Der Schweiß läuft mir übers Gesicht, während ich mich den Hügel hinaufquäle. Der Schatten der Bäume auf dem schmalen Pfad ist in der 30-Grad-Abendhitze willkommen. Die Bäume lichten sich, und der Blick öffnet sich auf terrassierte Weinberge, in denen sich die staubigen Farben des Sonnenuntergangs zu zeigen beginnen.
Ich stehe am Rand des Cremisan-Tals nordwestlich der Stadt Bethlehem. Wie jeden Freitagabend trifft sich hier der lokale Zweig der Laufgruppe Right to Movement. Die Gruppe wurde 2012 ins Leben gerufen, als Yasin Sharabati und George Zeidan zusammen mit Kontakten in Dänemark beschlossen, den ersten Bethlehem-Marathon zu organisieren. Das Recht auf Bewegung bezieht sich direkt auf Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der das „Recht auf Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit innerhalb der Grenzen eines jeden Staates“ festlegt. Auf der Facebook-Seite des Ramallah-Zweigs der Gruppe ist eine Art Manifest zu finden: Wir rufen Läufer:innen aller Leistungsstufen auf. Wir laufen, um unser Recht auf Bewegung zu bekunden. Wir laufen für diejenigen – und mit denen – denen dieses Recht verwehrt ist. Wir laufen, um Geschichten aus neuen Ecken der Welt zu erzählen. Wir laufen, um kulturelle Brücken statt Mauern zu bauen. Wir laufen, um euch zu inspirieren, dasselbe zu tun. Wir wollen uns bewegen. Bewegt Euch mit uns.
Doch die Besatzung schränkt die Bewegungsfreiheit der Menschen in Palästina stark ein. Bethlehem bzw. das Westjordanland in Richtung Jerusalem zu verlassen, ist nur mit einer Sondergenehmigung möglich, und auch dann nur zu bestimmten Zeiten. Innerhalb des Westjordanlandes können Checkpoints und andere Straßensperren eine Reise unerwartet verzögern oder unmöglich machen. Als wir zum Beispiel vor einigen Tagen im Dorf Al Khader nahe Bethlehem waren, wurde uns berichtet, dass den Dorfbewohnern nur eine Straße geblieben ist, um das Dorf zu verlassen oder zu betreten, was zu Verkehrschaos und Umwegen führt. Auch ist es schier unmöglich, Grünflächen für Laufaktivitäten zu finden. So ist Cremisan einer der wenigen verbliebenen grünen Orte in und um die Stadt Bethlehem. Freie Flächen werden dringend für den Wohnungsbau benötigt und entsprechend genutzt, da palästinensisches Bauen aufgrund der besatzungsbedingten Einschränkungen auf wenige Gebiete innerhalb der Westbank reduziert ist. Durch den Siedlungsbau ist auch das Cremisantal bereits beträchtlich betroffen: Von zwei Seiten wird das Tal heute begrenzt von den völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen Gilo und Har Gilo.
Die Organisator:innen wollten all diese Einschränkung mit der Marathonstrecke hervorheben – eine 10,5 Kilometer lange Schleife entlang der mit Graffiti versehenen Trennmauer und durch die Flüchtlingslager Aida und Duheisha. Die Läufer:innen müssen vier Runden absolvieren, um die volle Marathonstrecke zu schaffen.
Der Bethlehem-Marathon wurde dieses Jahr abgesagt. Der andauernde Krieg im Gazastreifen hat zu weiteren Einschränkungen der Bewegungsfreiheit geführt. Seit Oktober wurden viele Arbeitsgenehmigungen annulliert, was bedeutet, dass Menschen, die zuvor in Jerusalem oder Israel arbeiteten, ihre Stellen verloren haben. Und natürlich sind Tourist:innen und Besucher:innen nicht in der Lage oder willens, zu reisen. Aber darüber hinaus erschien es den Organisator:innen nicht richtig, das bisschen Freiheit zu feiern, das die Palästinenser:innen im Westjordanland haben, während den Menschen in Gaza jedes Menschenrecht verwehrt wird – in vielen Fällen einschließlich des Rechts auf Leben.
Erst seit Mai finden die Lauftreffen von Right to Movement Bethlehem wieder statt. Ich schloss mich der Laufgruppe an, während andere sich für das Gehen und Reden entschieden. „Ich bin den ersten Bethlehem-Marathon gelaufen“, erzählte mir die dänische Freiwillige Rana*, “das hat mich völlig umgehauen. Ich hatte den Konflikt hier vorher nur als einen weiteren Nachrichtenbericht im Fernsehen gesehen, aber die Ungleichheit und die Einschränkungen während des Laufs zu sehen, hat mich für die Sache gewonnen.“ Rana lief jedes Jahr den Marathon, bis eine Verletzung ihre Laufziele reduzierte. Aber sie setzt sich weiterhin für die Menschen hier ein.
Die Strecke unserer abendlichen Aktivität führt entlang der ruhigen Zufahrtsstraße zum Cremisan-Kloster, durch das Gelände – wo uns der Wachmann lächelnd durch das Tor winkt – und endet abrupt an einem gelben Tor, einer der zahlreichen israelischen Sperren im Westjordanland. Im August 2023 hatte UNOCHA insgesamt 645 solcher Sperren dokumentiert[1]. Letztlich sind es nur 2,5 km, die Läufer:innen und Walker:innen so oft absolvieren können, wie sie wollen. „Wenn es das Kloster nicht gäbe, hätten die israelischen Behörden auch dieses Land schon eingenommen“, sagt die Organisatorin der Gruppe, Yohana*. Im Jahr 2006 wurde eine Route für die israelische Trennbarriere vorgeschlagen, die nicht nur weit entfernt von der sogenannten Grünen Linie (der Grenze zwischen dem Westjordanland und Israel) verlaufen sollte, sondern auch Teile des Klosteranlage vom Westjordanland abgetrennt hätte. Ein neunjähriger Rechtsstreit wurde schließlich 2015 gewonnen, als der Oberste Gerichtshof Israels zugunsten des Klosters entschied[2].
Große Teile des Cremisan-Tals wurden bzw. werden in Zukunft jedoch dennoch durch den Bau der Trennbarriere vom Westjordanland abgeschnitten. Hinter dem gelben Tor können wir sehen, wo die Sperranlage bereits gebaut wurde. Die Straße teilt sich, steigt nach links an und fällt nach rechts ab. Über uns markiert der Zaun die Grenze unserer Freiheit. Obwohl die Grüne Linie kilometerweit entfernt ist, endet hier nun de-facto das Westjordanland.
Beim Blick über das Tal sehen wir die roten Dächer der israelischen Siedlungen in ihrer Festungsform, zu deren Gunsten die Route der Trennbarriere festgelegt wurde. Als der Sonnenuntergang näher rückt, mischt sich der Gebetsruf aus der Moschee mit der Musik, die den Schabbat ankündigt.
Yohana ist seit vier Jahren eine der Leiter:innen von Right to Movement und konzentriert sich darauf, die Beteiligung von Frauen zu erhöhen. „Wir versuchen auch, Vorbilder zu sein“, sagt Yohana, „vielleicht sieht uns jemand, wie wir uns bewegen, gehen oder laufen, und denkt: ‘Ja, das könnte ich auch’“. Aber die Hindernisse für die Teilnahme dürften nicht unterschätzt werden, „eine Frau aus einem Dorf, wie soll sie überhaupt hierher kommen, wenn sie kein Transportmittel hat und ihre Gemeinschaft sie für seltsam hält, das ist ein großes Hindernis“. Es gibt Pläne für diverse Aktivitäten in verschiedenen Gebieten, die darauf abzielen, einige dieser Hindernisse zu beseitigen. „Seit den Anfängen hat sich viel verändert“, fügt Gründer Yasin hinzu: „Man sieht Menschen, die draußen sportlich laufen, wie es früher nie der Fall war, aber noch immer überwiegt die Zahl der Männer.
Nach dem Lauf und dem verschwitzten Gruppenfoto zieht sich etwa die Hälfte der Gruppe in ein nahegelegenes Restaurant zurück. Es hat DEN besten Blick auf den Sonnenuntergang. Das Restaurant ist über verschiedene Ebenen verteilt, mit einigen Tischen und Sofas um eine Feuerstelle herum. Wir reden über alles Mögliche, über Häuser, Reisen, Sprache, Essen – aber die meisten Gespräche drehen sich um die Besatzung. „Alles ist hier politisch“, antwortet Yusuf*, als ich ihn nach seiner Motivation frage, bei Right to Movement mitzumachen. „Gehen, laufen, zusammen sein unter der Besatzung ist ein Akt des Widerstands.“
Alle schauen auf den Sonnenuntergang, während Säfte, Hummus und Salat auf den Tisch gebracht werden, aber das Gespräch dreht sich schnell um die jüngste Ankündigung, dass fünf neue Siedlungen gebaut werden sollen, eine davon ganz in der Nähe[3]. Der Blick auf den Sonnenuntergang wird bald von neuen Siedlungshäusern getrübt werden, die sich über die nahen Hänge von Al Mahrour verteilen, einem Gebiet, dass als Teil des UNESCO-Welterbes Battir eigentlich noch einmal zusätzlich vor dem Siedlungsbau geschützt sein sollte[4].
Hannah, im August 2024
Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] https://www.ochaopt.org/content/un-has-documented-645-israeli-movement-obstacles-within-west-bank
[2] https://www.theguardian.com/world/2015/apr/02/israels-top-court-blocks-extension-of-separation-wall-through-cremisan-valley
[3] https://peacenow.org.il/en/israeli-government-sets-jurisdiction-for-new-settlement-near-bethlehem