Militäreskorte auf dem Schulweg – seit fast 20 Jahren

Der nachfolgende Bericht entstand kurz vor dem 7.10. Meine Eindrücke von jenem Tag und der auf ihn folgenden habe ich in diesem Blogbeitrag niedergeschrieben. Die Kinder, von denen ich im folgenden Beitrag berichte, können aktuell nicht zur Schule gehen, weil die Situation im Westjordanland vor allem dort, wo Palästinenser:innen und israelische Siedler:innen aufeinander treffen, sehr angespannt und nicht selten von Gewalt geprägt ist.

Im September begann, wie für viele Schüler*innen auf der ganzen Welt, das neue Schuljahr für die Kinder in den besetzten palästinensischen Gebieten. Um die Schule in At-Tuwani zu erreichen, gehen die Kinder aus dem kleinen palästinensischen Dorf Tuba normalerweise den kürzesten Weg. Erst ein steiniger Pfad, der sich ca. 1,5km durch die Weiten von Masafer Yatta zieht, dann eine geteerte Straße. So erreichen die Kinder in ca. 30-40 Minuten den Unterricht.

Israel/Palästina: Dorf Tuba in den South Hebron Hills
Zelte in Tuba, South Hebron Hills; © WCC-EAPPI/Klaus

Dieser Weg jedoch führt seit vielen Jahren an der israelischen Siedlungen Ma’on (1981 errichtet) und dem Außenposten Havat Ma’on (2001 errichtet) vorbei. Um die Siedlungen zu umgehen, müssten die Familien einen weiten Umweg auf sich nehmen, der mangels einer Busanbindung und privater Autos für die meisten unmöglich ist.

Seit 2001, so wurde uns berichtet, haben israelische Siedler*innen aus Havat Ma’on die Kinder immer wieder auf dem Weg zur Schule gewaltvoll bedrängt und so regelmäßig am Schulbesuch gehindert. Daraufhin begannen Freiwillige internationaler Organisationen, insbesondere der italienischen Operation Dove und der Christian Peacemaker Teams (CPT), die Kinder auf Ihrem Schulweg zu begleiten. Dennoch kam es weiterhin zu Übergriffen auf Kinder und Freiwillige. Im November 2004 befasste sich ein Komitee der Knesset, des israelischen Parlaments, mit der Situation und ordnete die Einrichtung einer Militäreskorte zum Schutz der Kinder an. Seither werden die palästinensischen Kinder auf dem Stück ihres Schulwegs, das an den Siedlungen vorbeiführt, vom israelischen Militär eskortiert. Eine Konsequenz für die Siedler*innen scheint es in diesen 19 Jahren nicht gegeben zu haben.

Palästina/Israel: Kind schaukelt im Dorf Tuba
Schaukeln mit Blick auf das Tote Meer – der Spielplatz von Tuba; © WCC-EAPPI/Klaus

Heute begleiten wir 9 Mädchen und 4 Jungen auf den Weg zur Schule, bzw. zu dem Übergabetreffpunkt mit dem israelischen Militär. Wir selbst dürfen von diesem Punkt nicht weitergehen. Das Militär verbietet es.

In Tuba leben 9 Familien. Als wir das Dorf am frühen Morgen zusammen mit den Kindern verlassen, riecht es nach Schafen und Natur. Die einfachen Behausungen sind umgeben von Tieren: Hunde, Schafe, Kamele, Esel, Katzen, Hühner. Die Menschen leben von ihren Schafen. Autos gibt es hier nicht, auch keine Straßen. Ich sehe viele Zelte und Hütten für die Tiere. Und einen Spielplatz.

Tuba liegt in Masafer Yatta, in den Bergen südlich der Stadt Hebron. In den 80er Jahren wurde dieses Gebiet, in dem sich zahlreiche palästinensische Hirtengemeinden befinden, von Israel als Firing Zone 918 deklariert[1]. Firing Zones sind militärische Übungsgelände und damit Sperrgebiete. Die ansässigen Familien dürfen nicht bauen, tun sie es doch folgt rasch die Zerstörung durch das Militär. 1999 wurden 700 Menschen aus der Firing Zone 918 vertrieben. Viele konnten nach einem Gerichtsbeschluss zunächst zurückkehren, lebten jedoch in ständiger Angst vor erneuter Räumung. Im Mai 2022 entschied der Oberste Gerichtshof Israels, dass die Vertreibung von über 1.000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen Kinder, zugunsten der Firing Zone erfolgen kann. Die Menschen aus Tuba gehören dazu.  

Factsheet UNOCHA-OPT zu Masafer Yatta
Karte © UNOCHA-OPT

Vor mir auf dem steinigen Pfad wackeln Schultaschen hin und her. Ich erkenne Lightning McQueen vom Pixar Spaß „Cars“. Ebenso Sponge Bob. Teilweise kommt es mir so vor,  dass die Schultasche größer ist als das Kind, das sie trägt. Hamed* trägt den Lightning McQueen Rucksack. Er ist 5 Jahre alt und geht in die 1. Klasse. Hamed bummelt etwas hinter her. Die kleinen Beine können mit denen der großen Kindern noch nicht mithalten.

Palästina/Israel: Auf dem Schulweg
Auf dem Weg zur Schule; © WCC-EAPPI/Klaus

Der Himmel ist tiefblau, die Sonne brennt im Gesicht, Ruhe.

Plötzlich Geräusche, die nicht in diese karge Landschaft passen. Keine Kindergeräusche und auch keine Geräusche von wackelnden Schultaschen, sondern Geräusche von Ventilatoren. Wir kommen an einer großen Agrikulturfarm vorbei, hier werden Hühner gehalten. Es sind die ersten Ausläufer der Siedlung Ma´on und des Außenpostens. Stacheldraht, abgesichert. Der Schulweg schlängelt sich entlang des Zaunes. Erste Häuser der Siedlung kommen auf der anderen Seite des Weges ins Blickfeld. Häuser fast wie bei mir zu Hause im Allgäu. Und Weinreben. Hier wird Traubenanbau im großen Stil betrieben. Ich bin überrascht. Masafer Yatta ist trocken im Sommer. Jeden Tag 30 Grad und kein Regen seit 4 Monaten. Die Schafhirten von Tuba haben Probleme, für Ihre Tiere in der Einöde etwas zu essen zu finden.

Palästina/Israel: Landwirtschaft in der Siedlung Maon
Traubenanbau in der Siedlung Ma‘on; © WCC-EAPPI/Klaus

Wir laufen weiter bis zu einer gelben Barriere, an der ein Militärjeep mit drei schwerbewaffneten Soldaten wartet. Die Kinder kennen das Prozedere schon. Sie geben uns High Five zum Abschied und schlängeln sich durch die Barriere, an großen Maschinengewehren vorbei und weiter auf die Teerstraße. Wenn alle Kinder da sind setzt sich der Militärjeep langsam in Bewegung, zwei Soldaten laufen neben den Kindern, Schulrucksäcke und Maschinengewehre wackeln langsam davon. Die Schule geht bis 12:30, dann beginnt dasselbe Spiel, nur umgekehrt. Wir warten in der brennenden Mittagssonne an dem Übergabepunkt auf die Soldaten*innen und die Kinder. Wir spähen auf den kleinen Hügel, an dem die Kinder normalerweise erscheinen. Keine Kinder. Heiß. Trocken. Ich habe leider nur eine kleine Wasserflasche mitgenommen, sie ist nur noch halbvoll.

Plötzlich erscheint ein Auto, das nicht nach Militär aussieht. Drei Leute steigen aus und bewegen sich schnellen Schrittes auf uns zu. Je näher die Leute kommen, desto sicherer sind wir uns: Es sind Bewohner der Siedlung. Ich bin leicht nervös. Die drei kommen stoppen direkt vor uns. Abgewetzte Hose, Armfreies T-Shirt, Strickmützen, von der Sonne braun gebrannt, 18 – 20 Jahre alt. Sie haben Mobiltelefone in der Hand, mit denen sie uns filmen. Sie rufen uns zu „Go, go, go,….go to the hell“ und “This is my territory”. Plötzlich erscheint hinter dem Zaun eine weitere Person. Auch mit Handy und filmt uns. Als sich der Mann hinterm Zaun umdreht, sehe ich eine Pistole in seiner Hose stecken. Ich wusste schon, das israelische Siedler oft bewaffnet sind, trotzdem ein komisches Gefühl.

Palästina und Israel: Begegnung mit Siedlern
Begegnung mit Siedlern; © WCC-EAPPI/Klaus

Die drei Jugendlichen bedrängen uns circa eine halbe Stunde lang. „Where do you come from?…Go away…..What do you do here?….go away…..”. Ich bin in dieser Situation wirklich froh, als ich das Militär mit den Kindern plötzlich um die Ecke biegen sehe. Sie sind spät dran.

Die Kinder kommen, alle filmen die Situation. Die Kinder sind das gewöhnt. Das Militär kontrolliert uns, offenbar von den Siedlern vor oder hinter dem Zaun informiert auf uns angesprochen. Dann können wir mit den Kindern unserer Wege ziehen.

Israel/Palästina: EAPPI Schulwegbegleitung
Mit den Kindern auf dem Weg zurück nach Tuba; © WCC-EAPPI/Klaus

Die Kinder sind von der ganzen Situation nicht sonderlich beeindruckt. Zu oft passiert es, dass sie von Siedlern auf Ihrem Weg zur Schule belästigt werden. Langsam wackeln die Schultaschen in der Mittagssonne wieder zurück nach Tuba.

Morgen um 07:00 beginnt das gleiche Spiel von vorne.

Klaus, im September 2023

* Name geändert

Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.ochaopt.org/content/masafer-yatta-communities-risk-forcible-transfer-june-2022

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