„You are here 250 meter under sea leavel and in the oldest city in the world“ erzählen die Verkäufer in den kleinen Shops in Jericho gerne. Sie vermuten, dass wir Touristen sind. In der aktuell angespannten Situation wären wir die einzigen, die sich derzeit in die Stadt verirren, deren arabischer Name Ariha sich von einem Mondgott ableitet und in der sich die Tagestemperaturen in diesen Sommermonaten um die 40 Grad eingependelt haben.
Jericho liegt seit der Aufteilung des Westjordanlands im Rahmen der Oslo-Verhandlungen im sogenannten A-Gebiet. Theoretisch sind dies die wenigen Gebiete vollständiger palästinensischer Autonomie, aber auch hier sehen wir – wenn auch selten – israelisches Militär. Am Stadtrand jedoch beginnen die C-Gebiete, die unter vollständiger israelischer Kontrolle stehen. Der Großteil unserer Begleitung findet in den C-Gebieten statt: Wir besuchen Hirten- und Beduinenfamilien, dokumentieren Hauszerstörungen und sprechen mit den Menschen in Gemeinden, die von Siedlergewalt betroffen sind.
Täglich besuchen wir vor allem Beduinenfamilien, die im Jordantal oder in einem Seitental zwischen den Hügeln mit ihren Schaf-, Ziegen- oder Kuhherden leben. Die meisten Familien sind seit der Vertreibung 1948 aus dem Negev hier. Der Weidewechsel in höhere Regionen im Sommer gehörte seither immer zu ihrem traditionellen Lebensstil. Nur dort haben die Tiere die Möglichkeit, genügend Futter und Wasser zu finden. Mittlerweile ist der Umzug in höhere Lagen aber unmöglich. Die Erfahrung der letzten Monate und Jahre hat gezeigt, wie groß die Gefahr ist, dass sich Siedler:innen Land und Weideflächen aneignen und die palästinensischen Familien ihr Zuhause verlieren könnten. Allein seit dem 7. Oktober 2023 sind nach Angaben der israelischen NGO PeaceNow 25 neue Siedlungsaußenposten im Westjordanland entstanden[1]. Gleichzeitig wurden 18 palästinensische Gemeinden vollständig vertrieben, aus weiteren Dörfern sind einzelne Familien aufgrund der unhaltbaren Zustände und ständigen Bedrohungen durch Siedler:innen weggezogen[2]. Strategie der aktuellen rechten Regierung in Israel ist es, das Westjordanland, biblisch Judäa und Samaria, wieder ganz zu besiedeln und die Palästinenser:innen in Enklaven zu drängen. Dadurch soll eine Zwei-Staaten-Lösung verhindert werden.[3]
Die massive Zunahme der Siedlergewalt, von denen uns die Menschen hier berichten, dokumentiert u.a. UNOCHA: Im aktuellen Situationsbericht zur Lage im Westjordanland[4] ist zu lesen, dass zwischen 7.10.2023 und 5.8.2024 1.143 Übergriffe von Siedler:innen auf Palästinenser:innen und ihr Eigentum dokumentiert wurde. Attacken durch Siedler:innen finden fast täglich in den Gemeinden im Jordantal statt, die wir besuchen. Wir sitzen mit den Familien im Zelt oder unter einem Baum im Schatten und hören zu. „Gestern kamen Siedler mit Security (bewaffnet) und stahlen Acker- Werkzeuge aus einem Zelt. Drohnen werden fast täglich geschickt, um uns zu überwachen. Wir können nichts tun, denn sie sind bewaffnet, und die israelischen Sicherheitskräfte und Polizei sind immer auf ihrer Seite“. „Die Kinder schlafen meist mit Schuhen an den Füßen, sie haben Angst, wenn sie nachts Hundgebell hören und befürchten, dass Siedler kommen. Aber wir beruhigen sie, sie sollen keine Angst haben.“ erzählt Mahmoud* im Schatten des Neembaumes. Auch Wasser ist in diesen Tagen ein umkämpftes Gut. Uns wird berichtet, dass Siedler:innen Wasserzugänge versperren und Wadis blockieren. Beduinenfamilien müssen auch oft an spontanen Sperren, die von den israelischen Sicherheitskräften eingerichtet wurden, warten, um zur Wasserstelle oder zurück zu gelangen. Wie lange können die Menschen das durchhalten? fragen wir uns.
Vor einigen Tagen wurden wir mit dem Team nach Al Jiftlik gerufen, ein Hausabriss wurde uns mitgeteilt. Als wir ankommen, sind viele Leute des Ortes versammelt, am betroffenen Haus stehen ein Bulldozer und zwei Armeefahrzeuge mit schwer bewaffneten Soldat:innen, die alles mit ihren Helmkameras filmen. Wir sehen noch das Gebäude mit zwei Wassertanks auf dem Dach, ein Zuhause für eine Familie mit sieben Kindern, die nach Aussagen der Leute vor Ort etwa 30 Minuten Zeit hatten, um ihr Hab und Gut nach draußen zu bringen. Sie müssen leidvoll mit ansehen, wie der Bulldozer mit aller Wucht auf die Deckenplatte schlägt, die Mauern stürzen ein. Etwa 50 Einheimische sehen zu, wie eine Mauer nach der anderen zerstört wird. Dann drischt der Bulldozer auch auf die Wassertanks ein, alles ist zerstört. Die Stromleitung wird abgebrochen, und zum Schluss die Bodenplatte mit einigen Stößen aufgerissen, um sicherzustellen, dass diese nicht mehr benutzt werden kann für einen Wiederaufbau.
Es ist für uns im Team das erste Mal, dass wir Zeugen einer solch massiven Zerstörung sind. Ein Gefühl der Ohnmacht macht sich breit. Der Vorsitzende des Dorfrates erzählt uns, dass sie versuchen werden, eine Unterkunft für die Familie zu finden. Paradoxerweise wird mitten in der Tragödie traditionell Kaffee gereicht. Und es wird aufgerufen, der Familie zu helfen. Leere Zuckersäcke werden gesammelt, um ihnen ein provisorisches Dach über dem Kopf zu geben. Nach ein paar Tagen hören wir, dass die Familie bei Verwandten wohnt, wenn auch sehr beengt.
Al Jiftlik – das bedeutet in der türkische Wortherkunft so viel wie Grundbesitz. Vermutlich wurde dieses Gebiet schon unter osmanischer Herrschaft als geeignet für den landwirtschaftlichen Obst- und Gemüseanbau gesehen. Nach den Oslo-2 Vereinbarungen von 1995 zwischen Israel und der PLO wurde dieses Land als C-Gebiet ausgewiesen. Über einen Zeitraum von 5 Jahren sollte diese Interimsvereinbarung gelten. Heute, fast 30 Jahre später, greift die Aufteilung des Westjordanlands noch immer. Im März und Juni 2024 wurden über 20.000 Dunum (2.000 Hektar) Fläche südlich von Al Jiftlik zu israelischem Staatsland erklärt, um den Ausbau der dortigen völkerrechtswidrigen Siedlungen voranzubringen[5]. Internationales Recht verbietet sowohl die Ansiedlung der eigenen Bevölkerung einer Besatzungsmacht in besetztem Gebiet als auch die Aneignung eben dieses Gebietes.
Wie überall in den C-Gebieten erhält niemand in Al Jiftlik eine Genehmigung zum Bau eines Hauses, viele Gebäude haben eine sogenannte „demolition order“ – eine Zerstörungsandrohung. Die Familien bauen dennoch weiterhin auf ihrem Land, da es auch anderweitig keine Alternativen für sie gibt. Nebenan liegen die Siedlungen, die immer wieder erweitert werden. Einige Siedler:innen, so wird uns erzählt, belästigen fast täglich die Menschen von Al Jiftlik, schicken regelmäßig Drohnen, kommen ins Dorf, wenn die Bewohner:innen schlafen und stiften Unruhe. Sie wissen die israelische Armee und die Polizei auf ihrer Seite, so auch die Haltung der Menschen in Al Jiftlik.
Mitten in Leid und Verzweiflung begegnete uns ausgerechnet in Al Jiftlik ein bemerkenswerter Akt des gewaltfreien Widerstands. Wir werden von Raed* eingeladen, seine „Organic Farm“ am Ortsrand von Al Jiftlik zu besuchen. Eine Biofarm, hier? Wir sagen gerne zu und finden die Farm im Tal, etwas außerhalb des Ortes.
Sein Vater Omar* kommt dazu und serviert Kaffee. Er freut sich über unser Interesse und zeigt uns voller Stolz seine acht Jahre alten Dattelpalmen, die er nach Permakulturprinzipien so gepflanzt hat, dass sie rundum mit Sonne versorgt sind und genügend Platz haben.
Die Bewässerung erfolgt über ein durchdachtes System. Das Wasser dazu stammt aus dem Fischteich nebenan, ist also gesättigt mit genügend Düngematerial. Auch der Schafmist gehört zu den natürlichen Düngemitteln bei Omar. Jede Palme ist mit einem Sensor ausgestattet, so kann er über eine App verfolgen, wie der Zustand seiner Bäume ist. Sehr professionell, überraschend für uns. Dann zeigt er uns den großen Fischteich und das pflanzliche Fischfutter, das er nebenan im Wasser heranzieht. Genial! „Woher hast du all das Wissen?“ fragen wir.
Omar erzählt uns, dass er einen Permakulturkurs beim lokalen Ableger des CVJM/YMCA in Jericho absolviert hat. Er zeigt uns das Foto, auf dem er mit dem Zertifikat zu sehen ist. Er ist etwa Mitte fünfzig und möchte jeden Tag dazulernen, wie er den Anbau verbessern kann.
Neben den Dattelpalmen hat er männliche und weibliche Avocadostauden, die Früchte tragen und die er uns voller Stolz zeigt, Moringapflanzen, Biobananen, Maulbeerbäume, Gemüseanbau und Trauben. Alles gedeiht ohne Pestizide. Mit Kräutermixturen etwa aus Salbei oder Zatar kann er schädliche Insekten von den Datteln fernhalten. Seine Erzeugnisse bringt er zu einem speziellen Großmarkt, der diese vor allem ins Ausland als Bioware exportiert.
Es ist ein kleines Paradies inmitten der Bedrängnis. Natürlich gibt es aber auch hier immer wieder Probleme. Das Wasser kommt von einem Brunnen, der nicht selten salziges Wasser bringt. Die palästinensischen Brunnen im Jordantal leiden unter der starken Wasserentnahme der Siedlungen mit ihren weitläufigen Dattelplantagen. Die Siedlungen graben sprichwörtlich die palästinensischen Bäuer:innen das Wasser ab. Zudem darf die Familie auf ihrem Land kein Gebäude bauen, was Omar sehr gerne machen würde. Sein Traum wäre ein ökologisches Gästehaus für Menschen, die Palästina besuchen und eventuell freiwillig auf der Farm mitarbeiten wollen. „Ich möchte zeigen, wie schön Palästina ist und ich hoffe, wir können hier auch weiterhin unser Land bebauen, aber wir wissen nicht, was kommt“ sagt er und fügt hinzu: „Sie (die Siedler:innen) wollen alles hier beanspruchen, doch wir geben nicht auf.“
Aufgrund der nicht zu bekommenden Baugenehmigung wohnt die Familie nicht auf der Farm. Ihr Haus steht am Rande der Ortschaft schon sehr lange, dort lebt Omar mit seiner Frau und den Kindern. Wir bieten unsere Mithilfe bei der Dattelernte an, er lacht: „Möchtest du auf dem Fahrzeug sitzen und die Dattelsäcke abnehmen?“ Er lädt uns ein, in ein paar Wochen wiederzukommen, wenn die Datteln reif sind und freut sich über unser großes Interesse.
„Ma Salame“ verabschieden wir uns, die Begegnung war ein kleiner Lichtblick in dieser sonst so trostlosen Zeit.
Maria, im August 2024
*Namen geändert
Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] https://peacenow.org.il/en/while-we-were-at-war-the-governments-annexation-revolution-in-the-west-bank-since-october-7th
[2]https://www.btselem.org/settler_violence/20231019_forcible_transfer_of_isolated_communities_and_families_in_area_c_under_the_cover_of_gaza_fighting
[3] https://peacenow.org.il/en/the-annexation-agenda-of-the-israeli-government
[4] https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-201-west-bank
[5] https://peacenow.org.il/en/state-land-declaration-12000-dunams