Restriktive Stadtplanung in Ost-Jerusalem

Warum sehen so viele palästinensische Stadtteile in Ostjerusalem so heruntergekommen aus? Warum ist so vieles kaputt? Warum der herumliegende Müll, die schlechten Straßen?

Vorwahrlosung in Ost-Jerusalem, direkt an der Mauer; Foto © WCC-EAPPI

Diese Fragen haben wir EAs uns des Öfteren in unseren ersten Wochen in Jerusalem gestellt.  Anfangs habe ich keine Bilder davon gemacht. Ich wollte nicht die Vorstellung stärken, dass solche Zustände typisch für die palästinensische Kultur / Eigenart / „way of life“ seien. Denn so formulierte es z.B. ein Teilnehmer auf einer Studientour der Organisation Ir Amin[1] durch Ostjerusalem. Er sagte: „Aber so wollen die Palästinenser doch leben.“

Ein Besuch bei BIMKOM – Planners for Planning Rights  hilft uns, wichtige Hintergründe hinsichtlich der Stadtplanung in Jerusalem zu verstehen. „Bimkom“, so ist auf der Webseite zu lesen, „ist eine israelische Menschenrechtsorganisation, die 1999 von einer Gruppe professioneller Planer und Architekten gegründet wurde, um Demokratie und Menschenrechte im Bereich der Raumplanung und Wohnungspolitik in Israel und in der Zone C des Westjordanland, das unter israelischer Kontrolle steht, zu stärken.“

Unsere Gesprächspartnerin Sari Kronisch ist zuständig für Projekte in Ost Jerusalem. BIMKOM, so erzählt sie uns, arbeitet an der Schnittstelle zwischen Stadtplanung und Menschenrechten: Welche Auswirkungen hat Stadtplanung auf die Lebensbedingungen der palästinensischen Bewohner:innen in Ost Jerusalem – auf die Wohnsituation, Baurecht, Gesundheitsfürsorge, Bildungschancen etc. Wie verbindet sich israelische Stadtplanung in den palästinensischen Wohngebieten mit dem Besatzungsrecht und welche enormen Auswirkungen hat das auf die Lebensqualität der palästinensischen Bevölkerung, auf Männer, Frauen und Kinder?

In Zusammenarbeit mit verschiedenen palästinensischen Gemeinden in Ost-Jerusalem, so hören wir bei unserem Gespräch, versucht BIMKOM, diese zu stärken und ihnen in Verhandlungen mit den israelischen Planungsbehörden und der Stadtverwaltung eine Stimme zu geben. Dazu veranstaltet BIMKOM Workshops für verschiedene Zielgruppen – für Gemeinden, für Frauen.

Mir wird während des Gesprächs bewusst, dass auch hier die aktuelle Situation in Ost-Jerusalem nur vor dem Hintergrund der Besatzungsgeschichte zu verstehen ist:

1967 – im Sechstagekrieg – eroberte Israel unter anderem Ost-Jerusalem. Ost-Jerusalem sowie Land von 28 palästinensischen Dörfern in der Umgebung wurden anschließend in das Verwaltungsgebiet Jerusalems integriert[2], also de-facto annektiert. Landwirtschaftlich genutzte Flächen wurden enteignet und zum Staatseigentum erklärt. Die formelle Annexion erfolgte 1980 mit dem Jerusalem-Gesetz. Die Annexion ist international nicht anerkannt, Ost-Jerusalem gilt auch weiterhin als besetztes palästinensisches Gebiet. Trotz der Annexion sind die palästinensischen Einwohner:innen Ost-Jerusalems keine israelischen Staatsbürger, sondern haben lediglich einen unbefristeten Aufenthaltsstatus in der Stadt, der entzogen werden kann, wenn sich jemand über mehrere Jahre im Ausland aufhält, z.B. für Arbeit oder ein Studium.[3]

Ein Blick auf die Karte zeigt die verschiedenen Grenzlinien, die in Jerusalem gelten:

  • Grün die „Green Line“ (die Waffenstillstandslinie von 1949, die das von Israel kontrollierte Territorium bis zum Sechstagekrieg 1967 begrenzte und heute als Grundlage für Verhandlungen hinsichtlich der zukünftigen Grenze zwischen Israel und einem palästinensischen Staat gesehen wird))
  • Blau die Verwaltungsgrenze Jerusalems (1967 wie oben beschrieben in die Westbank hinein erweitert)
  • Rot der Verlauf der Trennbarriere[4], die in Form einer hohen Mauer Ost-Jerusalem vom Rest der Westbank trennt, und an manchen Stellen durch Ost-Jerusalemer Stadtteile verläuft. Die Association of Civil Rights in Israel schätzt, dass 120.000 – 140.000 palästinensische Bürger:innen Ost-Jerusalems heute auf der Westbank-Seite der Mauer leben[5]
„Greater Jerusalem Map 2022“ der NGO Ir Amim (https://www.ir-amim.org.il/en/node/2764)

Bis heute sind die palästinensischen Stadtteile, die ehemals Dörfer waren, städtebaulich nicht entwickelt, viele verwahrlost, ohne urbane Infrastruktur und sehr dicht besiedelt, so Sari Kronisch. Die Stadtplanerin spricht von slum-ähnlichen Zuständen – auch wir können bei unseren Fahrten jeden Tag die Unterschiede zwischen den palästinensischen Stadtteilen und den israelischen Siedlungen in Ostjerusalem sehen.

Die Stadtplanerin erklärt uns, dass diese Unterschiede nicht das Ergebnis fehlender Planung seien, sondern – ganz im Gegenteil – genau das Ziel der restriktiven Planung: Die Politik und die Stadtplanung würden die Slums erst entstehen lassen. Die ehemaligen Dörfer bekämen keine urbane Stadtentwicklung, sondern würden vielmehr in dieser dörflichen Struktur belassen – ohne urbane Infrastruktur, wie Parks, Spielplätze und städtische Straßen und ebenso ohne regelmäßige städtische Services, wie Müllabfuhr. Ebenso fehlten Schulen in ausreichender Zahl.

2021 berichtete die israelische Tageszeitung Haaretz[6] über die Stadtplanung in Jerusalem. Der Autor ging u.a. darauf ein, dass die Empfehlung eines interministeriellen Komitees von 1972 hinsichtlich der Aufrechterhaltung der jüdischen Mehrheit in der Stadt (damals etwa 73,5%) noch heute Konsequenzen für die Einwohner:innen Jerusalems hat. Auch von Sarah Kronisch hören wir, dass die Stadtplanung systematisch die palästinensischen Stadtteile benachteiligt, z.B. durch die Verweigerung von Baugenehmigungen, während sie die israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem und deren kontinuierlichen Ausbau stärkt.

In den palästinensischen Stadtteilen ist das Baurecht stark eingeschränkt. Lediglich 15% der Fläche Ost-Jerusalems und damit etwa 8% der Gesamtfläche der Stadt stehen den palästinensischen Bewohner:innen zum Bau von Wohnhäusern zur Verfügung, trotz eines palästinensischen Bevölkerungsanteils in Jerusalem von etwa 38%[7]. Baugenehmigungen werden von den israelischen Behörden daher nur in seltenen Fällen erteilt. Unter diesem Druck bauen viele palästinensische Familien ohne Baugenehmigung. Die Folge: Regelmäßige Hauszerstörungen. Dieses Stadtplanungsinstrument gehört in meinen Augen bestimmt zu den bedrückendsten Maßnahmen, die den palästinensischen Einwohnern:innen das Leben schwer bis unmöglich machen. Schon die Androhung einer Hauszerstörung ist mit großen finanziellen und natürlich psychologischen Schrecken verbunden.  Für die Zerstörung durch die Behörden werden den Hausbesitzern hohe Gebühren in Rechnung gestellt. So beschließen viele Familien ihr Haus selbst zu zerstören, um wenigstens diese Kosten zu sparen. Nach Schätzungen von UNOCHA sind etwa ein Drittel aller Wohnhäuser in Ost-Jerusalem ohne Genehmigung errichtet worden und etwa 100.000 Menschen potentiell von Hauszerstörungen bedroht.[8]

Ein Beispiel erleben wir drei Wochen später: Am Dienstag, den 10.05. wurde im Stadtteil Silwan das Wohnhaus von fünf Familien zerstört. Als wir am Nachmittag ankommen, ist von dem großen Haus nur noch ein Steinhaufen übrig. Die Staubwolken der Zerstörung liegen noch in der Luft.

Zerstörung eines großen Wohnhauses im Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan; © WCC-EAPPI

Hier lebten insgesamt 35 Menschen, die meisten davon sind Kinder. Im Erdgeschoss war ein medizinisches Zentrum untergebracht. Die Familien hatten einige Tage zuvor, in den Feiertagen nach Ramadan (Eid al Fitr) einen Telefonanruf von der Polizei bekommen: Räumt euer Haus leer. Irgendwann nach den Feiertagen, ab dem 1.Mai, könne die Zerstörung stattfinden. Daraufhin ist das Medical Center, das im Erdgeschoss war, ausgezogen. Die fünf Familien entschieden, das Haus nicht zu räumen. Sie haben keinen anderen Ort.

Einer der betroffenen Familienväter hat uns zwei Tage vor der Zerstörung erzählt, dass die Familie über viele Jahre vergeblich versucht hatte, eine Baugenehmigung zu erhalten. Wir erfahren, dass sie mittlerweile 20 Jahre lang viel Geld bezahlt haben – annähernd 700,000 NIS (knapp 200.000 €) sowohl für die vergeblichen Bauanträge, als auch Strafzahlungen für den illegalen Hausbau.

Viele Männer sind nach der Zerstörung anwesend. Ungefähr 20 jungen Männer und Jungen klettern auf dem Geröllhaufen herum und versuchen nützliche Dinge wie Matratzen zwischen den Steinen zu retten. Andere versuchen, Steine und Geröll beiseite zu räumen, um einen Weg zum Keller des Hauses freizuräumen. Später kommt ein Bagger und schiebt Betonbrocken und Schotter beiseite. Wir überlegen, dass die Familien wahrscheinlich dort unten schlafen wollen. Nachdem ein Weg frei gemacht ist, kommen die Frauen und verschwinden in dem Loch unter dem Geröll.

Der Familienvater, den wir zusammen mit seinen fünf Töchtern zwischen 11 und eineinhalb Jahren am Sonntag zuvor kennengelernt hatten, erzählt: „Um 9.00 am Morgen kamen die Leute von der Stadtverwaltung und brachen die Wohnungstür auf. Wir durften nichts mitnehmen.“ Er sagt, die Familie habe nur noch das, was sie am Leib trage. Dann schaut er in Richtung der neuen Häuser der jüdischen Siedlungen in Silwan und sagt: „Diese Häuser sind 2016 gebaut worden. Keine Schwierigkeiten mit der Baugenehmigung. Keine Bedrohung durch Zerstörung.“

Ein riesiger Schuttberg ist alles, was vom Haus übrig ist; © WCC-EAPPI

Wir fragen uns betroffen, wo die Familien schlafen werden. Was wird mit den vielen betroffenen Kindern? In den nächsten Wochen werden wir sie immer wieder besuchen. Wir können nichts tun, als davon berichten.

Trotz alledem sieht Sarah Kronisch von BIMKOM Hoffnungszeichen: Sie erzählt, dass es mittlerweile gemeinsame Aktionen betroffener Gemeinden bzw. Stadtteil gibt, wie Demonstrationen vor dem Rathaus gegen Hauszerstörungen. Sie hofft, dass so viel Öffentlichkeit für dieses Thema eine Wirkung auf die Stadtverwaltung hat.

Elisabeth, im Mai 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von/des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.ir-amim.org.il/en

[2] https://www.btselem.org/jerusalem

[3] https://www.nrc.no/resources/legal-opinions/revocation-of-residency-in-east-jerusalem/

[4] Hintergründe zur Trennbarriere: https://www.btselem.org/separation_barrier

[5] ACRI East Jerusalem: Facts and Figures 2021 https://www.english.acri.org.il/post/__283

[6] https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-the-master-plan-for-building-in-jerusalem-preserve-a-jewish-majority-1.9712736

[7] ACRI East Jerusalem: Facts and Figures 2021 https://www.english.acri.org.il/post/__283

[8] https://www.ochaopt.org/content/high-numbers-demolitions-ongoing-threats-demolition-palestinian-residents-east-jerusalem

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