch ein-, zweimal eine schmale Straße. Es ist so friedlich.
Doch wir nähern uns langsam dem Sichtbereich des Außenpostens auf dem Hügelkamm. Nicht mehr weit von der Herde entfernt sehen wir in einer Talmulde – nach wie vor auf dem Land von Hajj Jibrin – frisch gepflanzte Olivenbaumschösslinge, geschützt durch eine grüne Plastikumhüllung. Und wir sehen eine sehr westlich wirkende Zweierschiffschaukel aus Holz. Wir erfahren von Hajj Jibrin, dass die Siedler hier am Werk waren und das Land beanspruchen.
Oben auf dem Hügelkamm tauchen plötzlich drei Gestalten auf und beobachten uns – dann stürmen sie den Hügel hinunter auf uns zu. Es sind Jungen im Alter von, so schätzen wir, 11 bis 14 Jahren, sie kommen aus der Siedlung. Sie stellen uns in aggressivem Ton Fragen auf Ivrit[1] : Sprecht Ihr Ivrit? Woher kommt ihr, aus Amerika? Wir verneinen beides, weiter reichen die Sprachkenntnisse nicht. Aber sie sind augenscheinlich auch nicht gekommen, um mit uns zu reden. Denn plötzlich rennen sie mit lautem Schreien und wilden Armbewegungen in die Schafherde und scheuchen die verängstigten Tiere auseinander und einen Hügel hinauf.
Hajj Jibrin klettert seinen Tieren hinterher und hat Mühe, sie wieder zusammenzutreiben. Als das geschafft ist, reden die Jungen, besonders der Älteste als Wortführer, auf ihn ein, und er diskutiert mit ihnen. Kann er sie bewegen, ihn in Ruhe zu lassen? Es sieht nicht danach aus. Sie nähern sich wieder bedrohlich den Schafen und Ziegen, die Hajj Jabrin schon ein Stück weiter weg getrieben hatte. Ein EA befindet sich bei der Herde, eine weitere Kollegin versucht, Hajj Jibrin damit zu unterstützen, die Kinder verbal zum Gehen zu gehen. Der Wortführer baut sich auch vor mir drohend auf – und dann scheuchen sie nochmals die Schafe zurück, den nächsten Hügel hinauf und über eine Straße. Sie schubsen einen EA zurück, der zwischen ihnen und der Herde steht. Und als wir EAs im Begriff sind, den Hügel hinauf den Schafen zu folgen, wirft der Jüngste uns noch einen Stein hinterher, trifft aber niemanden. Doch offensichtlich sind Schafe, Ziegen und Menschen jetzt weit genug weg von dem vom Außenposten beanspruchten Gebiet, die Jungen entfernen sich.
Ich habe, auch in Vorbereitung auf meinen Einsatz in Israel und Palästina, viel gelesen über die nach internationalem Völkerrecht illegalen Siedlungen[2] und Außenposten und ihre teilweise gewaltbereiten und Gewalt anwendenden Bewohnern:innen. Nun aber diese Kinder zu sehen, wie sie einen würdigen alten Schäfer auf seinem Land und weitere ältere Erwachsene, uns EAs, aggressiv, respektlos und ohne Befürchtung irgendwelcher Konsequenzen angehen, trifft mich tief.
Das sei hier leider an der Tagesordnung, höre ich am nächsten Tag von Se’ev, einem Mitglied der israelisch-palästinensischen Graswurzelbewegung Ta’ayush, als wir gemeinsam mit ihm und zwei seiner Kollegen wieder mit Hajj Jibrin, aber in einem anderen Weidegebiet, unterwegs sind. Wegen des gestrigen Vorfalls hatten meine EA-Kollegen Ta’ayush gebeten, einen Teil ihres wöchentlichen sogenannten Land Action Day zur schützenden Präsenz von Hajj Jibrin und seiner Herde zu verwenden. Ta’ayush wurde 2000 gegründet. Ihren freien Tag, den Samstag (Shabbat) widmen die israelischen Mitglieder der Gruppe dem Schutz von Schäfern und ihrem Land vor Übergriffen israelischer Siedler.[3] Se’ev erzählt mir aus seiner Erfahrung von solchen Vorfällen. Bevor wir heute zu ihnen gestoßen sind, so berichtet er, hat z.B. ein Siedler ein Mitglied ihrer Gruppe unvermittelt von hinten mit einem Stock auf den Kopf geschlagen, so dass der junge Mann ins Krankenhaus gebracht werden musste. Manchmal würden die Siedler erst ein durchaus freundliches Gespräch führen, doch dann würde die Stimmung ganz schnell kippen und in Gewalt münden. Dieses Mal gibt es für Hajj Jibrin und seine Herde keine Zwischenfälle.
Als wir am Nachmittag zusammen mit Ta’ayush einen anderen Schäfer und eine Schäferin mit Herde in der Nähe der Siedlung Karmel begleiten, werden wir wieder von oben beobachtet, diesmal aber länger von nur einer Person, die ihren Standort wechselnd uns folgt – und schließlich herunterkommt, ein einzelner Siedler. Er spricht mit den Leuten von Ta’ayush und dem Schäfer. Danach geht er wieder, setzt sich aber auf einem andern Hügel nieder und behält uns im Auge. Was wollte er, fragen wir Se’ev. Das Übliche, klarmachen, dass wir hier in der Nähe der Siedlung nichts zu suchen haben.
Zurück in Bethlehem erfahre ich, dass mein Team von Sabah, Mitglied des Gemeinderats von Kisan, über Angriffe von Siedlern auf Schäfer informiert wurde. Von Sabah wissen wir auch, dass im landwirtschaftlich geprägten Kisan fast jeder Schafe hat. Kisan liegt im C-Gebiet, steht also völlig unter israelischer ziviler als auch militärischer Kontrolle, und ist von mehreren israelischen Siedlungen umgeben. Sie hätten fast täglich mit Übergriffen unterschiedlicher Art gegen Schäfer und Schäferinnen zu tun, berichtet Sabah. Es ist ein schwerwiegender Fall dieses Mal: Ein in Bethlehem lebender Schäfer habe in Kisan sein Stück Land bewirtschaften wollen und sei von etwa 20 maskierten Siedlern, bewaffnet mit Gewehren, Stöcken und Pfefferspray, aus der nebenan liegenden Siedlung Ma’ale Amos angegriffen worden. Er liege jetzt mit Schädelbruch im Krankenhaus. Die zur Hilfe gerufene (israelische) Polizei habe den Schäfer und seine 4 ebenso anwesenden Familienmitglieder nicht geschützt. Ein Siedler, der unmaskiert war und deshalb erkannt werden konnte, wurde festgenommen. Dies alles berichtet uns und den bei diesem Treffen anwesenden Mitarbeitern des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) der Neffe des Verletzten. Er berichtet auch über die zum Glück weniger gravierenden Verletzungen der anderen vier.
Am nächsten Tag schon gibt es einen weiteren Zwischenfall mit einem Schäfer in Kisan. Sabah berichtet von einem Schäfer, dessen Schwester, auch Schäferin, beim Versorgen ihrer Schafe von Siedlern belästigt wurde. Der Schäfer habe lediglich die Schafe seiner Schwester etwas weiter weg getrieben von der Siedlung. Nach etwa einer Stunde kamen, so Sabah, israelische Sicherheitskräfte und nahmen den Schäfer fest. Den Anwesenden sagten die Soldaten, sie würden ihn nur befragen. Der Schäfer wurde aber in die Siedlung Gush Etzion verbracht und sollte am nächsten Tag einem gerichtlichen Verhör unterzogen werden. Ihm wurde vorgeworfen, dass er einen Siedler und einen Soldaten geschlagen habe. Sabah sagt, man kenne den angeblich geschlagenen Siedler, er komme immer wieder in ihr Dorf. Nach einigen Tagen heißt es, dass ein weiteres Verhör stattfinden soll, da dem Gericht die vorliegenden Beweise und Zeugenaussagen nicht ausreichten.
Dass die gewalttätige und/oder entwürdigende Behandlung von palästinensischen Schäfer:innen durch israelische Siedler, zum Teil geschützt durch israelische Polizei oder Armee, dazu dienen kann, dass sich Siedlungen weiteres palästinensische Land aneignen, wurde z.B. von den israelischen Organisation B’Tselem[4] und Yesh Din[5] dokumentiert. Meine Erlebnisse aus diesen Tagen finden eine irgendwie passende Ergänzung am Sonntag im Gottesdienst in der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem. Das Thema ist nach Johannes 10, 1-18 – Der gute Hirte. Der Gottesdienst und die Predigt sind in arabischer Sprache, aber Pfarrer Munther Isaac fasst freundlicherweise für uns EAs und andere nicht-arabischsprachige Besucher:innen die Predigt in zwei Sätzen auf Englisch zusammen: Er vergleicht den Hirten Jesus mit den politisch Verantwortlichen von heute. Es sei heute genau falsch herum: Während Jesus als guter Hirte die Schafe schützt, geht es manchen Menschen mit politischer Verantwortung vielmehr darum, sich selbst zu allererst zu schützen.
Kerstin, im Mai 2022
Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] Modernes Hebräisch
[2] Nach Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention von 1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten ist es Staaten verboten, die eigene Zivilbevölkerung in besetztes Gebiet umsiedeln.
[4] https://www.btselem.org/publications/202111_state_business
[5] https://www.yesh-din.org/en/plundered-pastures-israeli-settler-shepherding-outposts-in-the-west-bank-and-their-infringement-on-palestinians-human-rights/