Das Recht wird in der Wüste wohnen und Gerechtigkeit im fruchtbaren Lande

Die Gegend von Masafer Yatta ganz im Süden Palästinas ist von unvergleichlicher Schönheit. Wir Ökumenische Begleiter übernachten bei Vollmond und sternenklarer Nacht bei Schäfer Hajj Ali Jabareen in Mantiqat Shib al Butum und genießen die himmlische Ruhe. Kein Siedler hat die Familien in der Nacht gestört wie eine Woche zuvor, nur die Hunde haben um zwei Uhr in angeschlagen und sich dann wieder beruhigt. Um fünf bin ich ausgeschlafen und gehe ins Freie. Ich bin ergriffen von dem atemberaubenden Blick auf das Jordantal bei Sonnenaufgang.

Morgendämmerung über dem Jordantal – ein atemberaubender Anblick! Blick von Mantiqat Shib al Butum kurz vor Sonnenaufgang Foto © WCC-EAPPI

Naturschutz oder Landnahme?

Die Halbwüste erwacht – Wilde Iris im Dorf Zanuta; Foto © WCC-EAPPI

Mitte März erleben wir, wie die Halbwüste erwacht: Krokusse, Iris, Tulpen und Zwerghyazinthen erblühen und gelb überzogen ziehen sich die Getreidefelder in den Tälern dahin. Auf den Weizen- und Haferfeldern stehen Senfpflanzen in voller Blüte. Die Distelart A´koub (lat. Gundelia Tournefortii) wächst hier überall zwischen Steinen und Felsbrocken, zwischen Getreide und Olivenhainen. Solange der Stängel noch saftig ist, kann sie gegessen werden und schmeckt wie Artischocke. Im Frühling wird die Pflanze deshalb schon seit biblischen Zeiten[1] eifrig gesammelt und gekocht. In der gehobenen Küche wird das Wildgemüse sehr geschätzt, der Preis ist hoch: 40 Schekel (11,30€) kostet das Kilo auf dem Markt in Jerusalem, erheblich mehr als das Frühlingsgemüse aus den Gewächshäusern. Für die Bewohner:innen der Beduinendörfer ist der Verkauf dieser Delikatesse eine wichtige Einnahmequelle im Frühjahr.

Das Wildgemüse A’koub im Dorf Umm al-Amad; Foto © WCC-EAPPI

Anfang März erfahren wir in Susiya, dass tags zuvor Siedler auf palästinensisches Weidegebiet eingedrungen sind und Kindern zwei Körbe voll A´koub entrissen haben, die sie mühevoll gesammelt hatten. Ende März erzählt uns eine Frau aus Jinba, dass ein israelischer Naturschützer von einem Hügel aus regelmäßig die Gegend mit einem Fernglas nach Sammler:innen von A´koub absucht und auch tags zuvor zwanzig Minuten lang auf dem Berg gesessen habe. Falls die Polizei komme, sei eine Strafzahlung von 1.130 Schekel (325 Euro) fällig, da es sich um ein von Israel zum Naturreservat erklärtes Gebiet handele. Israel hat seit 1967 etwa 13% der Westbank zu Naturschutzgebieten erklärt[2]. Seither können Schäfer:innen die Flächen nicht mehr für Weidegänge nutzen, ist das Sammeln von Pflanzen wie A´koub unter Strafe gestellt – und auf diese Weise wird der Druck auf die Menschen in Dörfern wie Jinba größer, ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben und anderweitig ihr Geld zu verdienen.

Ökonomischer Druck: Palästinensische Arbeiter in Israel

Viele Männer aus Masafer Yatta verdienen ihren Unterhalt inzwischen in nahegelegenen palästinensischen Städten – oder in Israel. Am frühen Morgen nach dem Sabbat passieren Tausende Palästinenser die Kontrollpunkte und gehen in Israel arbeiten. Manche habe eine Genehmigung für Tagesaufenthalte, andere für fünf Tage.

Pünktlich um 4 Uhr öffnen sich die Türkreuze am Grenzkontrollpunkt Meitar. Essensstände sind aufgebaut, damit sie sich schnell noch eine Wegzehrung oder auch die fehlende Maurerkelle oder Wasserwaage kaufen können.­

Meitar Checkpoint und Trennbarriere; Foto © WCC-EAPPI

Uns Ökumenische Begleiter:innen überrascht, wie zügig an diesem Tag die Abfertigung erfolgt: Vorzeigen des kleinen Plastikausweises, Gesichtskontrolle – und weiter geht´s. Nur wenige werden heute zurückgewiesen. Fast alle Grenzgänger:innen sind jüngere Männer, ab und zu auch ältere über 60, die uns mitteilen, dass der Lebensunterhalt anders nicht finanziert werden kann. Wir erfahren, dass die palästinensischen Arbeiter 2250 – 2.500 Schekel bezahlen, um einen Monat lang in Israel arbeiten zu können. Bei einem Mindestlohn in Israel von 244 Schekel (etwa 70 Euro) pro Arbeitstag[3] ist das mehr als ein Viertel ihres Einkommens. Arbeitnehmer:innen über 55 Jahre erhalten eine kostenlose Arbeitserlaubnis.

Aber auch der Arbeitgeber kann die Kosten der Arbeitserlaubnis übernehmen – und hat damit im ungünstigen Fall ein Druckmittel in der Hand: Ist er mit der Arbeit nicht zufrieden, kann er dem Arbeitnehmer kündigen. Die Arbeitserlaubnis wird entzogen und somit auch das Recht, nach Israel einzureisen.

Majestätisch durchschreiten Kamele die Talsohle – und die unsichtbare Grenze zwischen Israel und dem Beduinendorf Dkaika in der Westbank; Foto © WCC-EAPPI

Zwischendurch habe ich Zeit, mir den Grenzübergang genauer anzusehen – und traue meinen Augen nicht: Am Checkpoint endet die geschätzt 8 Meter hohe, mit Stacheldraht bewehrte Trennmauer. Neben dem Personenübergang rollen Lastwagen in beide Richtungen über die Grenze. Dazwischen ein Kontrollturm. Aber dahinter? Dort bewegt sich eine Menschenschlange einen Berghang hinauf. Wir umfahren eine Verkehrsinsel, auf der bewaffnete Soldaten stehen und sehen ein Loch in einem Zaun aus Maschendraht, durch das Menschen völlig unbehelligt – in Sichtweite des Checkpoints – die Grenze nach Israel überschreiten. Etwas weiter östlich in Dkaika gibt es nicht einmal mehr einen Zaun oder eine Grenzmarkierung.

Ca. 80.000 Palästinenser:innen überqueren täglich auf diese Weise die Grenze, teilt uns ein Mitarbeiter von Medico International mit. Mir erschließt sich die Logik nicht, warum dennoch die meisten Arbeiter den Kontrollpunkt überqueren. Ich frage Benzion Nadav, der sich der israelischen Gruppe „Breaking the Silence“[4] angeschlossen hat und mit uns eine Tour durch Masafer Yatta macht, wo er seinen zweijährigen Militärdienst absolviert hat.

„Die Strafen für das illegale Überqueren der Grenze können unterschiedlich ausfallen. Als Soldat kann ich Geldstrafen in unterschiedlicher Höhe oder Einreisesperren verhängen. Auch Gefängnisstrafen sind möglich.“ „Aber ein System ohne Regeln?“ hake ich nach. „Hier in Palästina herrscht israelisches Zivilrecht für die Siedler und Militärrecht für die Palästinenser,“ klärt er mich auf. „Und den höchsten Druck auf Menschen erzielt man, wenn man sie über die Folgen ihres Handelns im Unklaren lässt und sie vorab nicht einkalkulieren können, was auf sie zukommt.“ Besonders dann, wenn die Armee in der Nacht in Dörfer eindringt und diese buchstäblich auf den Kopf stellt.

Psychologischer Druck: Militärrazzien in der Nacht

Ende März hört Nasser Adraa um ein Uhr in der Nacht den Klang von Metallgegenständen vor seinem Haus in At Tuwani. Er denkt an Diebe, öffnet die Haustüre und sieht Soldaten, die die Straße mit Metallgegenständen und Steinen blockieren. „Ich sah einen Scharfschützen auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Die Soldaten schrien und weckten immer mehr Dorfbewohner auf. Die Soldaten drangen sogar in das Haus einer Frau ein, deren Mann in dieser Nacht nicht zu Hause war, und nahmen ihr das Handy weg, mit dem sie ihren Mann und andere Dorfbewohner um Hilfe gebeten hatte.“ Atemlos setzt Nasser fort: „Inzwischen waren fast alle Dorfbewohner auf den Beinen, auch die Freiwilligen der jüdischen Hineinu-Projekts, die im Dorf wohnen und schützende Präsenz zeigen.[5] Stinkbomben werden in die Menge geworfen. Ein Soldat schrie: ´Ich schieße, ich schieße!´, aber niemand wusste warum.“

Wir sind die ersten Besucher:innen von außerhalb, denen Nasser von der Razzia in der Nacht berichtet. Die Fassungslosigkeit über diesen Angriff ist ihm noch ins Gesicht geschrieben. „Inzwischen waren wohl 50 Soldaten aus drei Richtungen angekommen. Ich erhielt den Befehl in mein Haus zu gehen, entgegnete aber den Soldaten: ´Nicht in Ihr Haus bin ich gegangen, sondern Sie in meines!´ Dann drohten sie mir, ich hätte drei Chancen: ins Haus zu gehen, verhaftet oder getötet zu werden.“

Keine Trophäen: Blendgranaten, Stinkbomben und Tränengasgranaten, die in At Tuwani schon eingesetzt wurden; Foto © WCC-EAPPI

Sichtlich erregt noch um die Mittagszeit, zeigt uns Nasser einen Kabelbinder, mit dem seine Hände zusammengebunden wurden. Eine Augenbinde wurde ihm übergezogen und eine Mundbinde angelegt. „Vierzig Minuten wurde ich festgehalten. ´Wenn du den Leuten sagst, sie sollen nach Hause gehen, bringe ich dir ein Glas Wasser,´ bot ihm ein Soldat an. Aber da zogen die Soldaten schon ab. Einer sagte mir noch, er hole eine Schere, um den Kabelbinder aufzuschneiden, kam aber nicht mehr zurück.“

Ältere Dorfbewohner erinnerte diese Militäraktion an lange zurückliegende nächtliche Razzien in den 90er Jahren mit fliegenden Checkpoints, Einsatz von Stinkbomben und Tränengas. „Ältere Dorfbewohner erinnert diese Militäraktion an nächtliche Razzien in den 90er Jahren, seitdem sind sie glücklicherweise nicht mehr vorgekommen. Jetzt erleben wir sie jede Woche. „Israel macht etwas Seltsames,“ fasst Nasser die Ereignisse der letzten Wochen zusammen. „Wir müssen diese Entwicklung beobachten.“

Wir Ökumenische Begleiter drücken ihm und seinen Dorfbewohner:innen unser tiefes Mitgefühl aus. Ich habe fast den Eindruck, dass die Unruhe tiefere innere Verletzungen hinterlässt als der Abriss von Häusern und Ställen vor den Augen der Dorfgemeinschaft am helllichten Tag.[6]

Druck auch auf die Kleinsten

Am Morgen, bevor uns Nasser über die nächtliche Militärrazzia berichtet, machen wir in At Tuwani einen „School-Run“: Mit der Begleitung von Schüler:innen haben wir schon Erfahrung in anderen Dörfern gesammelt: In Saadet Thalah haben wir zuvor schon Kinder begleitet, da ein Siedler immer wieder gefährlich nahe an den Schüler:innen vorbeifährt und sie anschreit. Von solchen Vorfällen berichtet auch ein Mädchen aus Khallet al Fouran, das jeden Tag zwei Kilometer auf einem Feldweg zur Schule geht. Siedler jagen mit ihren Autos ihr und ihren Mitschülerinnen immer wieder Schrecken ein.

Mädchen sind die ersten, die dann zu Hause bleiben, hören wir in einem Dorf. Wir wissen auch von einem 13-jährigen ganz jungen Schäfer, der aus Angst vor den Siedlern schon lange nicht mehr zur Schule geht.

Aber der School-Run in At Tuwani sieht ganz anders aus: Die sieben Schüler:innen aus Tuba müssen auf der Straße zwischen dem Siedler-Außenposten „Ma´on Farm“ und der Siedlung Ma´onin nach At Tuwani gehen. Auf einem Bergsattel steht ein weißes Auto und um 7:20 Uhr hören wir schon von Ferne fröhliche Kinderstimmen. Hinter ihnen fährt in Schritttempo ein Militärfahrzeug, dessen vier Soldaten die sieben Schüler:innen vor Übergriffen von Siedlern schützt. Und das jeden Tag. Die Freiwilligen des jüdischen Hineinu-Projekts überzeugen sich  täglich, ob die Armee auch ihrer Aufgabe nachkommt. Ein Gericht hatte 2004 den militärischen Begleitschutz angeordnet. Dass sich seit 2004 an der Notwendigkeit des Begleitschutzes nichts geändert hat, ist mehr als traurig.

Seit fast 18 Jahren muss das Militär die Kinder von Tuba auf dem Schulweg begleiten; Foto © WCC-EAPPI

Was hält Sie hier in Masafer Yatta?

„Gibt es auch etwas Positives zu berichten“, werde ich immer wieder gefragt. Durchaus! Bei unseren Besuchern fragen wir immer wieder, was die Bewohner:innen in Masafer Yatta trotz aller Übergriffe und besatzungsbedingten Schwierigkeiten an Ort und Stelle hält. Ihre Antworten sind Zeugnisse der Standhaftigkeit:

Der Dorfvorsteher Abu Yamin aus Birin gibt eine zupackende Antwort, die von dem zeugt, was er sich für die Zukunft wünscht: „Ich möchte, dass die Kinder hier in unserem Dorf zur Schule gehen und nicht irgendwohin fahren müssen. Hier sind sie zu Hause, hier können wir auf sie aufpassen. Und hier ist der Bauplatz, wo wir schon morgen für acht Klassen, den Schulleiter und die Lehrer:innen 10 Container aufstellen können. Jetzt brauche ich einen Bebauungsplan und Geld!“

Nassar Badraa vor seinem alten Elternhaus in At Tuwani; Foto © WCC-EAPPI

Nassar Badraa aus At Tuwani, vor seinem alten Elternhaus aus sorgfältig behauenen Steinblöcken und einer Kuppel aus Stein: „Hier wurde ich geboren. Meine Eltern, Großeltern und meine Vorfahren sind wie die fünf Finger meiner Hand. Ich fühle meinen Großvater, meine Mutter – überall. Ich stamme aus dieser Erde. Deshalb bin ich hier.“

Jaber al Dababse aus Khallet Athaba, dessen Haus schon vier Mal abgerissen wurde und es dennoch wieder aufbaut, sagt: „Masafer Yatta ist wie meine Mutter. Ich liebe die Hügel und ich lebe hier!“

Der 77 Jahre alte Schäfer Ismail Ibrahim Mohammad Adara aus Khirbet Al Fakheit: „Ich bin hier geboren. Das ist mein Dorf, mein Land. Ich habe es von meinem Vater und meinem Großvater geerbt. Im Koran heißt es: Regierungen kommen und gehen. Wir hatten hier das Osmanische Reich, die Britische Mandatszeit, die jordanische Verwaltung. Und jetzt wird Palästina von Israel in Zusammenarbeit mit der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert. Auch die jetzige Regierung wird nicht ewig sein. Dies ist mein Land. Ich lebe hier, ich liebe es. Ich will in dieser Erde begraben werden.“

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Kite-Surfer am Strand von Tel Aviv; Foto © WCC-EAPPI

Anfang März fahre ich für ein paar Tage nach Tel Aviv und sehe Kite-Surfern zu. Geschickt drehen sie in der Brandung ihre Runden, beschleunigen, nutzen eine Welle als Sprungbrett, um durch die Luft zu fliegen. Unweigerlich frage ich mich: Kann man Palästinenser:innen dieses Gefühl von Freiheit und einer Leichtigkeit des Lebens ewig vorenthalten?

Mein 3-monatiger Einsatz als Teilnehmer des Ökumenischen Begleitprogramms in Palästina und Israel neigt sich dem Ende zu. Mehr denn je wünsche ich diesem Land Frieden und Gerechtigkeit. Mehr denn je hoffe ich auf die Verheißung im Alten Testament:

Das Recht wird in der Wüste wohnen und Gerechtigkeit im fruchtbaren Lande. Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird Ruhe und Sicherheit sein auf ewig, dass mein Volk in friedlichen Auen wohnen wird, in sicheren Wohnungen und in sorgloser Ruhe.[7]

Wann wird sie in Erfüllung gehen?

Theo, im März 2022

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

 

[1] www.flowersinisrael.com/Gundeliatournefortii_page.htm

[2] https://www.ochaopt.org/content/settlement-expansion-around-israeli-declared-nature-reserve

[3] https://www.btl.gov.il/English%20Homepage/Mediniyut/GeneralInformation/Pages/MinimumWage.aspx

[4] https://www.breakingthesilence.org.il

[5] https://cjnv.org/hineinu-a-sustained-solidarity-project/

[6] Vgl. den Artikel „Gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden“, in: Das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI), Berichte aus dem Einsatz, www.eappi-netzwerk.de/blog/

[7] Jesaja 32, 16-18; zit. nach Lutherbibel 2017: https://www.bibleserver.com/LUT/Jesaja32

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