Al Walaja – Ein Jahr im Zeichen der Abrissbagger

Wir fahren nach Al Walaja, einem Dorf in der Westbank, ca. 4 Kilometer nordwestlich von Bethlehem gelegen. In dem Ort leben mehr als 2600 Menschen. Al Walaja ist derzeit besonders stark von Hauszerstörungen durch israelische Behörden betroffen, und an diesem Tag sprechen wir mit den Betroffenen vor Ort.

Als wir ankommen, treffen wir uns mit einem Vertreter des UN OHCHR. Wir stehen an der Stelle, an der eine Woche zuvor ein Haus mit vier Wohnungen abgerissen wurde. Vor uns liegt ein riesiger Trümmerhaufen. Wir werden bereits erwartet.

Ich spreche mit Amal*, die mir ihre Geschichte erzählt. Sie und ihre drei Geschwister hatten gemeinsam das Grundstück ihrer Großmutter geerbt, auf dem sie im März 2023 ein Haus bauten. Ein Jahr später, im März dieses Jahres, konnten sie das Haus beziehen. Es bot Platz für vier Kleinfamilien, hatte einen kleinen Swimmingpool, schöne Blumen im Garten und stilvolle Küchen. Alles war mit Liebe eingerichtet worden, so Amal.

Den Swimmingpool können wir schnell ausmachen, denn die Familie hat diesen mit Stäben versehen und ein Zeltdach errichtet, in dessen Schatten wir nun stehen. Trotz der prekären Situation werden uns Kaffee in kleinen Pappbechern und Wasser gebracht. Die Gastfreundschaft der Menschen ist unerschütterlich, selbst wenn das eigene Haus nicht mehr steht.

Das Haus von Amal und ihren Geschwistern liegt in Trümmer; Foto © WCC-EAPPI/Larissa
Das Haus von Amal und ihren Geschwistern liegt in Trümmer; Foto © WCC-EAPPI/Larissa

Amal erklärt, dass sie Flüchtlinge gewesen seien, und im Lager Shu’fat in Jerusalem gelebt hatten. Insgesamt achtmal seien sie umgezogen, bevor sie das Haus auf ihrem Grundstück bauten. Dieses Haus war Amals Traum, ein Ort, an dem sie sich endlich niederlassen konnte. Und es ist in der Tat ein schöner Ort; das Grundstück liegt etwas abgelegen zwischen zahlreichen Bäumen, mit Blick auf das Tal. Das Haus wurde mit der Rückseite in einen Felsen eingelassen. Es gibt ringsherum keine anderen Gebäude. Ein Platz der Ruhe. Eigentlich.

Die Anordnung zur Zerstörung des Hauses erhielt die Familie laut Amal vor eineinhalb Jahren. Daraufhin wurde ein Rechtsanwalt eingeschaltet. Dieser habe der Familie mitgeteilt, dass die israelischen Behörden eine Frist bis zum 12.08.2024 gesetzt hatten, und ein Abriss vor diesem Datum nicht stattfinden würde. Die israelischen Sicherheitskräfte jedoch kamen vier Wochen vor genannter Frist. Amal berichtet, dass sie der Familie nur 20 Minuten Zeit gaben, ihre persönlichen Dokumente zu sichern, bevor die Bulldozer zum Einsatz kämen. Als man die Sicherheitskräfte auf die Frist des Gerichts aufmerksam machte, habe ein Soldat? gesagt: „Ich bin heute das Gesetz.“

Die Familie steht unter Schock. Zeit, sich mental auf die Zerstörung einzustellen, hatte sie nicht.

Amal erzählt mir von dem Vorgehen der israelischen Behörden. Mit zwei großen und einem kleinen Bulldozer wurde das Gebäude zerstört. Es bildete sich schnell eine Menschenmenge, die das Geschehen beobachtete. Sie selbst schrie. Da habe einer der Soldaten mit der Spitze seines Gewehres eine Linie auf den Boden gezeichnet. Wenn jemand diese Linie überschreitet, wird geschossen, habe er gesagt. Weil sie sich nicht beruhigen konnte, habe einer der Soldaten in die Luft geschossen.

Ich frage sie, warum es Brandspuren an den Trümmern gibt. Sie antwortet, dass auch eine Tränengasgranate zum Einsatz kam, die auf dem Grundstück landete, wo sich ein Feuer entfachte.

Die Familie ist nun obdachlos, die Geschwister sind an verschiedenen Orten vorerst untergekommen. Sie müssen weiterhin die Raten an den Rechtsanwalt zahlen, die Kosten für den Hausbau und nun auch die Abrisskosten tragen. „An diesem Tag bin ich gestorben. Ich weiß nicht weiter.“ sagt Amal mir.

Als Amal und ihre Geschwister am 15. Juli die Zerstörung ihres Hauses miterleben mussten, wurden nach Angaben von UNOCHA in Al Walaja insgesamt fünf Gebäude zerstört, 39 Menschen verloren ihr Zuhause. Der Ort hat 2024 so viele Zerstörungen gesehen, wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNOCHA[1] im Jahr 2009: Bei der Zerstörung von insgesamt 23 Gebäuden verloren 94 Menschen ihr Heim (Stand Mitte August 2024).

Screenshot 14.08.2024 der Daten von UNOCHA zu Hauszerstörungen in Al Walaja in den vergangenen Jahren - https://www.ochaopt.org/data/demolition - Auswahl „Al Walaja“ unter dem Reiter „Community“
Screenshot 14.08.2024 der Daten von UNOCHA zu Hauszerstörungen in Al Walaja in den vergangenen Jahren – https://www.ochaopt.org/data/demolition – Auswahl „Al Walaja“ unter dem Reiter „Community“

Unsere Begegnung mit Amal erinnert uns daran, dass hinter den Schlagzeilen Menschen stehen, deren Träume und Leben durch die Besatzung zerstört werden. Dabei ist Al Walaja kein Einzelfall. Die Lage für die Menschen in der Westbank hat sich im Schatten des Gaza-Krieges drastisch verschlechtert, allgemein, aber auch speziell in Bezug auf Hauszerstörungen. Nachdem die Entwicklung 2023 bereits einen neuen negativen Rekord mit 1.175 zerstörten Objekten im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem darstellte (fast 2.300 Menschen wurden obdachlos)[2], verzeichnete UNOCHA[3] im Zeitraum zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 12. August 2024 1.380 zerstörte palästinensische Objekte, von denen mehr als 500 bewohnte Häuser waren. Infolgedessen wurden über 3.000 Menschen, darunter 1.375 Kinder, obdachlos.

Warum aber werden Häuser und andere Objekte im Westjordanland durch israelische Behörden, insbesondere in Zone C, so häufig abgerissen? Das Oslo Abkommen II, welches am 28.09.1995 unterzeichnet wurde, unterteilt das Westjordanland in die Zonen A, B und C unterschiedlicher Kontrolle in den Bereichen Verwaltung und Sicherheit zwischen der palästinensischen Autonomiebehörde und dem israelischen Militär. Zone C, die etwa 60% des Westjordanlands ausmacht, steht unter vollständiger israelischer ziviler und militärischer Kontrolle. Wenn Palästinenser:innen also ein Grundstück besitzen, das in Area C liegt, benötigen sie eine Baugenehmigung der israelischen Behörden. Diese erhalten sie in den allermeisten Fällen nicht. Zwischen 2016 und 2018 wurden nur 24 von 2.550 eingereichten Anträgen genehmigt[4], was einer Genehmigungsquote von weniger als 1 % entspricht. Doch die palästinensische Bevölkerung wächst, und es gibt einen dringenden Bedarf an zusätzlichem Wohnraum. Angesichts der Schwierigkeiten, Genehmigungen zu erhalten, bleibt vielen Palästinenser:innen keine andere Wahl, als ohne Genehmigung zu bauen. Die Gründe für die Häuserabrisse sind daher überwiegend, dass keine Baugenehmigung vorliegt. In anderen Fällen findet die Zerstörung als Strafmaßnahme oder aus militärischen Gründen zerstört statt.

Wie von einer meiner Vorgänger:innen im Programm schon einmal ausführlich hier[5] beschrieben, ist die Situation in Al Walaja noch einmal komplizierter. Zwar liegt das gesamte Dorf innerhalb der Westbank und wird von der israelischen Sperranlage (die hier völkerrechtswidrig weit innerhalb der Westbank verläuft) nicht nur von israelischem Gebiet, sondern auch von umliegenden landwirtschaftlichen Flächen und benachbarten Siedlungen getrennt. Hinzukommt jedoch, dass etwa ein Drittel des Dorfes direkt nach Beginn der Besatzung 1967 seitens der damaligen israelischen Regierung dem erweiterten Verwaltungsgebiet Jerusalems zugeschlagen wurde. Es ist eine unsichtbare Grenze mitten durch das Dorf, die dazu führt, dass in der einen Hälfte von Al Walaja Baugenehmigungen bei der israelischen Stadtverwaltung von Jerusalem beantragt werden müssen. Und auch diese werden nicht erteilt. Seit Jahren kämpfen die Einwohner:innen von Al Walaja vor Gericht gegen die geplante Zerstörung von 38 weiteren Gebäuden im Dorf.[6] Dabei werden sie von den israelischen NGOs Ir Amim und BIMKOM unterstützt.

Al Walaja ist an drei Seiten von der israelischen Trennbarriere umgeben und von landwirtschaftlichen Flächen abgetrennt. Die völkerrechtswidrigen Siedlungen Har Gilo und Gilo liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Mitten durch Al Walaja verläuft die unsichtbare Verwaltungsgrenze Jerusalems (blau gestrichelt), die 1967 einseitig erklärt wurde. Kartenausschnitt © UNOCHA-OPT Humanitarian Atlas 2019
Al Walaja ist an drei Seiten von der israelischen Trennbarriere umgeben und von landwirtschaftlichen Flächen abgetrennt. Die völkerrechtswidrigen Siedlungen Har Gilo und Gilo liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Mitten durch Al Walaja verläuft die unsichtbare Verwaltungsgrenze Jerusalems (blau gestrichelt), die 1967 einseitig erklärt wurde. Kartenausschnitt © UNOCHA-OPT Humanitarian Atlas 2019

Die Zerstörung von palästinensischen Gebäuden durch israelische Behörden in den besetzten Gebieten verstößt gegen internationales Recht, insbesondere Artikel 53 der Vierten Genfer Konvention. Demnach ist es einer Besatzungsmacht nicht erlaubt, “ […] bewegliche oder unbewegliche Güter zu zerstören, die persönliches oder gemeinschaftliches Eigentum von Privatpersonen, Eigentum des Staates oder öffentlicher Körperschaften, sozialer oder genossenschaftlicher Organisationen sind, außer in Fällen, wo solche Zerstörungen wegen militärischer Operationen unerlässlich werden sollten“.[7]

Lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen werfen der israelischen Regierung vor, dass die Abrisse oft dazu dienen, Platz für israelische Siedlungen zu schaffen, deren Bau ebenfalls einen Verstoß gegen internationales Recht darstellt, und die palästinensische Bevölkerung gegenüber den Siedler:innen systematisch zu diskriminieren. In seinem Rechtsgutachten von Juli 2024 erklärte der Internationale Gerichtshof in Bezug auf Hauszerstörungen und den Mangel an Baugenehmigungen für Palästinenser:innen: „Im Lichte des Vorstehenden ist der Gerichtshof der Auffassung, dass Israels Planungspolitik in Bezug auf die Erteilung von Baugenehmigungen und insbesondere seine Praxis des Abrisses von Gebäuden mangels Baugenehmigung, die Palästinenser ohne Begründung anders als Siedler behandelt, einer verbotenen Diskriminierung gleichkommt und Artikel 2 Absatz 1 und 26 des IPBPR, Artikel 2 Absatz 2 des IPBPR und Artikel 2 der CERD verletzt.“[8] (Übersetzung der Autorin)

„Vielleicht werden wir das Haus und den Garten wieder neu aufbauen.“ Amal, Al-Walaja; Foto © WCC-EAPPI/Larissa
„Vielleicht werden wir das Haus und den Garten wieder neu aufbauen.“ Amal, Al-Walaja; Foto © WCC-EAPPI/Larissa

Trotz der anhaltenden Herausforderungen und der tiefen Verzweiflung, die viele Menschen in Al Walaja erleben, bleibt die Hoffnung bestehen, dass eines Tages Gerechtigkeit und Frieden Einzug halten werden. „Vielleicht werden wir das Haus und den Garten wieder neu bauen.“, sagt Amal mir. Der ungebrochene Wille der Betroffenen zeigt, dass selbst in den dunkelsten Zeiten die Menschlichkeit und der Glaube an eine bessere Zukunft nicht vollständig erloschen sind.

Larissa, im August 2024

*Name geändert

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.ochaopt.org/data/demolition

[2] ebenda

[3] https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-204-west-bank  

[4] https://peacenow.org.il/en/the-civil-administration-acknowledges-extreme-discrimination-in-building-permits-and-law-enforcement-between-palestinians-and-settlers

[5] https://www.eappi-netzwerk.de/sumud/

[6] https://www.ir-amim.org.il/en/node/2861

[7] https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1951/300_302_297/de

[8] https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/186/186-20240719-adv-01-00-en.pdf Seite 64

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