„Bildung ist die einzige Zukunft für uns“ – Bildung unter Besatzung

Als Sozialarbeiter habe ich viele Jahre mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet, insbesondere mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Ich kenne daher die Auswirkungen von Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend, weiß aber auch, welche Chancen und Hoffnungen der Zugang zu Bildung für diese jungen Menschen mit sich bringt.

Bei unseren Besuchen im Jordantal erzählen uns die Menschen immer wieder über die großen Herausforderungen bei der Schulbildung. In Palästina gibt es 1.474 staatliche, 147 private, meist von kirchlichen Trägern, und 253 von der UNRWA gegründete Schulen[1]. Letztere sind aufgrund des vom israelischen Parlament beschlossenen Betätigungsverbots für UNRWA ab Ende Januar von der Schließung bedroht. 45.000 Schüler:innen würde der Zugang auf Bildung genommen.[2]

Bildung ist ein Menschenrecht, das gerade auch in konfliktbetroffenen Regionen und militärischen Besatzungen respektiert und garantiert werden muss. Gemäß der Genfer Konvention ist Israel als Besatzungsmacht verpflichtet, Kindern und Jugendlichen in Palästina den ungehinderten Zugang zu Bildung zu gewährleisten. In Artikel 50 der IV. Genfer Konvention heißt es: „Die Besetzungsmacht soll in Zusammenarbeit mit den Landes‑ und Ortsbehörden den geordneten Betrieb der Einrichtungen erleichtern, die zur Pflege und Erziehung der Kinder dienen.“[3]

Ökumenischer Begleiter beim Besuch einer Schule im Westjordanland; Foto © WCC-EAPPI/Fabian
Ökumenischer Begleiter beim Besuch einer Schule im Westjordanland; Foto © WCC-EAPPI/Fabian

Für viele palästinensische Schüler:innen stellt sich die Realität jedoch gänzlich anders dar. In ihrem 2022 erschienenen Bericht „Education under Attack“ fasst die Global Coalition to Protect Education from Attack für das Westjordanland zusammen: „Im Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, waren Tausende von Schüler:innen und Pädagog:innen von Abriss- oder Baustoppanordnungen, dem Einsatz von Tränengas oder anderen Waffen in oder hinzu Schulen, Militärpräsenz in der Nähe von Schulen und Verzögerungen an Kontrollpunkten betroffen.“[4]

Die mit internationalen Hilfsgeldern aufgebaute Grundschule von Ein Samiya, einer Gemeinde hier im Jordantal, wurde im August 2023 von den israelischen Behörden abgerissen.[5] Am Internationalen Tag der Bildung, dem 24. Januar 2024, erhielt die Schule in Khallat Amira nahe Hebron eine Zerstörungsanordnung. Trotz des Besuchs zahlreicher diplomatischer Vertreter:innen[6], auch aus Deutschland, wurde die Schule im Juli 2024 abgerissen. Das daraufhin neu errichtete Schulgebäude erhielt im Dezember 2024 erneut eine Zerstörungsanordnung. Die Schule in Isfay al Fauqa, deren Zerstörung unter anderem von Ökumenischen Begleiter:innen dokumentiert wurde[7], ist nach UN-Angaben mittlerweile dreimal zerstört worden.[8]

Zerstörung der Schule von Isfay al Fauqa im November 2022; Foto © WCC-EAPPI/Christiane
Zerstörung der Schule von Isfay al Fauqa im November 2022; Foto © WCC-EAPPI/Christiane

UNOCHA berichtet, dass zwischen 2010 und 2024 insgesamt 24 Schulen im Westjordanland und Ost-Jerusalem von vollständiger oder teilweiser Zerstörung sowie Konfiszierung betroffen waren. Derzeit sind 59 palästinensische Schulen, in denen etwa 6.600 Schüler*innen unterrichtet werden und mindestens 715 Lehrer*innen arbeiten, von Abriss bedroht.[9] Der Vorwurf lautet meist „Bau ohne Genehmigung“. Genehmigungen für palästinensische Gebäude in den von Israel kontrollierten C-Gebieten des Westjordanlands werden jedoch selten bis nie ausgestellt, bei der Bildung wird hier keine Ausnahme gemacht.

Bildungsräume werden zerstört, anstatt dringend notwendige neue Räume für Bildung zu schaffen. Der Bürgermeister aus Jiftlik, einem Ort mitten im Jordantal, erzählt mir, dass er vor Jahren einen Antrag für den Bau einer neuen Etage gestellt hat, da die Schule zu klein gewordenen ist. Er hat bis heute keine Antwort erhalten. Ohne Genehmigung zu bauen, kommt für ihn nicht mehr in Frage, da israelische Behörden in der Vergangenheit Bagger, Maschinen und Material konfiszierten und hohe Strafen ausstellten.

Fehlende Schulplätze können ein Grund dafür sein, dass Familien sich gezwungen sehen, aus manchen Gegenden des Westjordanlands abzuwandern, aber vor allem die Angst vor Gewalt ist ein entscheidender Faktor.

Die Schule in Mu’arrajat East nahe Jericho dient Kindern aus Hirtengemeinden als Bildungsort, einige kommen sogar mit dem Esel zur Schule. Im September 2024 wurde die Schule von einer Gruppe radikaler Siedler gestürmt, die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat den Vorfall auf ihrer Webseite dokumentiert[10]. Die Siedler waren mit Stöcken bewaffnet, sie verwüsteten Klassenzimmer, griffen ein Kind, Lehrkräfte und israelische Aktivist:innen an, die sich an dem Tag in der Schule aufhielten. Es gab viele Verletzte, das Militär verhaftete zunächst den palästinensischen Schulleiter, später wurden fünf Siedler wegen ihrer Beteiligung an dem Angriff angeklagt, ein sehr seltener Akt der Strafverfolgung.

Die Schule in Mu’arrajat East; Foto © WCC-EAPPI/Mily
Die Schule in Mu’arrajat East; Foto © WCC-EAPPI/Mily

Übergriffe, Anfeindungen und provokative Aktionen der Siedler ließen dennoch nicht nach, wie uns beim Besuch der Schule berichtet wurde. Die Lehrkräfte möchten aber weiterhin für die Kinder da sein und ihr Recht auf Bildung gewährleisten. Als Reaktion auf die Übergriffe hat die Schule begonnen, einen Zaun um das Gelände zu bauen, um den Kindern etwas gefühlte Sicherheit zu bieten. Bei unserem letzten Besuch erzählen uns die Bewohner:innen des Ortes, dass israelische Behörden den Bau unterbrochen und verboten haben.

Siedlergewalt kann Kindern in den C-Gebieten des Westjordanlands auch auf dem Schulweg widerfahren, immer wieder wird uns bei Besuchen von Gemeinden und Familien davon berichtet. In Ras ein Al Auja wurde der Schulbus von Siedlern mit Steinen beworfen. Die Kinder aus Khirbet Samra werden nicht mehr vom Schulbus abgeholt, da der Fahrer von Siedlern bedroht wurde. Die Eltern berichten uns, dass die Kinder nun bei erwachsenen Geschwistern in der nächstgrößeren Stadt leben, um dort ohne Probleme die Schule besuchen zu können. Zu ihren Familien in Khirbet Samra kommen sie nur selten, zum Beispiel in den Ferien. In Duyuk at Tahta berichtet mir ein Familienvater, dass die Kinder auf dem Schulweg von Siedlern angegriffen werden. Aufgrund der täglichen Bedrohung gehen die 15 Kinder und Jugendlichen derzeit nicht zur Schule.

Dies sind keine isolierten Ereignisse. Bereits im November 2004 ordnete ein Komitee des israelischen Parlaments an, dass die Kinder aus dem Ort Tuba in den South Hebron Hills von einer Militäreskorte auf dem täglichen Schulweg vor Siedlergewalt geschützt werden müssen. Anstatt die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, wurde die Begleitung durch das Militär verstetigt.[11]

Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Schule stellen hier im Jordantal die Checkpoints dar. Insbesondere seit dem Überfall der Hamas am 07. Oktober 2023 bleiben die Checkpoints häufig geschlossen oder die Abfertigung dauert stundenlang. Betroffene haben uns gegenüber den Eindruck geäußert, dass die Soldat:innen die Menschen mit Absicht mürbe machen wollen. Schüler:innen sowie Lehrkräfte haben Probleme, pünktlich oder überhaupt zur Schule zu kommen. Die älteren Kinder aus Hammamat al Maleh, die bisher auf dem Weg zu weiterführenden Schulen den nahegelegenen Taysir Checkpoint passieren mussten, haben aufgrund der langen Wartezeiten auf die Schule in Ein Al Beida wechseln müssen. Sie sind nun pünktlich, ihre neuen Lehrer:innen jedoch, die aus entfernteren Orten anreisen müssen, bleiben trotzdem täglich in den Checkpoints hängen.  

Begegnungen und potentielle Konflikte mit Soldat:innen kann es auch auf dem Schulweg, in und an Schulen geben. Vor Kurzem hatte ich Gelegenheit, am Monitoring der Ökumenischen Begleiter:innen von Schulwegen im Raum Bethlehem teilzunehmen. Als wir vor einer Schule in Al Khadr nahe Bethlehem stehen, in deren Nähe es häufig eine Militärpräsenz gibt, habe ich das Gefühl, die Kinder freuen sich uns zu sehen und dass wir ihnen ein kleines Stück Sicherheit und Zuversicht bieten können.

Kinder auf dem Schulweg in Al Khadr nahe Bethlehem; Foto © WCC-EAPPI/Fabian
Kinder auf dem Schulweg in Al Khadr nahe Bethlehem; Foto © WCC-EAPPI/Fabian

An der Grundschule in Tuqu, einem Ort südlich von Bethlehem, sehe ich Soldat:innen an vier Zugangswegen positioniert, selbst in den Olivenhainen stehen sie von Bäumen gedeckt. Es herrscht eine angespannte Stimmung. Durch den Ort und an der Schule vorbei führt eine Straße, die auch von Siedler:innen genutzt wird. Nicht selten kommt es hier zu Konflikten mit Siedler:innen und Soldat:innen, auch zu Konfrontationen zwischen der Armee und Jugendlichen.

Die Lehrer:innen begrüßen die Kinder am Eingang. Es scheint, als wollten sie den Schüler:innen signalisieren ‘Hinter uns seid ihr in Sicherheit‘. Doch viele der Kinder haben schon erlebt, dass weder die Lehrer:innen, noch Mauern oder Türen Sicherheit bieten können, wenn es zu Übergriffen des Militärs kommt. Das Team in Bethlehem berichtet mir, dass die Soldat:innen regelmäßig Schüler:innen kontrollieren, schikanieren und einschüchtern. Die bloße Anwesenheit von Soldat:innen in der Nähe der Schule wirkt auf die Kinder bedrohlich, denn sie wissen, dass auch an und nahe von Schulen Tränengas oder andere Waffen zum Einsatz kommen oder Schüler:innen verhaftet werden könnten[12].

Ich sehe die Kinder zur Schule strömen, einige bringen selbst gebastelte Kunststücke mit, tragen die üblichen Spiderman- oder Prinzessinnenrucksäcke. Ich frage mich, wie Soldat:innen bereit sein können, gegenüber Kindern Gewalt auszuüben. Und ich stelle mir vor, wie schwer es für die Eltern sein muss, ihre Kinder in dieser Situation unter militärischer Besatzung auf einen guten Weg zu bringen, ihnen eine gute Bildung zukommen zu lassen und gleichzeitig zu wissen, dass sie die Kinder vor Gefahren nicht ausreichend schützen können.

Von Eltern hier im Jordantal hören wir immer wieder, dass Kinder mit ihren Schuhen und Kleidern schlafen, um notfalls nachts wegrennen zu können, wenn Siedler oder Soldat:innen kommen. Viele Kinder seien übermüdet, gestresst und verängstigt, es fehle ihnen Energie und Motivation, zur Schule zu gehen, in der Schule seien sie oft unkonzentriert oder würden gar einschlafen. Eine Mutter berichtet uns: „Die Kinder sind müde, sie schlafen wo immer sie können.“ Die Ministerin für Bildung in Betlehem berichtete den dortigen Ökumenischen Begleiter:innen in einem Gespräch, dass ihr vor allem die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Schüler:innen Sorgen machen. Die Kinder benötigten breite psychosoziale Unterstützung, es gäbe zunehmende Probleme mit Bettnässen, Schlafstörungen und Schulabbrüchen.

Schulkinder im Jordantal; Foto © WCC-EAPPI/Fabian
Schulkinder im Jordantal; Foto © WCC-EAPPI/Fabian

Von Herausforderungen hören wir auch beim Besuch einer Schule in Jericho, die von der Swedish International Relief Association (SIRA) aufgebaut wurde und finanzielle Unterstützung auch aus Spanien und Japan erhält. Die Einrichtung beschult Kinder mit Lern- und Konzentrationsschwächen, sie bietet 66 Schüler:innen mit besonderen Herausforderungen die Chance auf eine schulische Ausbildung, die ihren Bedürfnissen gerecht wird und damit die Grundlage für ein gutes Leben legen soll. Wir werden herzlich empfangen und uns werden auch einige Lieder gesungen. Die Schulleitung ist sehr dankbar für die Unterstützung aus dem Ausland, sie ermöglicht der Schule eine gute Ausstattung.  Doch auch der Alltag dieser Schüler:innen ist von den Realitäten der Besatzung und nicht selten von Gewalt geprägt. „Wir versuchen unser Bestes, um den Kindern unter diesen Bedingungen Hoffnung und Liebe zu geben. Besonders die Kinder aus den Flüchtlingslagern leiden sehr. Aufgrund der beinahe täglichen militärischen Operationen dort kommen sie oft müde und emotional belastet in die Schule.“

2015 wurde auf Bestreben von Norwegen und Argentinien die sogenannte „Safe School Declaration“[13] entworfen, ein zwischenstaatliches politisches Abkommen zum Schutz der Bildung in bewaffneten Konflikten. Mittlerweile haben 120 Staaten, darunter Deutschland, die Erklärung unterschrieben und sich damit verpflichtet, für den Schutz von Schulen und Universitäten in Zeiten bewaffneter Auseinandersetzungen einzutreten und den Zugang zu Bildung sowie die Entwicklung von konfliktsensiblen Bildungssystemen zu fördern.

Dieses Abkommen macht deutlich, dass sehr viele Staaten der Welt Bildung als ein unverzichtbares Werkzeug verstehen, das Kindern nicht nur die Möglichkeit gibt, ihre Zukunft zu gestalten, sondern auch Hoffnung und Standhaftigkeit inmitten von Gewalt und Unsicherheit fördert. In den Gemeinden im Westjordanland, in denen der Zugang zu Bildung und das Bestehen von Schulen als sichere Räume aufgrund der anhaltenden völkerrechtswidrigen Besatzung und zunehmender Annexionsbestrebungen der aktuellen israelischen Regierung eingeschränkt, verhindert oder gar zerstört werden, kommen den Kindern und Jugendlichen diese Chancen nur eingeschränkt zu oder bleiben ihnen gänzlich verwehrt. Die internationale Gemeinschaft muss sich endlich mit aller Kraft für ein Ende der Besatzung und eine gerechte Lösung des Konflikts einsetzen, damit die Verletzung grundlegender Menschenrechte, wie etwa des Rechts auf Bildung, beendet wird.

Wie wichtig den Menschen hier die Bildung ihrer Kinder ist, hören wir vielerorts, aber ein Vater in einer Hirtengemeinde im Jordantal, die aufgrund von Siedlergewalt von Vertreibung bedroht ist, stellt heraus, dass Bildung existentiell ist: „Wir werden als Hirten gewaltsam verdrängt, schon allein deshalb ist die Bildung meiner Kinder die einzige Zukunft für uns.“

Fabian, im Januar 2025

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://palaestina.org/de/palaestina/kultur/bildung

[2] https://www.unrwa.org/newsroom/news-releases/unrwa-launches-2024-2025-academic-year-west-bank-amidst-increasing-insecurity-insecurity

[3] https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1951/300_302_297/de

[4] https://protectingeducation.org/wp-content/uploads/eua_2022_palestine.pdf Übersetzung des Autors

[5] https://www.ochaopt.org/content/elementary-school-ein-samiya-demolished  

[6] https://www.gov.uk/government/news/diplomatic-missions-urge-israel-to-cease-demolitions-of-schools

[7] https://www.eappi-netzwerk.de/keine-hoffnung-auf-einen-sicheren-zugang-zu-bildung/

[8] https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-248-west-bank

[9] ebenda

[10] https://www.btselem.org/video/20241008_israeli_settlers_invaded_a_school_in_al_muarrajat_east_and_assaulted_activists_a_student_and_the_principal_with_sticks#full

[11] https://www.eappi-netzwerk.de/militaereskorte-auf-dem-schulweg-seit-fast-20-jahren/

[12] https://www.eappi-netzwerk.de/schulbesuch-herausforderung/

[13] https://ssd.protectingeducation.org/

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