Die Karten lügen nicht – der Fall Wadi Fukin

Jedes Dorf, jede Gemeinde im Westjordanland erzählt uns eine Geschichte von Konflikt und Vertreibung, andauernder Landenteignung und Verdrängung. Wadi Fukin ist kein Einzelfall; das Schicksal dieses Dorfs und seiner Bewohner:innen zeigt exemplarisch, was im Westjordanland geschieht.

Wadi Fukin ist ein idyllisch gelegenes kleines Dorf, das einem Bachlauf (Wadi) folgt und weniger als 10 Kilometer von Bethlehem entfernt ist. Besiedelt war dieses fruchtbare Tal schon lange; es gibt Fundstätten aus römischer und byzantinischer Zeit, ebenso die Grundmauern einer Kirche, die im 5.Jh. gebaut wurde.

Dank der 11 Quellen, die sich auf dem Gebiet des Dorfes befinden, waren die Dorfbewohner:innen überwiegend Bauern. Es gab Orangen-, Zitronen- und Olivenhaine, Gemüse in bewässerten Gärten sowie Getreideanbau und Weideland auf den Hängen der Hügel, die zu Wadi Fukin gehörten. Erhebungen von der Zeit vor 1945 zeigen, dass den Bewohnern:innen von Wadi Fukin etwa 1.200 Hektar Land gehörten, davon etwa ein Viertel bewässertes Farmland, das restliche Land teilten sich Getreidefelder und Weideland.[1]

Im Vordergrund das Farmland von Wadi Fukin, im Hintergrund die völkerrechtswidrige Siedlung Beitar Illit© WCC-EAPPI/Sabina
Im Vordergrund das Farmland von Wadi Fukin, im Hintergrund die völkerrechtswidrige Siedlung Beitar Illit© WCC-EAPPI/Sabina

Wir treffen einen älteren Einwohner von Wadi Fukin und seine Familie in ihrem kleinen Garten am Rand des Dorfes im C-Gebiet. Auf einem offenen Feuer wird arabischer Kaffee zubereitet. Dazu gibt es taufrisches Obst und Gemüse aus dem Garten. Danach beginnt die Familie zu erzählen.

„Unsere Großmutter lebte in Wadi Fukin, wie ihre Eltern und Großeltern vor ihr. Als der Krieg 1948 nach der Staatsgründung Israels ausbrach, wurden alle aus dem Dorf vertrieben. Großmutter flüchtete zusammen mit anderen Dorfbewohner:innen nach Bethlehem. Dort, im Flüchtlingscamp Dheisha, lernte sie unseren Großvater kennen, der aus Haifa geflüchtet war. Andere Dorfbewohner:innen retteten sich nach Jordanien. Als sie 1949 zurückkehren durften, fanden sie nur noch Ruinen vor. Die vereinbarte Waffenstillstandslinie (Grüne Linie) verlief nun durch das Land von Wadi Fukin und schlug etwa zwei Drittel des Landes dem Staatsgebiet Israels zu.“

„Unsere Großeltern bauten neue Häuser auf den Ruinen. Aber während des Sechs-Tage-Krieges 1967 wurden alle Bewohner:innen Wadi Fukins wieder vertrieben und erhielten erst 1972 die Erlaubnis, in ihr Dorf zurückzukehren. Das Dorf war zum zweiten Mal zerstört. Die Bewohner:innen erhielten die Auflage, alle Gebäude innerhalb eines Monats wieder aufzubauen. In diesem Monat entstanden die Schule, eine Zufahrtsstraße und Wasserleitungen – aber weitere Hektar Farmland Wadi Fukins waren 1967 enteignet und zum Staatsland Israels deklariert worden.“

Entlang der Grünen Linie, die das Westjordanland von Israel trennt, wurde ein mehrere Meter hoher Zaun aus NATO-Stacheldraht errichtet. Dieser ist Teil der Zäune und Mauern der israelischen Trennbarriere. Wadi Fukin ist von der Errichtung dieser Sperren doppelt betroffen: Einerseits trennt die Sperranlage nach ihrer Fertigstellung den gesamten Gush Etzion Siedlungsblock mitsamt der sich dort befindenden palästinensischen Dörfer von der Westbank ab. Wadi Fukin liegt ganz im Westen dieses Gebiets. Zudem verläuft auch im Nordwesten Wadi Fukins die Trennbarriere nicht auf der Grünen Linie, sondern innerhalb der Westbank, nahe an dem palästinensischen Ort, und konfisziert so weitere Hektar Land.

Eine Karte von UNOCHA-OPT aus dem Jahr 2014 zeigt den Umfang der damaligen Staatslanderklärung, den Verlauf der Trennbarriere nahe am Dorf Wadi Fukin und die Siedlungen des geplanten, von der Trennbarriere umschlossenen Gush Etzion Blocks, u.a. Beitar Illit; © UNOCHA-OPT
Eine Karte von UNOCHA-OPT aus dem Jahr 2014 zeigt den Umfang der damaligen Staatslanderklärung, den Verlauf der Trennbarriere nahe am Dorf Wadi Fukin und die Siedlungen des geplanten, von der Trennbarriere umschlossenen Gush Etzion Blocks, u.a. Beitar Illit; © UNOCHA-OPT

Auf der israelischen Seite, direkt hinter Zaun und Mauer auf dem ehemaligen Land Wadi Fukins, entstand die Kleinstadt Tsur Hadassa, die stetig wächst, auch in Richtung Wadi Fukin. „Das Weideland unterhalb von Tsur Hadassa ist für Wadi Fukin bereits nicht mehr nutzbar“, erzählen unsere Gastgeber, „israelische Sicherheitskräfte vertreiben die palästinensischen Schafhirten und ihre Tiere immer wieder aus diesem Gebiet.“

Auf der östlichen Seite Wadi Fukins liegt die völkerrechtswidrige israelische Siedlung Beitar Illit. Der Bau von Beitar Illit begann 1985, wie in so vielen Fällen zunächst als Außenposten. Wir hören von Gemeindevertretern in der Gegend, dass dafür Farmland der palästinensischen Gemeinden Husan und Nahalin konfisziert wurde. Inzwischen ist Beitar Illit zu einer der größten Siedlungen auf palästinensischem Gebiet angewachsen. Es ist nun eine Stadt mit mehr als 64.000 Einwohner:innen[2] und das Wachstum geht weiter voran.

Karten wie die des Recherchekollektivs Bellingcat[3] zeigen das Schema, nach dem Beitar Illit und generell die Siedlungen im Westjordanland errichtet werden. Ausgehend von einem Nukleus, der meist auf einer Hügelkuppe liegt, entstehen Schicht um Schicht weitere Reihen von Häusern. Manchmal liegen dazwischen noch palästinensische Felder und Pflanzungen, wenn deren Besitzer:innen erfolgreich ihren Rechtsanspruch auf das Land belegen konnten. Nicht selten befinden sich diese Ländereien aber in der „Sicherheitszone“ der Siedlung und sind damit für ihre Besitzer:innen nur noch mit einem speziellen Passierschein oder gar nicht mehr zugänglich. Nach derselben Strategie wird auch bei neuen Außenposten vorgegangen: einem kleinen Kern folgen weitere Schichten, bis die Nähe zu einem weiteren Außenposten oder einer Siedlung erreicht ist. Durch zusätzliche Sicherheitszonen, Verbote und gewaltsame Übergriffe wird der Zugang zu den letzten dazwischen liegenden Hektar Farmland für Palästinenser:innen erschwert oder unmöglich gemacht und der Weg geebnet für die weitere Expansion der Siedlung. Hinzu kommt die israelische Deklaration palästinensischer Flächen zu Staatsland. Im Fall von Wadi Fukin (siehe Karte UNOCHA oben) erfolgte einer der großen Staatslanddeklarationen 2014[4]. „Staatsland“ im Westjordanland wird fast ausschließlich für den Ausbau der Siedlungen genutzt[5]. Laut PeaceNow war 2014 das Jahr, in dem die meisten Neubauten in Beitar Illit starteten[6].

Eine Erweiterung von Beitar Illit wird oberhalb von Wadi Fukin gebaut; Foto © WCC-EAPPI/Sabina
Eine Erweiterung von Beitar Illit wird oberhalb von Wadi Fukin gebaut; Foto © WCC-EAPPI/Sabina

Die Entwicklungen und Planungen zeigen, dass Wadi Fukin durch Beitar Illit auf der einen und die Ausweitung von Tsur Hadassah über die Grüne Linie auf der anderen Seite in die bebauten Bereiche zurückgedrängt und mehr und mehr vom restlichen Westjordanland abgeschnitten wird.

Jede Stadt braucht Infrastruktur. Straßen, Wasser, Elektrizität, Krankenhäuser, Schulen – all dies wird im Fall der Siedlungen finanziert durch die israelische Regierung, ausländische Geber und Investoren. So sieht zum Beispiel der aktuelle israelische Haushaltsplan[7] umgerechnet 941 Mio. US-Dollar für den Bau und Ausbau von Straßen im Westjordanland vor, die die Siedlungen untereinander sowie mit den Verkehrsadern und Knotenpunkten in Israel verbinden. Eine dieser geplanten Straßen ist die Gvaot Beitar Illit Road oder Road 840, die direkt am südlichen Ortsrand von Wadi Fukin verlaufen soll[8]. Für den Bau der Straße und für die breiten Sicherheitsstreifen seitlich der Straße ist weiteres Farmland Wadi Fukins vorgesehen, so berichten uns die Menschen vor Ort.

Wir fragen die Familie, mit der wir im Schatten ihrer Olivenbäume gemeinsam Kaffee trinken, wie sie die Zukunft Wadi Fukins sehen und welche Pläne und Hoffnungen sie für sich selbst haben. Sie sind sich einig, dass die Entwicklungen der letzten Monate seit dem 7. Oktober 2023 kaum noch Raum für Hoffnung zulassen. Der Vater erzählt uns: „Das Dorf war für fast einen Monat von der Außenwelt abgeschnitten. Die beiden einzigen Straßen nach Wadi Fukin führen durch vom israelischen Militär kontrollierte Checkpoints, die geschlossen wurden.“ „Wir konnten nicht zur Arbeit und zur Uni gehen,“ ergänzen die drei Töchter. „Wir arbeiten in Ramallah und in Hebron, und unser jüngerer Bruder studiert an der Universität in Bethlehem. Bald wird es eine neue Straße geben; Israel hat schon mit dem Bau angefangen. Aber die Straße wird direkt durch die Siedlung führen; die Siedler:innen und die Soldaten werden sie kontrollieren.“ Die Sorge, dass die Zufahrt zum Dorf in Zukunft noch schwieriger oder gar unmöglich sein wird, hören wir deutlich.

Während Beitar Illit und andere Siedlungen im Westjordanland mit Hochdruck ausgebaut werden, fehlt Wadi Fukin jede Entwicklungsmöglichkeit. Die Familie berichtet uns, dass der Ort ungefähr 1.500 Einwohner:innen hat, davon etwa 350 Schüler und Schülerinnen, die die lokale Grund- und Oberschule besuchen. Neue Wohnungen und – vor allem – eine Erweiterung der Schule sind dringend notwendig. Aber da die israelische Verwaltung so gut wie keine Baugenehmigungen für palästinensische Bauvorhaben im gesamten C-Gebiet erteilt[9], zu dem der Großteil des verbliebenen, noch nicht bebauten Landes von Wadi Fukin gehört, werden dies wohl Träume bleiben. Die Familie berichtet weiter: „Dazu kommt, dass in der letzten Zeit immer mehr Gebäude im C-Gebiet „Demolition Orders“ erhalten, Abrissverfügungen. In den letzten Monaten wurden zwei Häuser und ein kleiner Betrieb von den israelischen Sicherheitskräften abgerissen; ein weiterer Betrieb, ein Kinderspielplatz, ein Sportplatz und mehrere Anbauflächen haben auch „Demolition Orders“ bekommen.“

Ein Ausschnitt der Interactive Map von UNOCHA-OPT zeigt das Dorf Wadi Fukin zwischen der israelischen Kleinstadt Tsur Hadassa, der Trennbarriere (dünne graue Linie neben der gestrichelten Grünen Linie) und der Siedlung Beitar Illit; © UNOCHA-OPT https://www.ochaopt.org/maps
Ein Ausschnitt der Interactive Map von UNOCHA-OPT zeigt das Dorf Wadi Fukin zwischen der israelischen Kleinstadt Tsur Hadassa, der Trennbarriere (dünne graue Linie neben der gestrichelten Grünen Linie) und der Siedlung Beitar Illit; © UNOCHA-OPT https://www.ochaopt.org/maps

Jetzt wendet sich der Onkel an uns: „Aber es ist noch viel schlimmer. Viele Männer haben in Israel gearbeitet, und seit dem 7. Oktober dürfen wir nicht mehr dorthin; wir bekommen keine Erlaubnis mehr. In Palästina gibt es keine Arbeit. Viele von uns haben versucht, selbst Obst und Gemüse anzubauen auf dem bisschen Land, das uns nicht weggenommen wurde, aber es gibt nicht genug Wasser. Von den 11 Quellen auf unserem Land führen sieben wegen des Baus der Siedlungen kein Wasser mehr. Aber die Siedler:innen kommen oft nach Wadi Fukin und lassen ihre Kinder in den Pools des Bewässerungssystems baden! Sie werden dabei von bewaffneten Soldaten begleitet, die sie schützen sollen. Unsere Schafhirten werden von Siedler:innen und Soldaten von den Weideflächen vertrieben; und jeden Tag haben wir Flugdrohnen im Dorf, die alles beobachten was geschieht und sogar einzelne Personen verfolgen.“ 

Es gibt bereits Bestrebungen seitens der aktuellen israelischen Regierung, mehr Kontrolle über die unter palästinensischer Zivilverwaltung stehenden B-Gebiete der Westbank zu übernehmen[10]. Die Menschen in Wadi Fukin fürchten dadurch noch einmal mehr um ihre Häuser und ihr gesamtes Dorf. Die Bestrebungen des israelischen Finanzministers Bezalel Smotrich bezüglich einer Annexion des Westjordanlands[11] fachen die Angst der Familien zusätzlich an. Angst vor einer erneuten Vertreibung, Angst davor, die Heimat wieder zu verlieren, dieses Mal vielleicht für immer.

Die völkerrechtliche Einschätzung der israelischen Siedlungspolitik, die auch von der deutschen Bundesregierung geteilt wird[12], sagt dazu Folgendes: Es handelt sich um „die Ansiedlung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung der Besatzungsmacht in besetzten Gebieten, welche nach Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV verboten ist. Die Vereinten Nationen haben die Siedlungspolitik der israelischen Regierungen in diesem Zusammenhang kontinuierlich und über die Jahrzehnte hinweg zunehmend deutlicher als Völkerrechtsverstoß und Hindernis für einen Friedensprozess im Nahen Osten verurteilt.“[13]

Sabina, im August 2024

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1]  Government of Palestine, Department of Statistics. Village Statistics, April, 1945. Quoted in Hadawi, 1970, p. 58, 104, 154

[2] https://peacenow.org.il/en/settlements/settlement22-en

[3] https://www.bellingcat.com/resources/2024/05/17/how-to-use-free-satellite-imagery-to-monitor-the-expansion-of-west-bank-settlements/; der Artikel zur Nachverfolgung von Siedlungsexpansion nutzt Kartenmaterial zu Beitar Illit als Beispiel

[4] https://www.ochaopt.org/content/large-area-bethlehem-declared-state-land

[5] https://peacenow.org.il/en/state-land-allocation-west-bank-israelis

[6] Grafik “Construction starts by year” unter https://peacenow.org.il/en/settlements/settlement22-en

[7] https://www.timesofisrael.com/budget-dedicates-billions-for-west-bank-roads-settlements-and-illegal-outposts/

[8] https://peacenow.org.il/en/the-roads-boom-in-2020 Die Straße ist Nr. 12 auf der Karte

[9] https://peacenow.org.il/en/the-civil-administration-acknowledges-extreme-discrimination-in-building-permits-and-law-enforcement-between-palestinians-and-settlers

[10] https://peacenow.org.il/en/israeli-government-assumes-authorities-of-the-palestinian-authority-in-area-b

[11] https://peacenow.org.il/en/the-annexation-agenda-of-the-israeli-government

[12] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2666852

[13] Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, WD 2 – 3000 – 026/17 https://www.bundestag.de/resource/blob/515092/aeb99cfc8cadd52da68d65b50a725dec/WD-2-026-17-pdf-data.pdf

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