Sumud

Selbstorganisation und internationale Vernetzung sind ein wirkungsvolles Gespann

Der 30. März wird von Palästinenser:innen als „Tag des Bodens“ begangen und erinnert an die Verluste und Rechte auf Land und Heimat. Just an diesem Tag fand eine Sitzung des Supreme Court in Jerusalem statt, bei der über die Zerstörung von 38 Häusern im nahegelegenen Dorf Al Walaja entschieden wurde. Zur großen Freude der Bewohner:innen und ihrer Unterstützer:innen entschied das Gericht, die Zerstörungsanordnungen für ein weiteres halbes Jahr auszusetzen und der Gemeinde ein Planungsverfahren zuzugestehen. Nur ein Aufschub – keine Entscheidung in der Sache, aber kostbare 24 Wochen ruhiger Schlaf für die betroffenen Familien. Außerdem gibt jede gewonnene Zeit neuen Raum für neue Ideen und für die Stärkung des gewaltfreien Widerstands, dem die Gemeinde sich verpflichtet hat.

Al Walaja

Warum aber das Ganze? Al Walaja liegt südwestlich von Jerusalem im Westjordanland. Im Zuge der Grenzziehung nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1949 hat es mehr als zwei Drittel seines Landes verloren, das heute auf der israelischen Seite der sogenannten Grünen Linie liegt.

Die Karte zeigt die zum Verwaltungsbezirk Bethlehem gehörenden Gemeinden Al Walaja und Battir, die sogenannte Grüne Linie sowie die umliegenden israelischen Siedlungen; © UNOCHA-OPT Interactive Map

Ein weiterer Teil der verbliebenen Dorffläche wurde 1967 von den israelischen Behörden zum Jerusalemer Stadtgebiet annektiert (siehe Karte, die Gebiete nördlich der blau-gestrichelten Linie). Jerusalemer Ausweise aber erhielten die Bewohner:innen dieses Dorfteils nicht.

2017: EA dokumentiert eine Hauszerstörung in Al Walaja; © WCC-EAPPI

Vielmehr hagelte es im Laufe der Jahre Zerstörungsanordnungen. Denn die Familien verfügen nicht über die vorgeschriebenen Genehmigungen für die Häuser, die sie nach 1967 dort gebaut haben. Das ist so, weil es aus Jerusalem keine Stadtplanung für ihren Ort gibt, was die Voraussetzung für die Erteilung einer Baugenehmigung ist. Allein seit 2014 wurden in Al-Walaja fast 30 Häuser zerstört.

Also hat das Dorf eine eigene Planung entwickelt und erste Prozesse geführt, um zu erreichen, dass ihr Entwurf überhaupt von den zuständigen Behörden gelesen und bewertet wurde. Dieses Verfahren haben sie gewonnen, jedoch wurde ihr Planungsentwurf abgelehnt und Zerstörungsanordnungen auf den Weg gebracht. Dagegen hat das Dorf erneut prozessiert und einen Aufschub erreicht.

Zerstörungen in Al Walaja seit 2014 – https://www.ochaopt.org/data/demolition UNOCHA-OPT Datenbank, abgerufen am 05.04.2022

Bei dem Gerichtsverfahren am diesjährigen „Tag des Bodens“ ging es darum, ob dieser Aufschub wirksam bleibt oder grünes Licht für eine massenhafte Hauszerstörung gegeben wird, die etwa 300 weiteren Menschen das Dach über dem Kopf nehmen würde. Für die Menschen in Al Walaja steht außer Frage, dass Platz gemacht werden soll für das weitere Wachstum der benachbarten israelischen Siedlung Gilo. Diese liegt (siehe Karte) südlich der Grünen Linie in besetztem palästinensischem Gebiet, innerhalb der 1967 einseitig von Israel erweiterten Verwaltungsgrenzen Jerusalems, und wächst ständig weiter.

Die Trennbarriere bei Al Walaja in Form eines mehrfach gesicherten Zauns;© WCC-EAPPI

Die Expansionsplanung findet sogar Ausdruck in der Gestaltung der sogenannten Separation Barrier, also der Trennbarriere, die Israel zur Abriegelung der Westbank errichtet hat. Der Abschnitt, der die Siedlung Gilo von Al Walaja trennt, besteht nicht, wie an den meisten anderen bebauten Orten, aus Beton-Platten, sondern aus einer Maschendraht-Struktur, die, so sagen die Menschen im Dorf, viel einfacher verlegt werden könnte, falls die geplante Zerstörung der Häuser und die damit einhergehende Vertreibung der Einwohner:innen dieses Teils von Al Walaja tatsächlich umgesetzt werden  sollte. Durch den Bau der Trennbarriere, hier im Nordwesten Bethlehems kilometerweit innerhalb der Westbank, haben die Gemeinde Al Walaja und die Menschen im Dorf außerdem weiteres Land verloren.

Aber jetzt, nach dem Teilerfolg vor Gericht, stehen die Zeichen wieder auf Hoffnung. Die Leute in Al Walaja sind gut vernetzt und wurden bei Gericht von zahlreichen Vertreter:innen von Rechtshilfe- und Menschenrechtsorganisationen aus Israel und Palästina begleitet. Das ist möglich, weil sie selber gut organisiert sind rund um ihren Gemeinderat, um die Frauengruppe Rweisat for Wood Art und das Jugendcenter. Die Frauengruppe wird seit vielen Jahren von Kurve Wustrow aus Deutschland unterstützt. Auch etliche Konsulate und Botschaften haben Beobachter:innen zum Prozess geschickt, und waren bei einer Informations-Tour durch den Ort direkt vor dem Gerichtstermin präsent. In den USA ging rechtzeitig ein Lobby-Brief[1] von rund 50 Kongressabgeordneten an ihren Außenminister Blinken, in dem sie ihn auffordern, gegenüber der israelischen Regierung auf die Einstellung der Hauszerstörungen zu drängen.

Battir

Ein anderes Beispiel für lang andauernden und erfolgreichen Widerstand ist die nahe gelegene Gemeinde Battir (ebenfalls siehe Karte oben). Sie liegt direkt an der Grünen Linie, also der seit 1949 völkerrechtlich bestätigten Grenze zwischen Israel und Palästina. Ebenso wie Al Walaja liegt auch Battir an der historischen Eisenbahn-Linie von Jaffa nach Jerusalem. Die Strecke war seit ottomanischen Zeiten in Betrieb, konkret seit 1896. Beide Orte galten vor 1948 als die „Gemüse-Körbe“ bzw. Obstgärten von Jerusalem. Deshalb gab es in beiden Dörfern Bahnstationen, die letzten vor Jerusalem, in denen das frische Obst und Gemüse für die Märkte der Stadt aufgeladen wurde. Besonders geschätzt bis heute sind die Auberginen aus Battir. Die Bahntrasse ist bis heute vorhanden und markiert in etwa den Grenzverlauf. Der Bahnhof in Battir wurde 1949 zerstört.

Die Bahnstrecke nahe Battir; © WCC-EAPPI

Als Israel nach der zweiten Intifada den Bau der Trennmauer begann, sahen die Planungen 2005 einen Verlauf mitten durch das nordwestliche Gemeindegebiet von Battir vor, berichtet ein Mitarbeiter des Gemeinderats. Das hätte nicht nur weiteren Landverlust bedeutet, sondern auch die Zerstörung einzigartigen, bewässerten Kulturlandes mitsamt alter (Oliven-)Baumbestände. Die Gemeinde hat dies in einem Einspruch gegenüber den israelischen Behörden vorgetragen, erzählt er. Gleichzeitig habe sie begonnen, die Schutzwürdigkeit ihres Kultur- und Naturerbes zu dokumentieren. Denn in Battir – so ist es inzwischen aktenkundig, befindet sich der älteste und größte Terrassen-Bestand in den Judäischen Bergen, dessen Anfänge auf die Zeit der Römischen Herrschaft über Palästina zurückreichen. Sie wurden Hunderte bzw. Tausende Jahre nach traditioneller Art kultiviert mitsamt dem dazu gehörigen antiken Bewässerungssystem, das sich historisch aus reichhaltigen Quellen speiste. Ziel der Gemeinde war, so berichtet er weiter, die doppelte Anerkennung als Kultur- und Natur-Welterbe der Vereinten Nationen, was zum Zeitpunkt  der Untersuchungs- und Prüfzeit weltweit nur fünf anderen Orten zuerkannt worden war.

UNESCO Weltkulturgut Battir: Die Terrassen gehen auf die Zeit der Römer zurück; © WCC-EAPPI

Schließlich nahm die UNESCO 2014 das Dorf in die Liste der Weltkulturgüter auf, und zwar in die Kategorie der Bedrohten Orte. Zuvor hatte die Melina Mercouri Stiftung 2012 den Ort für den schützenden Umgang mit seiner Kulturlandschaft ausgezeichnet und damit Mittel für die Kartierung und Dokumentation der schützenswerten Natur und Infrastruktur bereitgestellt. Im Ergebnis konnte letztlich der geplante Verlauf der Trennbarriere abgewendet werden, und neue Zukunftsperspektiven für regionalen und internationalen Tourismus und öko-touristische Angebote eröffneten sich der Gemeinde. Flächenmäßig ist die gesamte Gemeinde Battir als Weltkulturerbe bzw. als dazugehörige Pufferzone geschützt. Dazu gehören auch Teilflächen der Nachbargemeinden Husan, Beit Jala und Al Khader.  Die Corona-Pandemie dämpfte die touristischen Hoffnungen empfindlich. Nun gibt es einen neuen Anlauf.

Vor allem aber muss die Integrität der Gemeindefläche weiterhin verteidigt werden. Denn seit 2018[2] versucht eine Siedlergruppe hartnäckig, einen sogenannten Außenposten auf Battir-Land zu errichten. Das bedeutet illegale Landnahme außerhalb von bestehenden Siedlungen und in der Regel den Start einer neuen Siedlung. Die Siedlergruppe hat bereits einen illegalen Außenposten in der benachbarten Gemeinde Beit Jala errichtet, in unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt Bethlehem. Jedes Jahr wieder kommen sie mit Containern auf Rädern, einer Schafherde und mobilen Ställen, und besetzen einen Hügel im Südwesten von Battir. Der Plan scheint zu sein, die Landnahme von dort aus bis zu ihrem Stützpunkt in Beit Jala auszudehnen.

Der mittlerweile geräumte Außenposten auf Battir-Land im März 2022; © Gemeinde Battir

Der Bürgermeister berichtet, dass sie jedes Mal über den Rechtsanwalt der Gemeinde Anzeige bei den israelischen Behörden erstatten. Auch die UNESCO wird informiert und wird ihrerseits gegenüber der israelischen Regierung aktiv. So gelang es bisher wiederholt, die Räumung dieses Außenpostens durchzusetzen. Direkte Kontakte vermeidet die Gemeinde nach Aussage des Bürgermeisters, denn die Siedler – obwohl in jeder Hinsicht illegal unterwegs, genießen den Schutz der Armee. Sobald jemand aus dem Dorf zu nahe am Außenposten sei, tauchten die Soldaten auf, berichtet er. Auch in diesem Jahr wurde Anfang März erneut die Invasion versucht[3]. Vorausgegangen waren im Februar nächtliche Straßenbauarbeiten mit schwerem Gerät, zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Es ging um eine verbreiterte Auffahrt für die geplante Besetzung des Hügels, die Anfang März auch stattfand. Wieder stellte die Gemeinde Anzeige und forderte die UNESCO die israelische Regierung zum Schutz des Weltkulturerbes auf, und wieder erfolgte ein Räumungsbefehl, der den Besetzern großzügig 14 Tage zum Abzug gab. Der Bürgermeister berichtet, dass über Hundert Dorfbewohner:innen am letzten Tag die Frist durchzusetzen halfen, indem sie sich im Halbkreis auf den illegal besetzten Hügel zubewegten. Die Siedler zogen ab. Für den Bürgermeister ist der gewaltlose Widerstand ein wichtiger gemeinsamer Nenner in der Gemeinde. „Wir werfen keine Steine, und wir vermeiden jegliche Vorwände für ein  Eingreifen der Armee, aber wir bestehen auf unseren Rechten“, erklärt er.

Dieses Jahr ging die Runde erneut an die Gemeinde. Es bleibt bei höchster Wachsamkeit. Alle wissen um die wichtige Schutz- und Verstärkerfunktion der internationalen Vernetzung, in diesem Fall zur UNESCO. Letztlich kann diese aber nur wirken, weil die betroffenen Menschen gut organisiert sind und für ihre Sache selber einstehen – mit langem Atem. Sumud wird das in Palästina genannt: Standhaftigkeit auch in widrigsten Umständen.

Danuta, April 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.timesofisrael.com/50-us-lawmakers-call-for-israel-to-end-planned-demolitions-in-east-jerusalem-village/

[2] https://peacenow.org.il/en/settlers-found-new-outpost-on-palestinian-land-near-battir

[3] https://peacenow.org.il/en/settlers-established-a-new-outpost-on-the-lands-of-battir-west-of-bethlehem

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