Ein Ort geprägt von den Auswirkungen der Besatzung

Die Kirche St. George in Al Khadr nahe Bethlehem ist an diesem Sonntagmorgen brechend voll. Der orthodoxe Gottesdienst dauert Stunden und die Menschen strömen auch nach Beginn allmählich in die Kirche. Wenn die schweren Brote beim Abendmahl verteilt werden, ist der Ort voller Energie. Nach dem Gottesdienst sprechen wir mit Menschen, die einen weiten Weg auf sich genommen haben, um hier gemeinsam mit anderen zu feiern und zu beten. „Es ist ein besonderer Ort, deshalb fahre ich von Beit Sahour hierher“, erzählt uns eine Frau bei einem Kaffee.

Die Kirche St. Georg in Al Khadr nahe Bethlehem; Foto © WCC-EAPPI/Hannah
Die Kirche St. Georg in Al Khadr nahe Bethlehem; Foto © WCC-EAPPI/Hannah

Al Khadr ist ein Dorf, dessen Ursprünge auf die Zeit der Kreuzzüge zurückgeht. Die Kirche St. George wird in einem westlichen Reisebericht aus dem Jahr 1421 erwähnt[1]. Der Name Al Khadr bedeutet wörtlich übersetzt „der Grüne“ und wird in der muslimischen Tradition mit dem Heiligen Georg in Verbindung gebracht. Der örtlichen Legende zufolge wurde der Heilige Georg an dem Ort, an dem sich heute das Kloster und die Kirche St. Georg befinden, gefangen gehalten. Die Ketten, in denen er gelegen haben soll, sind in der Kirche ausgestellt und sollen heilende Kräfte haben.

Heute zählt Al Khadr mehr als 10.000 Einwohner:innen. „Als mein Vater das Haus hier baute, war das Dorf weit weg“. erzählt mir Hamed* bei einem Besuch. Al Khadr ist gewachsen, ebenso wie die Stadt Bethlehem. Die Vororte der Stadt gehen zuerst in das Dheishah-Flüchtlingslager und dann in Al Khadr über, bevor die von Israel gebaute Schnellstraße, die Road 60, weiteres Wachstum verhindert. Die entlang der Road 60 und damit hier – wie an vielen weiteren Orten – tief innerhalb der Westbank errichtete Trennbarriere verläuft direkt hinter dem Haus von Hamed. „Der Zugang zu unserem Land ist jetzt wirklich schwierig“, sagt er. Er und seine Brüder und Cousins haben Land in verschiedenen Gegenden, aber alle liegen auf der anderen Seite der Straße. Für den Bau der Road 60 und der Trennbarriere wurde Land des Dorfes beschlagnahmt, und viele Menschen verloren, so wie Hameds Familie, den einfachen Zugang zu ihrem Land.

Weinberg in Al Khadr, im Hintergrund die Mauer an der Road 60; Foto © WCC-EAPPI/Hannah
Weinberg in Al Khadr, im Hintergrund die Mauer an der Road 60; Foto © WCC-EAPPI/Hannah

„Mein Vater ist immer auf seinem Esel geritten, auch nachdem ich ein Auto hatte“, erklärt Hamed mit einem Lächeln. Manchmal prallen in Palästina Alt und Neu aufeinander. Traditionelle Methoden, wie das Kochen auf dem Feuer oder das Holen der Ernte vom Land mit dem Esel, stehen Smartphones und schnellen Autos gegenüber. Hameds Mutter Mariyam* erinnerte sich daran, wie sie die Traubenernte vom Land zum Markt in Bethlehem brachte: „Ich trug eine Kiste auf dem Kopf, der Esel brachte zwei weitere.“

Die Weintrauben von Al Khadr sind berühmt. Es gibt sechs Sorten, die von den Menschen hier angebaut werden: „Diese Sorte ist süß und eignet sich am besten zum Essen“, erklärt Mariyam und zeigt auf die grünen Trauben auf dem Teller, „aus der dunkleren Sorte machen wir Dibs, einen dicken Sirup, den man jahrelang aufbewahrt. Zuerst pressen wir sie aus, um den Saft zu gewinnen, und wenn wir viel übrighaben, können wir daraus Malban machen.” Malban ist eine Art Fruchtleder und eine leckere und gesunde Zwischenmahlzeit. „Wir können die Trauben zu Rosinen trocknen, und die Blätter verwenden wir auch für Warak Dawali, gefüllte Weinblätter.“ Die Trauben werden auch an Cremisan verkauft, das Kloster hat eine Weinkellerei, die aus den lokalen Trauben Wein und Arak herstellt. Im September feiert das Dorf normalerweise die Weinlese mit einem mehrtägigen Fest. Viele besondere Feierlichkeiten finden in diesem Jahr nicht statt, denn es scheint den Menschen hier nicht richtig, zu feiern, während Tausende in Gaza sterben. Allerdings wird die Ernte mit einem Zelt gewürdigt, in dem die Erzeuger ihre Produkte ausstellen.

Dass Trauben für Al Khadr eine bedeutende Rolle spielen zeigt sich selbst in den Deckenmalereien der Kirche St. George; Foto © WCC-EAPPI/Hannah
Dass Trauben für Al Khadr eine bedeutende Rolle spielen zeigt sich selbst in den Deckenmalereien der Kirche St. George; Foto © WCC-EAPPI/Hannah

In den Schulen von Al Khadr werden über 2.000 Schüler:innen unterrichtet. Die getrennten Mädchen- und Jungenschulen für die Primar- und Sekundarstufe befinden sich zusammen am nördlichen Rand des Dorfes. Die exponierte Lage in direkter Nachbarschaft zur Schnellstraße Road 60 und der Trennbarriere hat zur Folge, dass das israelische Militär häufig in der Nähe der Schulen anzutreffen ist. Schüler:innen berichten von Schikane durch Soldat:innen auf dem Schulweg. Als wir an einem Tag kurz vor Beginn des neuen Schuljahrs an dem Gelände vorbeikamen, sahen wir Soldat:innen auf dem Schulhof.

Ein sicherer Zugang zu Bildung gehört zu den grundlegenden Menschenrechten, ebenso wie der Zugang zu Gottesdiensten, Gesundheit und Land/Lebensunterhalt. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in und um Al Khadr beeinträchtigt alle vier dieser Rechte. Mit dem Taxi stecken wir im stockenden Verkehr fest, der sich langsam durch Al Khadr schlängelt. „Es sind immer noch Schulferien, stellen Sie sich vor, wenn noch mehr Autos auf der Straße sind“, sagt der Taxifahrer, während wir zu unserem nächsten Termin schleichen. Die Schnellstraße ist nah, doch die Zufahrt aus und nach Al Khadr wird von der israelischen Armee kontrolliert und häufig eingeschränkt, z.B. durch Straßentore, die mal offen, mal geschlossen sind – oder durch Erdhügel, die die Straße komplett versperren. „Nach dem 7. Oktober war das Dorf eingeschlossen. Keine Straße war offen“, sagt der Fahrer, “Im Moment ist dies der einzige Weg nach Bethlehem für die Dörfer westlich der Stadt.“ Bei einem Besuch im lokalen Büro des Bildungsministeriums erfahren wir, dass das Ministerium kurz vor Ende der Sommerferien diesem Umstand Rechnung zu tragen versucht, indem es die Lehrkräfte auf Schulen verteilt, die näher an ihrem Wohnort liegen. Vollständig lösen wird das die Probleme nicht.

Der Ort Al Khadr liegt nahe der Stadt Bethlehem und ist begrenz von der Road 60, der Trennbarriere, Checkpoints und Straßensperren sowie den nördlichen Bezirken der Siedlung Efrat; Foto © UNOCHA-OPT Humanitarian Atlas District Bethlehem 2019
Der Ort Al Khadr liegt nahe der Stadt Bethlehem und ist begrenz von der Road 60, der Trennbarriere, Checkpoints und Straßensperren sowie den nördlichen Bezirken der Siedlung Efrat; Foto © UNOCHA-OPT Humanitarian Atlas District Bethlehem 2019

„Mit meinen Kindern muss ich 4 km zur Schule laufen“, erzählte uns die siebenfache Mutter Nfouz, “Zuerst müssen wir die stark befahrene Straße überqueren. Manchmal sperren Soldat:innen den Fußweg und wir müssen durch den steinigen Olivenhain klettern.“ Leider ist der Schulweg für diese Familie nicht das größte Problem. Der Ehemann von Nfouz starb im Juli nach einem zweijährigen Kampf gegen Krebs. Für das Haus, das nur wenige Türen von den nördlichsten Ausläufern der völkerrechtswidrigen israelischen Siedlung Efrat entfernt liegt, besteht ein Abrissbefehl. Die Dachkonstruktion der Autowaschanlage der Familie, die der erst 10jährige Sohn nach der Schule ein wenig versucht weiter zu betreiben, wurde in der jüngsten Vergangenheit zweimal von den Behörden abgerissen, der Schutt ist geblieben. Die in Jerusalem ansässige katholische Rechtshilfeorganisation Society of St. Yves hat kürzlich ein Schreiben im Namen der Familie verschickt, in dem erklärt wird, dass alle rechtlichen Möglichkeiten, die Hauszerstörung doch noch zu verhindern, ausgeschöpft wurden. Auch wenn das Haus schon länger als 10 Jahre steht: Das Grundstück der Familie liegt im C-Gebiet, wo für palästinensisches Bauen so gut wie keine Genehmigungen von den israelischen Behörden ausgestellt werden und Häuser, die dennoch gebaut werden, von Abriss bedroht sind.

Von Nfouz‘ Garten sieht man die Ausläufer der völkerrechtswidrigen Siedlung Efrat auf dem gegenüberliegenden Hügel; Foto @ WCC-EAPPI/Hannah
Von Nfouz‘ Garten sieht man die Ausläufer der völkerrechtswidrigen Siedlung Efrat auf dem gegenüberliegenden Hügel; Foto @ WCC-EAPPI/Hannah

Als wir unter einem Feigenbaum sitzen, brausen Busse vorbei, die Siedler:innen zwischen Jerusalem und Efrat transportieren. „Die Kinder gehen bald wieder in die Schule“, erklärte Nfouz, “Zwischen Hinbringen und Abholen muss ich versuchen, den Haushalt zu führen, die rechtlichen Fragen bezüglich unseres Hauses zu klären und darüber nachzudenken, wie ich meinen Lebensunterhalt verdienen kann, das ist zu viel.“ Die offensichtlichen finanziellen Verluste sind nicht zu übersehen, aber auch die psychologischen Auswirkungen auf die ganze Familie sind enorm. „Wir können nicht gut schlafen“, sagt Nfouz, “die Soldat:innen können jederzeit kommen und unser Haus abreißen.“

Dass Soldat:innen z.B. für Durchsuchungen auch mitten in der Nacht in Häuser eindringen, kommt auch in Al Khadr häufig vor. Wir treffen Abdul* und seine Familie am Tag nach der Durchsuchung seines Hauses. „Sie benutzten ein Gerät, mit dem sie das Schloss aufbrechen können, ohne ein Geräusch zu machen“. Abdul erzählt, dass er aufwachte, als Soldat:innen über ihm standen. Er, seine Frau und zwei seiner Söhne sahen zu, wie die Soldat:innen das dreistöckige Haus durchwühlten, Schränke ausräumten, Möbel umwarfen und sogar den Stoff des Sofas aufschnitten. Wir fragen sie, ob sie wüssten, warum ihre Familie zum Ziel des Militärs geworden sei. „Vielleicht, weil mein ältester Sohn vor sechs Wochen aus der Haft entlassen wurde“, erklärte Abdul, “Zum Glück war er letzte Nacht bei seiner Großmutter, denn er ist stark traumatisiert.“

Seit Oktober haben sich die Bedingungen für palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen deutlich verschlechtert. Laut eines Berichts[2] der israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem befanden sich im Juli 2024 mehr als 9.600 Palästinenser:innen in israelischer Haft, davon mehr als 4.700 in sogenannter Administrativhaft – Haft ohne Anklage oder Verfahren, ohne Rechtsvertretung und ohne zu wissen, was ihnen vorgeworfen wird. B’Tselem kommt auf Grundlage der gesammelten Aussagen ehemaliger Häftlinge zu dem Ergebnis, dass viele Gefangene seit dem 7. Oktober systematisch Misshandlungen ausgesetzt sind. Abdul erzählt uns, dass sein Sohn seit seinem 17. Lebensjahr 2 Jahre lang in Administrativhaft war. Abduls jüngster Sohn zeigt uns Fotos von seinem Bruder nach dessen Freilassung. Wir sehen einen dünnen Mann, der unter langen Haaren hervorschaut. „Ich hätte meinen eigenen Sohn fast nicht wiedererkannt“, sagt Abdul.

In den letzten Wochen haben wir Al Khadr regelmäßig besucht und viele verzweifelte Geschichten gehört. Die Menschen hier und überall im Westjordanland sind darauf angewiesen, dass sich die internationale Gemeinschaft mit mehr Nachdruck für ein Ende der Besatzung, einen gerechten Frieden und damit eine bessere Zukunft stark macht. Aus dem Gottesdienst in der Kirche St. George in Al Khadr sind mir die Worte einer Frau besonders im Gedächtnis geblieben: „Es gibt hier viele Probleme, aber das bedeutet, dass es umso wichtiger ist, zusammen zu sein und für eine bessere Zukunft zu beten.“

Hannah, im September 2024

* Namen geändert

Ich habe für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Al-Khader

[2] https://www.btselem.org/publications/202408_welcome_to_hell

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