Palästinensische Gemeinden und israelische Friedensaktivist:innen im Widerstand gegen die radikale Siedlerbewegung
Wie ein roter, brennender Faden ziehen sich durch all unsere Besuche hier im Jordantal die Berichte über die Gewalt radikaler Siedler:innen vor allem gegen abgelegene Hirten- und Beduinengemeinden. Die Menschen hier erzählen uns von täglichen und auch nächtlichen Drohnenüberflügen, bei denen von ihren Wohnstätten und der Infrastruktur ihrer Gemeinden Aufnahmen gemacht werden, von der Zerstörung ihres Weidelands und ihrer Olivenbäume. Und nicht wenige berichten uns von Angriffen, die der Einschüchterung dienen sollen, wie etwa dem nächtlichen Feuerlegen rund um ihre Wohnzelte.
Es ist eine alarmierende Entwicklung, die sich während unseres dreimonatigen Einsatzes bedrohlich zugespitzt hat. Das spiegeln auch die z.B. von der UN erhobenen Zahlen wieder. Im Zeitraum zwischen 7. Oktober 2023 und 26. August 2024 wurden 1.270 Übergriffe von Siedler:innen auf Palästinenser:innen und/oder deren Eigentum dokumentiert.[1] Mehr als 1.500 Palästinenser:innen, etwa die Hälfte von ihnen Kinder, sahen sich im Kontext von Siedlergewalt dazu gezwungen, ihr Zuhause aufzugeben und an sicherere Orte zu ziehen. Wir erleben, dass Familien, die schon lange vor Beginn der Besatzung auf ihrem Land lebten, sich nun fragen, wie lange sie den Übergriffen der Siedler:innen noch standhalten können. Sie fühlen sich alleine gelassen, das wird uns immer wieder gesagt, Verzweiflung macht sich breit. Den Menschen, die wir hier im Jordantal treffen, ist bewusst, dass die aktuelle israelische Regierung die Siedlungen und Außenposten fördert wie nie zuvor. Dass Siedlergewalt und andere Menschenrechtsverletzungen nur sehr selten verfolgt werden und Armee und Polizei nur selten eingreifen.
Was vielleicht auf den ersten Eindruck harmlos wirkt, wie etwa das Kaffeekochen zweier jugendlicher radikal-nationalistischer Siedler auf dem Boden inmitten der Zelte einer Beduinengemeinde ist nicht nur ein Einbrechen in die Intimsphäre der Familien, sondern schürt viele Ängste vor Vertreibung. Denn meist sind die Siedler:innen bewaffnet, sei es mit einem Messer oder einer Maschinenpistole.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal vor einem 15jährigen Jugendlichen Angst haben könnte“ sagt Wissam*, Farmer in der Nähe von Bardala im Norden der Westbank, der während der Weizenernte auf seinem Feld von einem 15-jährigen bewaffnetem Siedler bedroht wurde. Ebenfalls in der Nähe von Bardala wurden einem Hirten beim Weidegang 67 Schafe gestohlen. Er berichtet uns, dass er etwas entfernt vom Schafgehege mit den Tieren unterwegs war, um Futter zu finden, als mehrere Siedler von der benachbarten Siedlung Mehola kamen und die Schafe und Ziegen lockten und mitnahmen. Er habe noch versucht, mit den Tieren in Richtung Stall umzudrehen, konnte aber nur mit 13 Ziegen zurückkehren. Schwangere Tiere hätten aufgrund der schnellen Flucht ihre Lämmer verloren. Er sagt, dass er glücklich sein kann, weil die Siedler nicht auf ihn schossen.
In Bardala selbst, dem nördlichsten Dorf im Jordantal, so sagt uns ein Mitglied des Dorfrates, würden die Männer des Dorfes noch gemeinsam den Siedler:innen entgegentreten, gewaltlos, alleine durch die Macht der Mehrheit gegenüber den zumeist allein oder in kleinen Gruppen auftretenden Siedler:innen. Die meist an entlegeneren Orten lebenden Hirten- und Beduinenfamilien jedoch sind der Siedlergewalt sehr viel stärker ausgesetzt, sie sind verwundbarer. Täglich hören wir von neuen Übergriffen.
In Ras Ein Al Auja bei Jericho wurden einem Hirten 200 Schafe gestohlen. „Ich bin immer mit den Schafen unterwegs, das ist mein Lebensunterhalt“ sagt er und fügt hinzu: „Wie kann jemand mir vor meinen Augen alles in einer Stunde wegnehmen?“ „Ich war mit meinem 17jährigem Neffen und den Schafen am Morgen unterwegs in der Nähe der Wassertränke, als über 15 bewaffnete Siedler mit Maschinengewehren ausgerüstet kamen und in unsere Richtung schossen. Ich war nicht weit von den Schafen und bereitete gerade Tee zu, als vier Siedler direkt auf mich und meinen Neffen zukamen und uns beide bedrohten. Die anderen Siedler lockten und nahmen die Schafe mit in Richtung Berge und schossen weiter. Vier Palästinenser, die in der Nähe waren, versuchten, die Schafe zurückzuholen, aber es gelang ihnen nicht. Ich benachrichtigte die Polizei und auch die israelischen Friedensaktivist:innen, die seit einiger Zeit regelmäßig zu uns kommen, aber die Schafe waren schon verschwunden, als diese bei uns ankamen.“ Die Polizei habe seither nichts unternommen, so hören wir.
„Wo ist die Welt?“, „Wo sind die Menschenrechte?“ hören wir bei fast jedem Besuch. In vielen Fällen sind wir Ökumenischen Begleiter:innen die einzigen, die Anteil nehmen können. Und dennoch sind wir nicht allein. Eine zunehmende Zahl israelischer Friedensaktivist:innen leistet schützende Präsenz im Jordantal, in den South Hebron Hills und in anderen Orten im Westjordanland.
Yair*, einen Friedensaktivisten der israelischen Organisation Looking the Occupation into the Eye – zu Deutsch „Der Besatzung ins Auge blicken“ – treffen wir immer wieder. Er kommt aus Jerusalem und ist seit etwa 15 Jahren als Aktivist für ein Ende der Besatzung unterwegs im Jordantal. Seine Motivation, sagt er, können wir auch auf der Seite der Organisation lesen: „Wir fordern die israelische Öffentlichkeit auf, den Kopf aus dem Sand zu ziehen und der Besatzung ins Auge zu blicken, die harte Realität zu erkennen, wie sie wirklich ist: Der Staat Israel tut dem palästinensischen Volk Dinge an, die das Völkerrecht als Kriegsverbrechen definiert. Dies ist nicht das Ende–der Schaden, welcher der israelischen Gesellschaft durch die Besetzung Palästinas zugefügt wird, ist enorm–wirtschaftlich, sozial, geistig, moralisch, selbst hinsichtlich der grundlegendsten Werte.“[2] (Übersetzung der Autorin)
Yair* tritt radikalen Siedler:innen entgegen, die an der Wassertränke von Ras Ein al Auja den Palästinenser:innen den Zugang verwehren. Er folgt Siedler:innen, die mit ihren Tieren durch palästinensische Dörfer ziehen und verurteilt diese fast schon zum Alltag gewordene Praxis der Einschüchterung. Er filmt seine Begegnungen mit den Siedler:innen, um auf seinen Social-Media-Kanälen aller Welt zu zeigen, was hier passiert.
Weiter nördlich in der Westbank, in der Gemeinde Al Farisiya, werden die Einwohner:innen von Farisiya Nab’a Ghazal von radikalen Siedler:innen der gegenüberliegenden Siedlung Rotem unter Druck gesetzt. „Der Sicherheitschef der Siedlung kommt regelmäßig nachts mit seinem Auto und lässt seine Scheinwerfer in unsere Zelte strahlen.“ sagt Mhammad*, der dort mit seiner Familie lebt. Die Kinder sind verängstigt. Die Siedler:innen haben die umliegenden Hügel mit israelischen Fahnen beflaggt und Vorrichtungen für Zäune installiert. Weit scheint es nicht mehr zu sein bis zur Resignation der Menschen hier. Seit einiger Zeit sind regelmäßig Mitglieder der israelischen Jordan Valley Peace Activists in Al Farisiya, auch über Nacht. Safa*, etwa 35 Jahre alt, berichtet, dass radikale Siedler nachts in das Zelt ihrer Familie eingedrungen seien. Sie habe diese zuerst für Friedensaktivist:innen gehalten und sei dann sehr erschrocken, habe um Hilfe gerufen.
Yoshua*, der seit etwa sechs Jahren aktiv ist, kommt aus einer kleineren Ortschaft bei Haifa. Er erzählt uns, dass er sein Engagement startete, als der israelische Premierminister Netanjahu wegen Korruption angeklagt wurde und ihm bewusst wurde, dass dies erst der Anfang einer verhängnisvollen Entwicklung sein könnte. Damals hat er zum ersten Mal protestiert und durch Bekannte ist er auf die Friedensaktivist:innen aufmerksam geworden. Joshua erzählt uns auch, dass sein Großvater und dessen Geschwister in Auschwitz umgekommen sind, und dass seine Mutter in den 1930er Jahren als Geflüchtete ins Land gekommen ist. Viele der Aktivist:innen seien Nachfahren von Holocaust-Überlebenden. Pragmatisch sagt er über sein Engagement: „Ich bin nicht hier, um eine Lösung für die Besatzung zu finden, ich bin hier um denen zu helfen, die unter der Besatzung leiden. Die Siedler:innen sehen uns als Verräter.“ Und später fügt er hinzu: „Was hier im Westjordanland von der Armee und der Polizei an Restriktionen und Gewalteinsatz schon seit langem praktiziert wird, sehen wir auch mehr und mehr in Tel Aviv“.
Er erzählt uns, dass sich mittlerweile ungefähr 100 israelische Friedensaktivist:innen abwechseln, um von Gewalt und Vertreibung bedrohte Menschen im Westjordanland zu unterstützen. Yoshua lehnt jede Gewalt ab, er versucht mit gewaltfreien Mitteln, die Siedler:innen davon abzuhalten, in die palästinensischen Gemeinden zu kommen. Wenn er als Israeli mit der Polizei spricht, dann habe das mehr Einfluss auf das Verhalten der radikalen Siedler:innen, stellt er fest. Mit den Siedler:innen selbst zu diskutieren empfindet er häufig als Energieverschwendung. Neben der Präsenz vor Ort kümmere sich seine Organisation auch um praktische Unterstützung wie etwa die Finanzierung von Wassertanks für die Palästinenser:innen im Jordantal, denn als Israelis können sie diese zu einem günstigeren Preis bekommen, so Joshua.
Die ständige Präsenz der israelischen Friedensaktivist:innen führt im Moment dazu, dass die Familien in Al Farisiya bleiben. Uns wird berichtet, dass nicht weit entfernt, im Dorf Ein al Hilwa, Siedler:innen vor Kurzem ebenfalls versuchten, Schafe zu stehlen. Durch die Hilfe der Friedensaktivist:innen sei dies verhindert worden. Rings um Ein al Hilwa sehen wir jedoch neue israelische Flaggen, vor kurzem wurde ein neuer Außenposten in der Nähe errichtet. Die Familien in Ein el Hilwa sind nun eingekreist von Siedler:innen und ständigen Schikanen ausgesetzt. Osama*, etwa 65 Jahre alt, erzählt uns, dass seine Großeltern schon hier lebten und dass er selbst sich noch an die Zeit erinnere, als es hier weder Straßen noch israelische Siedlungen gab. Er glaubt an ein Ende der Besatzung, aber er mahnt zugleich: „Ich möchte nicht weggehen. Wenn wir aufgeben, dann fühlen die Siedler:innen sich ermutigt, so weiterzumachen. Aber wir brauchen Unterstützung und Hilfe.“
Dass dafür die Zeit langsam knapp wird, zeigt die Entwicklung im Dorf Umm al Jamal. Mitte August bekommen wir die Nachricht, dass 14 Familien den Ort aufgrund der anhaltenden Siedlergewalt verlassen haben. Umm al Jamal ist laut B’Tselem seit Beginn des Kriegs in Gaza bereits die 19. Gemeinde, die von ihren Bewohner:innen aufgegeben wurde.[3]
Maria, im September 2024
*Namen geändert
Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-210-west-bank
[2] https://www.mistaclim.org/
[3] https://www.btselem.org/settler_violence/20231019_forcible_transfer_of_isolated_communities_and_families_in_area_c_under_the_cover_of_gaza_fighting