Ökumenischer Begleiter am 07.10.2023

Notizen einer Zeit, die den Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser:innen nachhaltig verändern wird

Der 7.10. startet für uns mit einem zeitigen Frühstück. Müsli, Joghurt, Mangos, Aprikosen und Datteln. Danach brechen wir zum sogenannten Land Action Day auf. Der Land Action Day findet jeden Samstag in den South Hebron Hills statt und bedeutet gemeinsame Aktivitäten mit israelischen Aktivist:innen von Ta‘ayush, einer Gruppe, deren Anliegen jüdisch-arabische Partnerschaft ist. Wir fahren mit dem Taxi zum palästinensischen Dorf At-Tuwani und warten dort auf die Israelis. Diese sind noch zeitiger als wir aufgebrochen. Sie kommen mit einem Kleinbus aus Tel Aviv, Jerusalem und anderen Städten Israels ins Westjordanland, um Palästinenser:innen mit Ihrer Präsenz zu unterstützen und um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren.

Um 7.30 kommt der Bus aus Jerusalem an. Etwa 15 Israelis steigen aus und strecken erstmal die Glieder nach der langen Fahrt. Mir fällt ein junger Mann auf, der eine Umhängetasche von einem Buchladen im Prenzlauer Berg in Berlin trägt. Meine Stadt. Was macht denn der Berliner Beutel hier in At-Tuwani? Ich spreche ihn an. Er heißt Gabriel* und der Beutel ist ein Mitbringsel von einem Freund, der zwei Jahre in Berlin gelebt hat. Auch der Freund ist heute als Aktivist dabei. Wir unterhalten uns. Über Berlin und Tel Aviv. Die Wohnungspreise. Ausgehen. Musik. Die Clubszene. Und noch vieles mehr.

Alle gemeinsam fahren wir in die Nähe von Susiya. Dort laufen wir auf weite Felder, suchen uns einen Stein und setzen uns. Hier auf die Felder kommen die Schafhirt:innen aus den umliegenden Dörfern mit ihren Herden. Um Susiya gibt es mehrere völkerrechtswidrige israelische Sielungen. Suseya (palästinensisches Dorf und israelische Siedlungen haben den gleich Namen), Avigail, Mitzpe Yair. Es kommt regelmäßig vor, dass israelische Siedler die Schafhirt:innen belästigen: Steine werfen, die Menschen verbal und physisch bedrohen. Die israelischen Siedler sind meist bewaffnet. Aus diesem Grund sind wir hier. Gemeinsam. Israelische und internationale Begleiter:innen. Unsere Aufgabe ist protective presence – schützende Präsenz. Durch unsere Anwesenheit soll es den palästinensischen Schafhirt:innen möglich sein, in Ruhe und Frieden Ihre Tiere grasen zu lassen.

Israel/Palästina: Begleitung von Hirt:innen in den South Hebron Hills
Bei der Begleitung von Hirt:innen in den South Hebron Hills. Foto WCC-EAPPI/Klaus

Gabriel erzählt, dass er früher selbst Siedler gewesen sei. Er hat in der Siedlung Betar Illit gewohnt, 10 km südwestlich von Jerusalem. Seine Familie ist rechts-konservativ, sie stehen dem Engagement des jungen Mannes daher eher skeptisch entgegen, vorsichtig ausgedrückt, wie er hinzufügt. Die Familie ist nach Tel Aviv umgezogen, als Gabriel 18 Jahre alt war. Er ging für drei Jahre zum Militärdienst, war hauptsächlich am Gazastreifen stationiert. Dann zum Studium – Internationale Politik. Mehr und mehr positionierte er sich kritisch gegenüber dem Siedlungsbau.

Die ersten Siedlungen im palästinensischen Westjordanland entstanden direkt nach dem Sechstagekrieg 1967. Die Vereinten Nationen betrachten diese Siedlungen als illegal. Dennoch hält Israel am Siedlungsbau fest. Gerade wurden wieder 1600 neue Wohneinheiten in israelischen Siedlungen genehmigt. Laut der israelischen Organisation PeaceNow leben heute etwa 700.000 Siedler:innen im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem.

Seit 5 Wochen bin ich hier und in dieser Zeit regelmäßig an Siedlungen in den South Hebron Hills vorbeigefahren. Teilweise bestehend aus nur wenigen Häusern oder gar nur einem Zeltbau mit Tieren, einer relativ neuen Form von landwirtschaftlichen Außenposten, die mit ihren Herden große Teile des umliegenden Landes unter ihre Kontrolle bringen möchten, vielerorts auf Kosten der ansässigen palästinensischen Hirt:innen.[1] Oft sind die Siedlungen eingezäunt mit Natodraht und Stacheldrahtzaun, mit Videokameras ausgestattet und durch einen privaten Sicherheitsdienst und die Armee geschützt. Ich stelle mir ein Leben hinter diesen Zäunen vor. Wie fühlt es sich wohl an, dort zu leben?

Mit Gabriel unterhalte ich mich gerade über die Rolle ultraorthodoxer Juden in der israelischen Gesellschaft, als plötzlich Videos und Nachrichten auf den Handys der israelischen Aktivist:innen ankommen. Die Hamas überfällt Israel und dringt in Kibbuzim hinter dem Grenzstreifen zwischen Gaza und Israel ein. Kann das Wirklichkeit sein? Der erste Eindruck der israelischen Begleiter:innen ist, dass es sich hier um „fake news“ handeln muss. Dann ein Video eines ausgebrannten Panzers. Es wird klar, dass dies eine neue Dimension des Konfliktes zwischen Israel und der Hamas ist. Plötzlich ein dumpfes Grollen in der Ferne. Wir sehen die Kondensstreifen von Raketen und auch die Abwehr des Iron Dome.

Mir wird es mulmig. Wir sind nicht in direkter Gefahr im Westjordanland, da bin ich mir sicher, dennoch war ich noch nie so nah dran an einer kriegerischen Auseinandersetzung. Ich schaue auf die Weite vor mir, sehe die Schafe, die entspannt das karge, stachelige Gras kauen. Wir bekommen eine Nachricht von unserem Programm, sofort alle Aktivitäten im Feld abzubrechen und in unsere Unterkünfte zurückzukehren. Auch die israelischen Aktivist:innen wollen zurück, gemeinsam brechen wir auf. Nasser*, der Schafhirte, sitzt beim Gehen entspannt auf einem Stein und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Wir verlassen die Wiesen, den Schafhirten mit seinen Schafen und gehen zurück zur Straße. Ein Armeejeep kommt langsam auf uns zu, vier bewaffnete Soldaten steigen aus. Wir überlassen es den israelischen Aktivist:innen, mit den Soldaten zu sprechen. Die Soldaten fragen nach dem Grund, warum wir hier sind, wer wir sind, wohin wir wollen. Nach kurzer Klärung können wir weiterfahren, zurück nach At-Tuwani.

Die Nachrichten prasseln auf uns ein. Die Situation ist schlimm. Viele Tote auf israelischer Seite. Die israelischen Aktivist:innen werden von Ihren Familien kontaktiert, die sich Sorgen machen. Die Stimmung ist gedrückt. Auch Gabriel ist nachdenklich und hat Kontakt mit seiner Familie in Tel Aviv. Die israelischen Aktivist:innen wollen nach Hause, ihr Bus macht sich startklar.

Auch wir packen unseren Rucksack und rufen unseren Fahrer an. Abschied von Gabriel und den anderen. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt und alles Gute für Ihre Freunde und Familien. Zu dem Zeitpunkt mache ich mir immer noch nicht zu viele Gedanken. Scharmützel zwischen Gaza und Israel gibt es immer wieder. Wie schlimm das Ganze ist, realisiere ich erst 24 Stunden später in vollem Ausmaß.

Aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzung führen wir erst einmal keine Aktivitäten durch, zu angespannt ist die Situation. Das kommt mir ganz entgegen, die letzten Wochen in den South Hebron Hills waren ereignisreich für uns. Wir waren jeden Tag unterwegs. Mit Schulkindern, mit Schafhirt:innen, haben bei Familien übernachtet, haben Tee und Kaffee getrunken. Unglaublich viel Tee. Ich liebe den Schwarztee mit Salbei und sehr viel Zucker, den wir von jeder Familie freundlich angeboten bekommen. Die Gastfreundschaft im Westjordanland ist unglaublich und die Menschen sehr freundlich. In Yatta ist es unmöglich, sich zu bewegen, ohne Hände zu schütteln und kurze Gespräche mit den Menschen zu führen, die sich alle freuen, dass ich hier bin. Das werde ich in Berlin vermissen, denke ich schon seit Wochen.

„Laus, Laus“. Laus ist arabisch für Mandel und Mohammed* nennt mich nur so. Er kommt rüber und zeigt mir die Nachrichten auf seinem Handy. Ich sehe ausgebrannte Panzer, gekaperte Armeejeeps, die zurück nach Gaza unter Jubel fahren, Paraglider, die den Grenzzaun überwinden, entführte Soldat:innen und Zivilist:innen, und viele Tote. Später wird klar, dass dieser Überfall als das schlimmste Ereignis für Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust in die Geschichte eingehen wird. Nach und nach kommen die ersten Bilder von den israelischen Gegenangriffen auf Gaza dazu und es wird deutlich, welchem Leid die Zivilbevölkerung dort nun ebenfalls ausgesetzt sein wird.

Für die nächsten Tage war unser Zwischenseminar in Jerusalem geplant, und wir erhalten die Nachricht, dass das Programm trotz der nun bestehenden kompletten Abriegelung aller Städte und Dörfer im Westjordanland versuchen wird, uns nach Jerusalem zu holen. Ich habe gemischte Gefühle, denn ich kann mir vorstellen, was die neue Situation für die Menschen, die wir in den South Hebron Hills begleitet haben, bedeuten wird. Die Siedlergewalt wird zunehmen. Wir bekommen bereits Nachrichten von unseren Kontakten aus verschiedenen Gemeinden, dass bewaffnete Siedler in die Dörfer kommen und Menschen drangsalieren, wir hören, dass Palästinenser von Siedlern erschossen wurden. Die Situation ist sehr angespannt. Mein Gefühl ist, dass kleinste Dinge jetzt zwischen Leben und Tod entscheiden können. Die israelischen Checkpoints sind geschlossen, alle Straßen blockiert. Mohammed hat Bienen in der Nähe eines israelischen Checkpoints, die unbedingt gefüttert werden müssen. Zu gefährlich. Er meint, das Risiko, erschossen zu werden, ist zu hoch. Das Futter für die Bienen muss warten.

Am nächsten Tag bringt uns ein Taxi nach Jerusalem. Mit unglaublicher Geschwindigkeit fahren wir Richtung Bethlehem, der Fahrer will keine Zeit verlieren. Wir erreichen in Rekordzeit den sogenannten Tunnel-Checkpoint bei Beit Jala/Bethlehem und wechseln dort das Fahrzeug. Palästinenser:innen, auch mit Genehmigung, können das Westjordanland nicht mehr verlassen. Wir steigen in ein Taxi mit israelischem Kennzeichen. Die Stimmung ist ruhig. Wie immer stehen mehrere schwerbewaffnete Soldat:innen am Checkpoint und prüfen unsere Pässe. Wir kommen ohne Probleme durch, nicht mal unser Gepäck wird geprüft. In der jetzigen Situation werden wir uns noch einmal mehr unserer Privilegien bewusst, die wir mit einem internationalen Pass hier genießen.

Beim Seminar in Jerusalem steht Avi* vor uns, mit einem freundlichen Lächeln und fester Stimme. Er ist amerikanischer Jude und lebt seit 30 Jahren in Israel. Jüdische Zivilgesellschaft ist das Thema. Er hat Freunde verloren beim Überfall der Hamas und steht doch vor uns, um mit uns über jüdisches Leben in Israel zu sprechen. Ich bin emotional gerührt. Ich lerne von ihm viel über die Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung in Israel, den Unterscheid der religiösen Gruppierungen und vieles mehr. Ich will noch die Frage stellen, wie sich Avi die Zukunft der Menschen im Heiligen Land, Israelis wie Palästinenser:innen vorstellt, aber der Raketenalarm geht los und wir müssen schnell in den Schutzraum.

Menschen jüdischen, muslimischen und christlichen Glaubens haben in diesem Land hunderte Jahre zusammengelebt. Friedlich. Tür an Tür. Die Weltpolitik und insbesondere die deutsche Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg hat Einfluss auf das Heilige Land genommen. Der Konflikt zwischen den beiden Völkern kommt seit nun mehr als 70 Jahren nicht zur Ruhe und die Spirale der Gewalt dreht sich durch den aktuellen Krieg noch viel schneller und wird sicher kein Baustein in der Lösung des Konfliktes sein. Ich habe in den 5 Wochen meines Einsatzes aber auch Zeichen der Hoffnung gesehen, das Miteinander der israelischen Aktivist:innen und der palästinensischen Hirt:innen in den South Hebron Hills war eines davon. Um eine nachhaltige Lösung des Konflikts zwischen Palästinenser:innen und Israelis zu ermöglichen und die Situation für die Menschen auf beiden Seiten zu verbessern, ist internationales Engagement unerlässlich. Für einen gerechten Frieden!

Israel/Palästina: Ökumenischer Begleiter am 7.10.2023
Ökumenischer Begleiter und israelische Aktivist:innen auf dem Weg zur Begleitung von palästinensischen Schafhirt:innen in den South Hebron Hills. Foto WCC-EAPPI/Klaus

Klaus, im November 2023

*alle Namen geändert

Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.keremnavot.org/thewildwest

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