Das Al-Makhrour-Tal liegt zwischen der an Bethlehem angrenzenden Stadt Beit Jala und dem malerischen Örtchen Battir. Das fruchtbare Land wird seit Jahrhunderten bewirtschaftet, der Wein aus den Trauben, die hier im Tal wachsen, kann Jahrzehnte alt sein, die Olivenbäume gar Jahrhunderte. Fast das gesamte Tal ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes “Land of Olives and Vines – Cultural Landscape of Southern Jerusalem, Battir”, da die alten Steinterrassen noch heute landwirtschaftlich genutzt und erhalten werden[1].
Die christlich-palästinensische Familie Kisiya besitzt ein Stück Land an den Hängen von Al Makhour mit Blick auf Beit Jala, welches sie in den 60er Jahren erworben haben. Früher führten sie hier in grüner Umgebung ein Restaurant, das bei Einheimischen und lokalen wie internationalen Besucher:innen beliebt war[2]. Das Restaurant war zugleich das Zuhause der Familie. Es wurde im August 2019 von den israelischen Behörden abgerissen, die – wie in so vielen Fällen – eine fehlende Baugenehmigung geltend machten, welche jedoch für Palästinenser:innen in den von Israel vollständig kontrollierten C-Gebieten des Westjordanlands so gut wie nie zu bekommen ist. Kurz nach der Zerstörung des Hauses der Familie Kisiya wurde in unmittelbarer Nachbarschaft ein illegaler Siedlungsaußenposten errichtet. Obwohl ohne Genehmigung gebaut, steht dieser Außenposten bis heute.
Die Familie nutzte ihr Land weiterhin, jedoch ohne erneut Gebäude darauf zu errichten. Die Siedler:innen im Tal verstärkten ihre Aktivitäten, indem sie auch nahe Battir immer wieder versuchten, einen Außenposten zu errichten. Nachdem sich die Bewohner:innen des Ortes zunächst über mehrere Jahre erfolgreich gegen den Außenposten wehren konnten, steht dieser nun seit Dezember 2023 mitten im UNESCO Weltkulturerbe.
Doch damit nicht genug: Am 31. Juli 2024 drangen Siedler:innen gewaltsam auf das Land der Familie Kisiya ein, vertrieben die anwesenden Familienmitglieder und zerstörten das bestehende Tor, um kurze Zeit später ein neues, mit einem Davidstern versehenes Tor zu errichten.
Laut PeaceNow gibt es im Westjordanland mittlerweile[3] 146 Siedlungen und 212 Außenposten, Tendenz steigend. Während neue Siedlungen gegen internationales Recht verstoßen, aber regierungsseitig offiziell geplant werden, eignen sich im Fall der Außenposten Siedler:innen unter Missachtung internationalen UND israelischen Rechts Land an, nicht selten durch das massive Bedrängen der palästinensischen Eigentümer:innen bzw. Nutzer:innen. Zelte oder Wohnwagen werden errichtet, später kommen feste Gebäude dazu. Dann wird der Außenposten an die Infrastruktur angeschlossen, von der Armee gesichert und wächst, wird eventuell rückwirkend legalisiert oder in eine bestehende Siedlung als Nachbarschaft integriert. „Wenn die Siedler:innen auf unserem Land sind, was können wir dann tun?“, sagte uns eine betroffene Person im Raum Bethlehem, „die Soldaten:innen kommen, um sie zu schützen, also können wir nicht einmal mehr unser Land betreten.“
Die Geschichte der Familie Kisiya ist kein Einzelfall, aber sie haben vergleichsweise mehr Möglichkeiten, auf ihre Situation aufmerksam machen – und das wollen sie nicht nur für sich, sondern auch für andere Betroffene nutzen. Alice Kisiya, eine der Töchter, ist Journalistin mit einer großen Anzahl Follower:innen in den sozialen Netzwerken[4]. Als das Land der Familien von den Siedler:innen besetzt und kurze Zeit später von der Armee zur geschlossenen Militärzone erklärt wurde (wohlgemerkt durften die Sieder:innen dennoch bleiben), verbreitete sich die Nachricht auf Instagram sehr schnell, viele Menschen brachten online und vor Ort ihre Solidarität zum Ausdruck. Zudem hat Alice, wie ihre Mutter, israelische und französische Staatsbürgerschaft. Sie ist sich bewusst, dass die israelische Staatsbürgerschaft ihr im Vergleich zu Palästinenser:innen, die lediglich über einen Status als Bewohner:innen der Westbank verfügen, einen größeren rechtlichen Schutz gewährt im Hinblick auf ihr aktives Engagement und ihren Protest.
Da sie ihr eigenes Land nicht mehr betreten können, errichteten Alice und ihre Familie zusammen mit Aktivist:innen ein Solidaritätszelt auf der anderen Seite des Tals, außerhalb der Militärzone, aber in Sichtweite des Geländes. Ein überdimensionaler Druck der Besitzurkunde für ihr Grundstück wurde am Zelt angebracht. Mitglieder der Gruppen Combatants for Peace, Standing Together und Rabbis for Human Rights sowie Einzelpersonen waren rund um die Uhr im Zelt präsent. „Wir haben von Alice und ihrem Engagement gehört und wollten dabei sein“ erzählte uns Amira, Co-Moderatorin des israelisch-palästinensischen Podcasts Unapologetic: The Third Narrative. „Wir bleiben die ganze Nacht hier, was beängstigend ist. Soldat:innen und Siedler:innen sind auf und ab gefahren, vorbei am Zelt, und es ist unmöglich zu schlafen, aus Angst, dass etwas passiert“, berichtete sie uns weiter.
Warum ist es so wichtig, dort zu sein? Mai von den Combatants for Peace, einer israelisch-palästinensischen Organisation, deren Mitglieder sich gemeinsam für ein Ende der Besatzung und Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung für alle Menschen in Palästina und Israel einsetzt, sagte uns: „Als Palästinenser:innen und Israelis zusammen hier zu sein, in dieser Situation, ist eine Botschaft der Menschlichkeit. Israelis und Palästinenser:innen können nie zusammensitzen, weil immer Soldaten:innen in der Mitte stehen. Aber beide Seiten verlieren, wenn wir nicht die Gelegenheit bekommen, einander als Menschen zu betrachten.“
Die Familie Kisiya legt Wert auf inklusiven Protest: Palästinensisch und israelisch, christlich, jüdisch und muslimisch – alle, die sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen, sind willkommen. Das erleben wir mehrfach hautnah: Als wir Ökumenischen Begleiterinnen Ende August wieder einmal das Solidaritätszelt besuchen, ist gerade eine Gruppe aus Jerusalem und aus anderen Orten in Israel angereist, um im Zelt Schabbat zu feiern. Der Transport von Jerusalem war für die Zeit vor Sonnenuntergang am Freitag organisiert worden und sie haben traditionelles Essen mitgebracht, das mit allen Anwesenden geteilt wird.
Der Austausch bei diesem Zusammentreffen war sehr interessant. In der relativen Sicherheit des Zelts waren die zum Teil hitzigen Diskussionen gefühlt ein Mikrokosmos des großen Konflikts. Mir wurde dabei sehr deutlich, wie dringend beide Seiten, auch gegenseitig, gehört werden wollen und wie wichtig dieses aufeinander zugehen und einander zuhören ist für eine wirkliche nachhaltige Veränderung.
Aber es gibt auch Zurückhaltung. Aufgrund der angespannten Situation – allgemein im Westjordanland und hier speziell rund um das Zelt und das Land der Familie Kisiya – gibt es nur wenige Palästinenser:innen, die sich sicher genug fühlen würden, an dieser Protestaktion teilzunehmen. Vielfach haben wir gehört, dass die Angst zu groß sei, von Siedler:innen angegriffen oder vom Militär verhaftet zu werden. „Mein Bruder wurde am ersten Tag verhaftet“, erklärt Alice, „jeder weiß, dass junge palästinensische Männer auch ohne Grund verhaftet werden. Es ist also nicht sicher für ihn, hier zu sein.“
Am 3. September besuchten christliche, jüdische und muslimische Geistliche die Familie, um ihre Solidarität auszudrücken, darunter der ehemalige Lateinische Patriarch von Jerusalem Michel Sabbah. Mit Ofer Cassif war auch ein Abgeordneter des israelischen Parlaments (Knesset) anwesend. Einige Mitglieder der Gruppe, mit denen wir Shabbat gefeiert hatten, kamen zusammen mit einer internationalen, multireligiösen Reisegruppe, die das Land besuchte, um Aktionen wie diese zu unterstützen.
An diesem Tag wurden viele Reden gehalten, unter anderem von Palästinenser:innen, denen ebenfalls der Verlust ihrer Grundstücke droht. Während gesprochen wurde näherten sich Soldat:innen zu Fuß, andere fuhren in einem Jeep mit Sirene vorbei. Als die Redebeiträge endeten und sich eine Gruppe friedlich Protestierender in Richtung des Kisiya-Landes aufmachte, gaben die Soldat:innen bekannt, dass das Grundstück weiterhin eine militärische Sperrzone sei. Die Gruppe erreichte das Land nie.
Am nächsten Tag wurde die militärische Sperrzone auf das Grundstück mit dem Solidaritätszelt ausgeweitet; das Zelt wurde abgerissen.
Ich besuchte Alice eine Woche nach der Zerstörung des Zeltes in der Erwartung, sie am Boden zu sehen. Sie empfing mich in dem von ihrer Familie gemieteten Haus und wir unterhielten uns bei einem Kaffee. „Wie geht es weiter?“, fragte ich, nachdem wir über die Ereignisse der letzten Wochen gesprochen hatten. Alice erläuterte mir ihre neuen Pläne: „Wir planen eine internationale Gebetsveranstaltung, es gibt bereits in mehr als 20 Ländern Gruppen, die sich beteiligen wollen. Wir bitten die Menschen, sich außerhalb eines Gotteshauses – einer Kirche, einer Synagoge, einer Moschee – zu versammeln und gemeinsam zu beten.“ Parallel zu dieser Veranstaltung wollten Alice und ihre Unterstützer:innen das Solidaritätszelt wieder aufbauen. „Natürlich geben wir nicht auf“, sagte sie, als ich sie fragte, woher sie die Energie dafür nehme, „dies ist nur die letzte Aktion in so vielen Jahren unserer Bemühungen, warum sollten wir jetzt aufgeben?“
Am 29. September fanden weltweit über 40 Gebetswachen statt, von Sydney in Australien bis Phoenix in Arizona, bei denen Menschen zusammenkamen, um gemeinsam mit der Familie Kisiya zu beten. Ich erfuhr, dass die Beteiligung von Menschen verschiedener Religionen und aus so vielen Ländern für die Familie Kisiya und ihre Nachbarn sehr ermutigend war. Während meine Freund:innen und ich, die ich in der Zwischenzeit nach Deutschland zurückgekehrt war, in Steinfurt die vorbereiteten Lesungen vortrugen, leiteten im Al Makhrour-Tal Alice Kisiya, Pfarrer Munther Isaac und ein Vertreter der Rabbis for Human Rights einen Gottesdienst in einer symbolischen Kirche, die genau an der Stelle errichtet worden war, wo zuvor das Solidaritätszelt gestanden hatte. Die Konstruktion war am Morgen der Gebetswache von Menschen unterschiedlicher Religionen und Nationalitäten schnell aus vorgefertigten Holzplatten aufgebaut worden, komplett mit beleuchtetem Kreuz und Glocken – die „Church of Nations“.
Es bestand die Hoffnung, dass die Kirche stehen bleiben könnte. Wie zuvor das Solidaritätszelt blieben Aktivist:innen Tag und Nacht vor Ort. Am frühen Morgen des 1.10. wurde aber auch die „Church of Nations“ von israelischen Behörden abgerissen. Auf dem Instagram-Account @savealmakhrour erschien daraufhin folgende Nachricht (Übersetzung der Autorin): „Sie können noch ein weiteres Gebäude abreißen … sie haben ein Haus nach dem anderen und ein Zelt nach dem anderen abgerissen … aber wir bleiben. Wir werden immer bleiben … wir sind mehr als ein Gebäude. Wir werden freitags und samstags und sonntags kommen und beten, Muslime, Juden und Christen, weil wir wissen, was richtig ist und in was für einer Welt wir leben wollen.“
Hannah, im September 2024
Ich habe für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] Vor Kurzem berichtete EA Sabina hier über die Auswirkungen des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus und den gewaltfreien, „grünen“ Widerstand von Frauen in Battir.
[2] https://www.france24.com/en/middle-east/20240902-we-re-not-afraid-french-palestinian-family-fights-for-west-bank-land-seized-by-israel-settlers-makhrour-valley-kisiya
[3] https://peacenow.org.il/en/settlements-watch/settlements-data/population