„Die israelische Regierung muss nun sicherstellen, dass UNRWA weiterhin das Mandat der UN-Generalversammlung erfüllen kann. Dazu muss UNRWA auch zukünftig in der Lage sein, für die Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza, im Westjordanland und in Ost-Jerusalem lebensrettende humanitäre Hilfe sowie Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung zu erbringen. Palästinenserinnen und Palästinenser haben – ebenso wie die Menschen in Israel – ein Recht auf ein Leben in Sicherheit und Würde in einem eigenen Staat.“ Aus der Erklärung des Auswärtigen Amts zum Verbot der UNRWA am 29.10.2024[1]
„Es gibt keinen Plan B“ – das ist einer der ersten Sätze, den wir nach Ankunft in Palästina hören. Wir sind bei einem Briefing von OCHA, dem UN-Büro für die Koordination von humanitärer Hilfe. Es ist die Antwort auf die große Frage, was wohl passieren wird, sobald das UN-Hilfswerk für palästinensische Geflüchtete UNRWA seine Arbeitserlaubnis in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten Ende Januar verliert.
UNRWA wurde 1949 auf Grundlage der Resolution 302 der UN Vollversammlung etabliert[2], nach der Flucht und Vertreibung von über einer halben Million Palästinenser:innen im Zuge der Staatsgründung Israels und des darauffolgenden Krieges. Damals war das Hilfswerk als Übergangslösung gedacht, um die Geflüchteten zu versorgen, bis eine Rückkehr in die Heimat möglich ist. Die UNRWA ist das einzige Flüchtlingshilfswerk für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, in der Regel ist das UNHCR weltweit für die Unterstützung von Geflüchteten zuständig. Während Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte allen Menschen das Recht zuspricht, „jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren“[3], geht für Palästinenser:innen das Recht auf Rückkehr aus Resolution 194 der UN Vollversammlung von Dezember 1948 hervor, in der es bezüglich der im Krieg 1948/49 geflohenen und vertriebenen Palästinenser:innen heißt: Die Generalversammlung „beschließt, dass den Flüchtlingen, die in ihre Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühesten möglichen Zeitpunkt gestattet werden soll und dass für das Eigentum derjenigen, die sich entscheiden, nicht zurückzukehren, und für den Verlust oder die Beschädigung von Eigentum, wofür nach den Grundsätzen des Völkerrechts oder der Billigkeit von den verantwortlichen Regierungen und Behörden Wiedergutmachung zu leisten ist, Entschädigung gezahlt werden soll.“[4]
Bis heute ist die Frage des Rechts auf Rückkehr und der Art und Weise seiner Umsetzung[5] nicht geklärt und wurde in früheren Verhandlungen zur Beendigung des Konflikts nicht behandelt. Menschen jüdischen Glaubens, erhalten – auch vor dem Hintergrund historischer Verfolgung und Vernichtung – unabhängig von ihrem Geburtsort in der Regel die israelische Staatsangehörigkeit und können sowohl in Israel, aber auch in Siedlungen im Westjordanland ansässig werden. Im Gegensatz dazu wird eine Rückkehr von den während der auch als Nakba (deutsch „Katastrophe“) bekannten Zeit 1948/49 geflohenen oder vertriebenen Palästinenser:innen und ihrer Nachkommen in ihre Heimat seitens Israel ausgeschlossen, da dies die Mehrheitsverhältnisse zwischen jüdischer und palästinensischer Bevölkerung stark verändern würde. Hinzukommt, dass palästinensische Flüchtlinge in den arabischen Nachbarländern oft Diskriminierung ausgesetzt sind. Angesichts dieses Mangels an Klärung und der damit verbundenen Aufrechterhaltung des Flüchtlingsstatus für die Geflüchteten und ihre Nachkommen, ist UNRWA nun für fast sechs Millionen Palästinenser:innen in den besetzten palästinensischen Gebieten inklusive Gaza und Ost-Jerusalem, Syrien, Jordanien und dem Libanon zuständig.

In Gaza leben fast 1,6 Millionen registrierte Flüchtlinge. Bereits vor dem Krieg und noch vielmehr seit Kriegsbeginn und der humanitären Katastrophe in Gaza ist UNWRA mit etwa 300 Einrichtungen eine unersetzliche Institution des Zugangs zu überlebenswichtiger Versorgung, Gesundheit und Bildung. In der Westbank einschließlich Ost-Jerusalem haben knapp 913.000 Palästinenserinnen Flüchtlingsstatus. UNRWA sichert 45.195 Schüler:innen den Zugang zu Bildung, unterhält 43 Gesundheitszentren und unterstützt Familien und Gewerbe mit Mikrokrediten im Wert von insgesamt über $220 Millionen.[6]
Im späten Oktober 2024 hat das israelische Parlament, die Knesset, mit Wirkung zu Ende Januar 2025 jegliche Aktivitäten von UNWRA in Israel, dem Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem und Gaza verboten und UNRWA als Terrororganisation eingestuft. Dies folgte den Vorwürfen der israelischen Regierung, UNRWA Mitarbeiter seien an dem Anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen.[7] Die konkret gegen 19 der 13.000 Mitarbeitenden im Gaza-Streifen erhobenen Vorwürfe wurden von einem UN-Kontrollgremium untersucht, 9 Mitarbeitende, deren Beteiligung am Hamas-Anschlag nicht ausgeschlossen werden konnte, wurden entlassen.[8]
Die deutsche Bundesregierung hatte angesichts der Vorwürfe die Unterstützung der UNRWA zwischenzeitlich auf Eis gelegt, diese jedoch im April 2024 vor dem Hintergrund seitens UNRWA bereits ergriffener Maßnahmen und zugesagter Reformen wieder aufgenommen.[9] Die Entscheidung des israelischen Parlaments von Oktober, die gesamte Organisation zu bestrafen und 2.5 Millionen Palästinenser:innen nun ganz von UNRWAs humanitärer Unterstützung und Infrastruktur abzuschneiden, ist nicht zuletzt angesichts der dramatischen humanitären Lage in Gaza Sinnbild der Entscheidungsgewalt, die Israel über die besetzen Gebiete hat.
Der Arbeit von UNRWA begegnen auch wir in unserem Einsatz. Etwa die Hälfte der Einwohner:innen von Jericho lebt in einem der beiden UNRWA-Flüchtlingslager Aqbat Jabr und Ein El-Sultan. „Das wäre eine Katastrophe, wenn wir hier aufhören müssten“, sagt Mouna*, UNRWA-Koordinatorin in Aqbat Jabr, „alleine die Müllabfuhr, zum Beispiel, Sie können sich ja vorstellen, wie es hier aussähe, wenn es die nicht gäbe“. Aqbat Jabr ist flächenmäßig das größte Flüchtlingslager in der Westbank. Etwa 10.500 Menschen leben hier, viele von ihnen ursprünglich Beduin:innen.[10] Obwohl die Bewohner:innen hier im Vergleich zu anderen Camps weniger unter beengten Verhältnissen leiden, ist die Situation alles andere als leicht.
Militärische Operationen einschließlich des Stürmens von Häusern oder Teilen des Lagers gehören hier – wie in fast allen Flüchtlingslagern im Westjordanland – zum Alltag und zeichnen das Leben. Der Großteil von Aqbat Jabr liegt in der sogenannten Zone A (etwa 18%) des Westjordanlands, in der eigentlich die palästinensische Autonomiebehörde sowohl für die zivile Verwaltung, als auch für polizeiliche Maßnahmen und Sicherheit zuständig ist. Bei einem Besuch in Aqbat Jabr wird uns berichtet, dass vor Kurzem ein Mann an einem Herzinfarkt während eines solchen Einsatzes in seiner Nachbarschaft gestorben sei – zu groß sei die Angst und der Stress gewesen, dass es ihn und sein Haus als nächstes trifft. Die israelische Armee begründet diese Einsätze mit dem Vorgehen gegen bewaffnete Gruppen. Uns wird erzählt, dass in Aqbat Jabr vor allem die Familien palästinensischer Gefangener von diesen Einsätzen betroffen seien.
Die Kinder hier wachsen mit diesen Bildern auf, erleben die Gewalt der Soldat:innen und die Angst und Ohnmacht der Eltern. „Die Kinder bringen das natürlich mit“, sagt Alaa*, die den YWCA (Young Women’s Christian Association) Kindergarten in Aqbat Jabr leitet, „manchmal spielen sie das, was sie erleben, dann nach.“ Im Kindergarten versuchen sie den Kindern eine möglichst sichere Umgebung zu bieten, damit sie lernen, spielen und vergessen können. Eigentlich bereiten sie die Kinder hier auch auf den Schuleintritt vor. Diesem blickt Alaa nun jedoch mit Sorge entgegen: „Es gibt hier nur eine UNRWA Schule, die palästinensische Autonomiebehörde hat nicht die Ressourcen einzuspringen, die können ja jetzt schon keine vollen Gehälter zahlen.“ Ein Ende des Bildungsangebots von UNRWA wäre eine Katastrophe, sagt sie. Privatschulen seien keine Alternative, „viele können es sich zurzeit nicht einmal leisten den relativ geringen Kindergartenbeitrag rechtzeitig zu bezahlen“, erklärt sie.

Die sozio-ökonomische Situation der meisten Familien hier ist schlecht, das bestätigt auch Mouna. Alle drei Monate verteile UNRWA Essenspakete und Bargeld an bedürftige Familien. „Das sind jetzt plötzlich auch Leute, die wir zuvor noch nie gesehen haben“. Siebzig Prozent der Bewohner:innen des Camps seien zur Zeit arbeitslos, ein massiver Anstieg seit dem 7. Oktober 2023, als viele Werktätige im Westjordanland ihre Arbeitserlaubnis in Israel oder den Siedlungen verloren. Die Dringlichkeit ist offensichtlich, während wir mit ihr sprechen klingelt Mounas Telefon permanent. „Es wäre verrückt, wenn das hier alles aufhört“, sagt sie. 1.900 Kinder gehen in die UNRWA-Schule, das Gesundheitszentrum behandelt jede Woche 700 Patient:innen. „Es gibt keinen Plan B“, sagt auch sie, „wir arbeiten einfach weiter, solange es geht.“
Auf der anderen Seite Jerichos sitzt Mahmoud* an seinem Schreibtisch und erzählt energisch von der Situation in Ein El-Sultan. In diesem kleineren Flüchtlingslager leben etwa 3.500 Menschen. Mahmouds Vater und Großvater wurden 1948 aus dem Süden vertrieben, er selbst ist in Ein El-Sultan geboren. Seit zehn Jahren ist er ehrenamtlich im Public Committee im Camp engagiert, seit sechs Jahren leitet er es. So hat er die Entwicklungen seit dem 7. Oktober selbst miterlebt: „Die Arbeitslosigkeit ist extrem gestiegen, viele hier haben ihre Jobs in israelischen Fabriken und Siedlungen verloren.“ Zusätzlich gäbe es fast täglich Militäreinsätze im Camp. Drei junge Männer seien dabei seit dem siebten Oktober von israelischen Soldaten getötet worden, circa 70 säßen zurzeit in Administrativhaft[11], Haft ohne Anklage oder Verurteilung, die meisten von ihnen seien unter 20 Jahre alt. „Außer UNRWA kümmert sich hier niemand um die Belange der Geflüchteten“, sagt Mahmoud, „es ist unmöglich ihre Arbeit zu ersetzen.“
Gemeinsam mit UNRWA versucht das Public Committee die Situation der Menschen im Camp zu verbessern und so ihre Resilienz zu stärken. Herausforderungen gibt es viele: mit wachsender Bevölkerung wird es zunehmend beengt, Budgetkürzungen bei UNRWA erschweren deren Arbeit. Sollte UNRWA diese komplett einstellen, müssten auch hier die Schule und das Gesundheitszentrum geschlossen werden, so Mahmoud. In der Schule unterrichten momentan 40 Lehrer:innen etwa 1000 Schüler:innen bis zur Hochschulreife. Das Gesundheitszentrum beschäftigt circa zehn medizinische Fachpersonen, hat eine Apotheke und bietet Unterstützung für psychische Gesundheit an. Alles nur ermöglicht von UNRWA.

Neben der Aufrechterhaltung von Infrastruktur, der Bereitstellung von Bildung und Gesundheitsversorgung, hat die Arbeit von UNRWA für viele auch eine symbolische oder politische Bedeutung. Alle, mit denen wir hier vor Ort über das UNRWA-Verbot gesprochen haben, treibt die Angst um, dass ein Ende von UNRWA auch ein Ende der palästinensischen Flüchtlingsfrage bedeutet. Jedoch ein Ende ohne Gerechtigkeit, ein Ende ohne Rückkehr und/oder Kompensation – ein Ende in der Vergessenheit. Viele Familien halten seit Generationen am Schlüssel des Hauses fest, aus dem die Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern einst geflohen sind oder vertrieben wurden. Für sie ist der Schlüssel DAS Symbol für ihr Recht auf Rückkehr. „Wir tragen unsere Geschichte weiter, von Generation zu Generation“, erklärt Mahmoud, „wir sehen die Flüchtlingslager als Wartestation, bis wir zurückkehren können. Wir haben es verdient in Frieden und selbstbestimmt zu leben“. Bis eine Lösung gefunden ist, sind sie angewiesen auf die Arbeit von UNRWA.
Für alle hier steht fest: UNRWA kann die Arbeit nicht einstellen. Deshalb wird weitergearbeitet wie bisher, in der Hoffnung, dass die Katastrophe einer Schließung aller Einrichtungen der UNRWA durch internationalen Druck doch noch abgewendet werden kann. Kurz nach dem Knessetbeschluss veröffentlichte die deutsche Außenministerin gemeinsam mit sechs Amtskolleg:innen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die humanitäre Bedeutung von UNRWA betonen und ihre Sorge über die Entscheidung ausdrücken.[12] Dem hält Mahmoud entgegen: „Wir wollen nicht nur Worte“, sagt er, und ergänzt eine Bitte: „erhöht den Druck auf eure Regierungen, damit sie sich für eine Revision dieser Entscheidung und ein Ende der Besatzung einsetzen.“
Mily, im Januar 2025
*Namen geändert
Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1]https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/unrwa-2682290
[2]https://www.unrwa.org/who-we-are
[3]https://www.ohchr.org/en/human-rights/universal-declaration/translations/german-deutsch?LangID=ger
[4]https://www.un.org/depts/german/gv-early/ar194-iii.pdf
[5] Es ist das Recht eines jeden Flüchtlings, zwischen Rückkehr und Kompensation zu wählen. Die konkrete Lösung der palästinensischen Flüchtlingsfrage wird ebenso auf dem Verhandlungsweg erreicht werden müssen, wie alle anderen Aspekte einer nachhaltigen und gerechten Friedensregelung. Für mehr Informationen: https://www.amnesty.org/en/latest/press-release/2019/05/israels-refusal-to-grant-palestinian-refugees-right-to-return-has-fuelled-seven-decades-of-suffering/; https://imeu.org/article/the-right-of-return-palestinian-refugees
[6] https://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank
[7] https://www.theguardian.com/world/2024/oct/28/israeli-lawmakers-pass-bill-that-could-halt-unwra-relief-work-in-gaza
[8] https://www.theguardian.com/world/article/2024/aug/05/nine-unrwa-staff-members-may-have-been-involved-in-7-october-attack
[9] https://www.bmz.de/de/aktuelles/aktuelle-meldungen/gemeinsame-erklaerung-auswaertiges-amt-bmz-zu-unrwa-207472
[10] https://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank/aqbat-jabr-camp
[11] Mehr Informationen zu Administrativhaft hier: https://www.btselem.org/administrative_detention
[12] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/unrwa-2682290