NOOR – Ein „Licht“ für Menschen mit Behinderung

„Das Leben mit einem Kind mit Behinderung ist hart für die Mütter und für die ganze Familie“ sagt Rua, Managerin der NOOR Society for People with Disability[1] im Flüchtlingslager Aida in Bethlehem. „Es fehlt an Wissen, wie man die Kinder unterstützen kann, und an Hilfsmitteln, selbst an den allereinfachsten. Ein ganz kleines Beispiel: viele Kinder mit Behinderung brauchen ihr Leben lang Windeln, aber die Menschen im Aida Flüchtlingslager sind arm und haben kein Geld dafür. Und es gibt in den Flüchtlingslagern und generell in Palästina wenig Mittel für die Unterstützung für Menschen mit Behinderung, weder im öffentlichen Gesundheitssystem noch bei UNRWA.“

Enge Gassen im Flüchtlingslager Aida; Foto © WCC/A.Hillert
Enge Gassen im Flüchtlingslager Aida; Foto © WCC/A.Hillert

Seit 75 Jahren versorgt die UNRWA die Bewohner:innen der Flüchtlingslager mit dem Notwendigsten.[2] Die Finanzierung reicht kaum aus, um die Grundversorgung der derzeit etwa 5,6 Millionen palästinensischen Flüchtlingen zu sichern, die in Lagern innerhalb und außerhalb Palästinas leben.[3] Die Menschen im Aida Camp haben deshalb zur Selbsthilfe gegriffen und soziale Initiativen gegründet. Neben der NOOR Women‘s Empowerment Group (NOORWEG)[4], aus deren Engagement die NOOR Society for People with Disability hervorgegangen ist, gehören dazu auch das Aida Youth Center[5], das Lajee Center[6] und die Al Rowwad Cultural and Arts Society[7]. Allen ist gemeinsam, dass sie eine bessere Zukunft für die Kinder und Jugendlichen schaffen wollen, die im Lager aufwachsen, inzwischen in der vierten Generation.

Rua von der NOOR Society weiß aus eigener Erfahrung, wovon sie spricht. „Mein Bruder kam mit einer Behinderung zur Welt, er hatte zerebrale Kinderlähmung und Epilepsieanfälle. Natürlich versuchte unsere Mutter alles, um ihm zu helfen. Aber sie merkte, dass sie allein an ihre Grenzen kam – körperlich, seelisch und finanziell. 2010 startete sie zusammen mit anderen betroffenen Müttern die Initiative NOOR.“ Rua lächelt und erklärt: „Noor heißt auf Arabisch ‚Licht‘, und Licht ist es, was die Frauengruppe in die Gemeinschaft und das Leben dieser Kinder bringen will.“

Die Motivation der Mütter war stark, aber es fehlte an Geld. Die engagierten Frauen beschlossen deshalb, durch verschiedene Aktivitäten Geld zu verdienen, damit die Kinder so viel Hilfe, Therapie und Medikamente wie möglich bekämen. Sie gründeten die ‚Women‘s Empowerment Group‘ (WEG), die Kochkurse für Tourist:innen anbot und dazu ein Kochbuch palästinensischer Gerichte herausgab. Sie eröffneten ein Gästehaus und stellten typische palästinensische Stickereien zum Verkauf her. Weil Bethlehem ein Ziel für Pilger:innen und Tourist:innen ist, konnte die Frauengruppe bald einen Teil der Therapien selbst finanzieren, erzählt uns Rua. Dazu kamen Sozial- und Öffentlichkeitsarbeit, um die Lage von Menschen mit Behinderung zu verbessern, auf sie aufmerksam zu machen und für ihre Rechte einzutreten. 2015 wurde NOORWEG als gemeinnützige Organisation registriert und konnte zusätzlich Spenden einnehmen.

Therapeut:innen arbeiten mit einem kleinen Patienten; Foto © WCC-EAPPI/Sabina
Therapeut:innen arbeiten mit einem kleinen Patienten; Foto © WCC-EAPPI/Sabina

NOORWEG unterstützt im Rahmen der NOOR Society for People with Disability Menschen, besonders Kinder, die unter schweren und schwersten Behinderungen leiden, in den beiden Flüchtlingslagern Aida und Beit Jibrin (auch Al Azza genannt) in Bethlehem. Die Flüchtlingslager in Bethlehem – außer Aida und Beit Jibrin gibt es das Lager Dheisheh – wurden zwischen 1949 und 1950 errichtet. Es sind drei der 19 UNRWA-Flüchtlingslager im Westjordanland, in denen die während des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948/49 bzw. der Nakba[8] geflüchteten und vertriebenen Palästinenser:innen Zuflucht fanden. Sie stammten aus 35 Dörfern rund um Jerusalem und Hebron.

Die Grundfläche der Lager ist klein; schließlich wurde damals nur mit einem Zeitraum von wenigen Jahren gerechnet, nach dem die Flüchtlinge wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehren sollten. Für Aida heißt das: auf einer Fläche von 0,071 Quadratkilometern, die ursprünglich für die Aufnahme von etwa 1.000 Flüchtlingen geplant war, leben jetzt mehr als 7.000 Menschen.

Rua führt uns durch die kleinen Räume des Rehabilitationsprojekts. Hier werden Kinder mit zerebraler Kinderlähmung, Epilepsie, Down-Syndrom und Autismus-Störungen von Therapeut:innen behandelt. Rua sagt: „Die Krankengymnast:innen, Ergotherapeut:innen und Sprachtherapeut:innen arbeiten die ganze Woche von 8 bis 17 Uhr mit verschiedenen Gruppen und einzelnen Kindern, aber trotzdem können wir uns nur noch um 25% der Kinder und Menschen mit Behinderung im Camp kümmern. In den letzten Jahren wurde es immer schwieriger für uns. Zuerst kam Corona, dann der Konflikt zwischen der Hamas und Israel. Seitdem gibt es kaum noch Tourismus in Bethlehem und damit keine Teilnehmer:innen für die Kochkurse und keine Besucher:innen in unserem Gästehaus. Dazu kommt, dass israelische Restriktionen seit dem 7. Oktober 2023 den Transfer von Spendengeldern erschweren.“

„2016 konnte NOOR Unterstützung für 130 Kinder leisten; heute nur noch für etwa die Hälfte. Wir mussten das Alter der Kinder begrenzen, die wir behandeln können. Im Moment behandeln wir nur Kinder im Alter von 3 Monaten bis zu 10 Jahren. Es ist bitter, aber alle älteren Kinder und die Erwachsenen müssen versuchen, sich in staatlichen oder privaten Einrichtungen behandeln zu lassen. Aber das kostet viel Geld, und die Menschen von Aida können es sich nicht leisten. Wir haben ein Team von 13 Therapeut:innen, sechs davon sind Freiwillige, die anderen sieben angestellt, aber wir können sie seit Monaten nicht bezahlen. Dabei steigen die Zahlen rapide an: vor zwei Jahren hatte NOOR etwa 300 Menschen mit Behinderung im Aida Flüchtlingslager erfasst, in diesem Jahr sind es 450. Im letzten Jahr, 2023, kamen 17 Kinder mit Behinderungen zur Welt. Andere Bewohner:innen des Camps erleiden bleibende Schäden, weil sie von israelischen Soldaten verletzt wurden. Im letzten Jahr wurden 15 junge Männer, zum Teil Teenager, durch Schüsse in die Beine oder in den Rücken verwundet, drei von ihnen müssen nun mit Behinderungen leben.“

Hilfsgeräte in einem Therapieraum der Noor Society; Foto © WCC-EAPPI/Sabina
Hilfsgeräte in einem Therapieraum der Noor Society; Foto © WCC-EAPPI/Sabina

Auch ohne die zusätzlichen Herausforderungen eines Lebens mit Behinderung ist der Alltag im Aida Camp für die Bewohner:innen hart. „Wir leben auf engstem Raum, haben oft keinen Strom und ganz selten Wasser, im Moment ungefähr drei- bis viermal im Monat. Dazu kommt die israelische Besatzung: Die hohe Trennbarriere mit sechs Wachttürmen umgibt uns an drei Seiten, dahinter liegen ein Militärstützpunkt und die israelische Siedlung Gilo. Gewalt seitens der israelischen Armee gehört zu unserem Alltag,“ sagt Rua. „Es gibt Zeiten, in denen bewaffnete Soldat:innen fast täglich in Aida sind, manchmal, weil Jugendliche Steine geworfen haben, häufig aber auch ohne jeden erkennbaren Grund. Sie kommen tagsüber und nachts, feuern willkürlich Blendgranaten, ummantelte Geschosse und immer häufiger scharfe Munition, dazu große Mengen Tränengaskanister in die Straßen, aber auch direkt in Häuser und Schulen. Wir haben keine Möglichkeit uns dagegen zu schützen; das Tränengas dringt durch jede Spalte ein, und wir können es tagelang auf unserem Körper fühlen. An vielen Tagen gibt es Tränengas zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot.“

Wiederkehrende Gewalterfahrungen, denen man schutz- und hilflos ausgesetzt ist, können zu psychischen und gesundheitlichen Störungen führen, zum Beispiel zu Angstzuständen, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen. Aber auch der ständige Einsatz von Tränengas hat Folgen. Dazu gibt es eine explorative Studie der University of California, Berkeley, von 2017[9]. Die Studie hatte nur begrenzte Ressourcen und empfiehlt weitere Forschung, die bisher nicht erfolgt ist. Gleichzeitig stellt die Studie aber mit großer Wahrscheinlichkeit fest, dass der Einsatz von Tränengas in den beiden Flüchtlingslagern Aida und Dheisheh an Häufigkeit und Menge im Zeitraum der Studie (etwa ein Jahr) eine Größenordnung erreichte, wie sie weltweit nirgendwo anders vorkommt. Akute körperliche Gesundheitsstörungen als Folge von Tränengas, die von vielen Bewohner:innen, Erwachsenen und Kindern, im Rahmen der Studie genannt wurden, sind Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle, Atemstörungen und Fehlgeburten. Als häufige Langzeitfolgen erfassten die Forschenden chronische Atemstörungen wie Asthma, neurologische Störungen, Sehstörungen und chronische Hauterkrankungen.

Einsatz von Tränengas im Flüchtlingslager Aida 2016; Foto © WCC-EAPPI/Monika
Einsatz von Tränengas im Flüchtlingslager Aida 2016; Foto © WCC-EAPPI/Monika

Die UNRWA schrieb in ihrem Kommentar zur Studie: „Diese Berichte geben Anlass zur Sorge über die gesundheitlichen Folgen, sowohl physisch als auch psychisch, die eine so häufige Belastung für palästinensische Flüchtlinge und Mitarbeiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) haben könnte, die in diesen Lagern leben und arbeiten. Sie geben auch Anlass zur Sorge, dass die ISF (Israel Security Forces) Tränengas auf eine Weise einsetzen könnten, die gegen internationale Normen verstößt. Als Besatzungsmacht ist Israel nach dem humanitären Völkerrecht dazu verpflichtet, die Zivilbevölkerung unter seiner Kontrolle zu schützen und ihre Menschenrechte zu respektieren. Zudem ist es Israel untersagt, gegen sie Kollektivstrafen jeglicher Art zu verhängen.“ [10]

Rua sagt: „Viele Frauen im Lager haben schlimme Asthmaanfälle, wenn Tränengas eingesetzt wird. Es kommt dabei oft zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff. Was macht das mit dem ungeborenen Baby im Bauch der Mutter, während der Geburt oder danach? Wir haben viel dazu gelesen und gelernt, dass Sauerstoffmangel eine Ursache für zerebrale Lähmung sein kann, das bedeutet eine Schädigung des zentralen Nervensystems. Bei diesen Kindern sind Bewegungsabläufe gestört, sie haben spastische Lähmungen und Veränderungen an Gelenken, Muskeln und Nerven. Wenn man diese Kinder und solche mit anderen Behinderungen frühzeitig durch Therapie unterstützt, könnten viele ein weitgehend selbstständiges Leben führen.“ Der Gedanke an die äußeren Umstände stimmt Rua sichtlich traurig: „Wir haben nicht die Mittel, um allen zu helfen. Außer denen, die wir unterstützen, gibt es im Moment noch ungefähr 30 Kinder mit Behinderung in Aida, die dringend Therapie brauchen, Medikamente und Hilfsmittel.“ Doch dann sagt sie: „Aber wir geben nicht auf. Wir versuchen, Sponsor:innen zu finden, die sich für diese Kinder einsetzen. Die Kinder brauchen uns und wir lieben sie!“  

Sabina, im Oktober 2024

Ich habe für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://noorsocietyfordisabled.wordpress.com/home/

[2] https://www.unrwa.org/  United Nationals Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East

[3] https://news.un.org/en/story/2023/06/1137297

[4] https://noorweg.wordpress.com/about/

[5] https://www.aidacenter.org/

[6] https://lajee.org/

[7] https://alrowwad.org/?lang=en

[8] Als Nakba (arabisch für Katastrophe) wird die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 Palästinenser:innen unmittelbar vor und während des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948/49 bezeichnet

[9] https://www.law.berkeley.edu/wp-content/uploads/2017/12/NoSafeSpace_full_report22Dec2017.pdf

[10] https://www.unrwa.org/resources/reports/no-safe-space Übersetzung der Autorin

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