Von Flaggen und der Vision eines gerechten Friedens

Ein Abend mit Vertretern der Combatants for Peace

Es ist schon dunkel, als wir aus der Straßenbahn aussteigen und über den Römerberg, das alte Zentrum meiner Heimatstadt Frankfurt, zur Evangelischen Akademie gehen. Ich begleite Osama Eliwat und Rotem Levin zu der Abendveranstaltung, auf der beide gleich ihre Geschichte erzählen werden. Als Einheimischer laufe ich achtlos am Römer vorbei – „Römer“, so nennen wir Frankfurter unser Rathaus mit seiner mittelalterlichen Fassade. Osama aber bemerkt sofort die israelische Flagge, die neben der deutschen Fahne, der Fahne der Stadt Frankfurt, der Europa-Fahne und der ukrainischen Fahne an der Fassade gehisst ist und im Winde flattert. Die Stadt Frankfurt, eine Partnerstadt von Tel-Aviv, möchte damit Solidarität zeigen mit den Opfern des Hamas-Massakers vom 07.10.2023 und mit dem Staat Israel. „And where do they have the Palestinian flag? It’s missing!“, bemerkt Osama und schießt leicht amüsiert ein Foto mit seinem Handy.

Der „Römer“, das Frankfurter Rathaus, mit israelischer Flagge; Foto @ Jochen A.
Der „Römer“, das Frankfurter Rathaus, mit israelischer Flagge; Foto @ Jochen A.

Die Evangelische Akademie Frankfurt mit ihrem architektonisch anspruchsvollen Neubau liegt nur einen Steinwurf vom Römer entfernt. Sie ist ein prominenter Ort, an dem die Evangelische Kirche Veranstaltungen zu aktuellen sozialen und kulturellen Themen anbietet. Die beiden Vertreter der „Combatants for Peace“ (CfP)[1], die ich heute begleite, stellen dort sich und ihre NGO vor. Es ist eine Veranstaltung, die von vielen Gruppen und Institutionen getragen wird[2], darunter auch von unserem Netzwerk Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel in Deutschland e.V.

Osama ist ein muslimischer Palästinenser aus Jericho in der Westbank und Rotem ein jüdischer Israeli aus einem kleinen Ort in der Region um Kfar Saba nördlich von Tel-Aviv. Der Name der Organisation, „Kämpfer:innen für den Frieden“, soll anzeigen, dass es sich um ehemalige Feinde handelt, die jetzt gemeinsam mit friedlichen Mitteln für Aussöhnung und Frieden zwischen Israelis und Palästinenser:innen eintreten.

Der Abend beginnt mit der Erzählung ihrer Lebensgeschichten. Rotem (36J) berichtet, wie er in einer jüdisch-israelischen Umgebung groß geworden ist. Begegnungen mit Palästinenser:innen im Sinne einer persönlichen Beziehung konnten nicht zustande kommen. Jedes Kollektiv lebte für sich. Die Selbstmordanschläge von Palästinenser:innen während der Zweiten Intifada machten einen verstörenden, nachhaltigen Eindruck auf ihn als damals neun- oder zehn-jährigem Jungen. Er bewunderte das israelische Militär, dessen Soldat:innen überall Respekt und Achtung genossen. Ein Cousin seiner Mutter wurde während seines Militärdienstes getötet. Rotem berichtet, dass er ihn verehrte wie einen Helden und sich vorstellte, wie er selbst stolz seinen Militärdienst leisten würde. Auch der für Schüler:innen in Israel obligatorische Besuch von Auschwitz verstärkte in ihm den Wunsch, seinen Dienst an der Waffe zu tun, damit sich ein derartiges Grauen nicht wiederholen könne. In diesem Zusammenhang erwähnt er, dass Palästinenser:innen für ihn damals eine tödliche Bedrohung darstellten.

Als er dann eingezogen wurde, landete er in der gleichen Einheit wie jener Cousin, was Rotem mit Stolz erfüllte. Als er einen Teil seines Militärdienstes in der Westbank absolvieren musste, bekam das heroische Bild für ihn jedoch erste Risse. Er musste, so führt er aus, an militärischen Aktionen teilnehmen, die in seinen Augen moralisch fragwürdig waren. Gleichzeitig aber unterbanden seine Kommandeure jeglichen Austausch und Diskussion darüber unter den Mannschaftsgraden. Nach dem Militärdienst nahm er sich erst einmal eine Auszeit von einem Jahr, gewissermaßen, um wieder zu sich zu kommen und das Erlebte zu verarbeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt – er war da schon 23 Jahre alt – war er noch keinem Palästinenser und keiner Palästinenserin persönlich begegnet.

Da lud ihn ein Freund ein, an einem Treffen mit Palästinenser:innen aus der Westbank teilzunehmen. Das Treffen fand in Deutschland statt. Und da, so erzählt Rotem, hörte er zum ersten Mal, wie sich die Situation aus Sicht der Palästinenser:innen darstellte. Sie erzählten von der Naqba (arabisch für Katastrophe), mit der sie die Flucht und Vertreibung von Palästinenser:innen aus mehr als 500 Dörfern während des israelischen Unabhängigkeitskrieges bezeichnen. Naqba, ein Wort, das im jüdisch-israelischen Sprachgebrauch, mit dem Rotem aufgewachsen war, zu diesem Zeitpunkt so gut wie nicht vorkam. Diese Begegnung änderte sein Leben. Er begann sich mehr und mehr mit dieser anderen Seite der palästinensisch- israelischen Geschichte zu beschäftigen, lebte einige Zeit in der Stadt Beit Jala in der Westbank und lernte Arabisch. Seither engagiert er sich in Initiativen der gemeinsamen Friedensbewegung, zu der auch Combatants for Peace gehört.

Osama Eliwat und Rotem Levin zusammen mit Dr. Noss vom Zentrum Oekumene auf dem Podium der Evangelischen Akademie Frankfurt; Foto @ Jochen A.
Osama Eliwat und Rotem Levin zusammen mit Dr. Noss vom Zentrum Oekumene auf dem Podium der Evangelischen Akademie Frankfurt; Foto @ Jochen A.

Osama (46J) erzählt die gleiche Geschichte, die Geschichte einer „transformation from fear to love“, nur eben von der anderen Seite. Als Kind erlebte er, wie sein Vater bei einer nächtlichen Razzia inhaftiert wurde. Das war während der Zeit der Ersten Intifada Ende der 1980er Jahre. Die Soldaten waren die einzigen jüdischen Israelis, die er kannte, und er nahm sie als Feinde wahr, die ihn und seine Familie bedrohten. Er wollte Widerstand leisten. Mit 15 Jahren dann landete er selbst in einem israelischen Gefängnis, weil er eine palästinensische Fahne gehisst hatte, was damals – vor den Oslo-Abkommen – verboten war. Im Gefängnis endete seine Kindheit und er lernte, so beschreibt er es an diesem Abend, wirklich zu hassen.

Dann aber kam eine Phase der Hoffnung auf ein Ende des Konflikts und auf einen eigenen palästinensischen Staat während der Zeit der Oslo-Abkommen. Er wurde freigelassen und sah überall die palästinensischen Fahnen an den Häusern wehen. Aber Rabin wurde 1995 ermordet und die Fronten verhärteten sich wieder. Während der Zweiten Intifada konnte er jüdische Israelis wieder nur als Feinde wahrnehmen. Das änderte sich erst 2010, als er mehr oder weniger zufällig von einem Bekannten mitgenommen wurde zu einer Konferenz mit israelisch-jüdischen Friedensaktivist:innen. Dort traf er zum ersten Mal in seinem Leben auf Jüdinnen und Juden, die seine Lebenssituation unter den Bedingungen der Besatzung verstanden und die ihrerseits für ein Ende des Konflikts eintraten. Das war, so sagt er, sein „turning point“.

Nach der Vorstellung ihrer persönlichen Geschichten beantworten Rotem und Osama geduldig die Fragen des Frankfurter Publikums. Vor allem die aktuelle Situation in der Region bewegt die Anwesenden, das wird aus den Einlassungen deutlich. Viel Sympathie schlägt den beiden entgegen.

Es gibt an diesem Abend auch eine mahnende Stimme aus dem Publikum, die Zustimmung erhält. Ein älterer Herr bemerkt, dass die beiden Vortragenden ihre Rede Wort für Wort genauso vor dem 07.10.2024, dem Tag des Hamas-Massakers, hätten halten können. Er vermisse doch, entgegen aller Beteuerungen des gegenseitigen Respekts und des gegenseitigen Verständnisses für das jeweilige Narrativ des Anderen, eine sensiblere Wortwahl, wenn über Israel geurteilt wird. Stattdessen werde doch wieder nur Israel als Apartheid-System und kolonialistischer Staat gebrandmarkt. Das erzeuge nach dem unsäglichen Massaker bei ihm „unheimlichen Widerwillen“. Und er forderte die beiden Vortragenden auf, doch zu überlegen, ob die demokratiegefährdenden Phänomene auf israelischer Seite nicht doch differenzierter und mit einer weniger ausschließenden Wortwahl bezeichnet werden könnten. Schließlich hätte es das ja doch auch gegeben vor dem 07.10.: Eine unglaublich breite Front der Demonstrationen über einen Zeitraum von fast einem dreiviertel Jahr gegen einen autoritären Umbau des Landes.

Rotem hebt in seiner Antwort hervor, dass weder er noch die Combatants for Peace das Wort Apartheid geprägt hätten, sondern dass sich Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem oder Amnesty International nach eingehender Analyse dazu entschlossen hätten, das israelische Besatzungssystem so zu bezeichnen. Und sie beide würde sich dieser Analyse anschließen. Man müsse die Dinge beim Namen nennen, wolle man sie wirklich verändern. Und Osama ergänzt: „I do not choose Apartheid, I live Apartheid“. Er lädt den älteren Herren aus dem Publikum ein, zu ihm nach Jericho zu kommen, damit er sich selbst ein Bild davon machen kann, unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben.

Nach dem Ende des Abends, als die mehr als 200 Zuhörer:innen herausströmen, begegne ich noch einer Reihe von Bekannten, die sichtlich beeindruckt sind von der Geschichte der beiden Vortragenden und ihrer Botschaft, dass Frieden möglich ist. Was für meine Bekannten gilt, gilt nach meiner Wahrnehmung auch für die große Mehrheit des Saalpublikums: Die Besucher:innen scheinen beeindruckt und – wenn man mir dieses große Wort verzeihen mag – „getröstet“ darüber, dass es angesichts des brutalen Hamas-Massakers und des fürchterlichen Gaza-Krieges noch Menschen und Organisationen gibt, die an der Vision von Versöhnung festhalten und die auch unter den aktuellen Kriegsbedingungen in Israel und Palästina ihre Friedensarbeit fortsetzen.

Auf dem Nachhauseweg denke ich noch einmal an die Flaggen an der Fassade des Römers. Vielleicht wird ja eines Tages – wenn sich die Vision der nach Frieden und Gerechtigkeit dürstenden Menschen in Israel und Palästina erfüllt – meine Heimatstadt auch eine Städtepartnerschaft mit einer palästinensischen Stadt eingehen und Osama kann auf dem Römer die palästinensische neben der israelischen Fahne im Winde flattern sehen.

Jochen, im Januar 2024

Ich habe 2018 am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Ökumenischen Rates der Kirchen oder der am Programm beteiligten Institutionen sind.


[1] Weitergehende Informationen unter https://cfpeace.org/. Einen sehr guten Einblick in die Entstehungsgeschichte und das Anliegen der NGO bietet auch die Dokumentation „Disturbing the Peace“ https://www.disturbingthepeacefilm.com/

[2] https://www.evangelische-akademie.de/kalender/wege-zum-frieden-fuer-israel-und-palaestina/61758/

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