Wir weigern uns zu hassen

Eigentlich wollten wir schon in unserer ersten Woche in Bethlehem das Friedensprojekt Tent of Nations (Zelt der Völker) nahe dem Dorf Nahalin besuchen. Dabei handelt es sich um ein internationales Begegnungszentrum auf den Ländereien der Familie Nassar im südwestlichen Umland von Bethlehem. Menschen aus Palästina und aller Welt, auch aus Israel, an diesem Ort zusammenzubringen, ist Teil einer eindrucksvollen Strategie gewaltlosen Widerstands. Seit der Jahrtausendwende 2000 finden hier Camps und Workshops statt und helfen Freiwillige beim Aufbau einer Öko-Farm. Widerstanden wird der Enteignung des Familienlandes, die seit 1991 droht.

Tent of Nations: Hinter dem von Freiwilligen angelegten Kräutergarten die Siedlung Neve Daniel; © WCC-EAPPI

Statt vor Ort treffen wir jedoch Daoud Nassar in Bethlehem. Er und sein Bruder wurden am 28. Januar auf der Farm von 15 maskierten Männern überfallen und mit Stöcken und Eisenstangen ernsthaft verletzt. Noch im Krankenhaus erhielten sie zahllose Unterstützungsbriefe und -besuche aus dem nahen Dorf, den Besetzten Gebieten und aus aller Welt. Eine Woche nach dem Überfall erzählt uns Daoud über die Hintergründe. Es ist eine Geschichte wie vom „letzten Dorf in Gallien“ – gar nicht lustig, aber Mut machend:

Der rund 45 ha große Familienbesitz der Familie Nassar ist ein alter Weinberg. Guter Boden, alte Obstbäume und Weinstöcke zwischen vielen Neuanpflanzungen, wunderschöne Aussicht bis zum Mittelmeer, wenn es klar ist. Das Terrain ist inzwischen von fünf israelischen Siedlungen umgeben. Manche Siedlungshäuser liegen in Rufnähe, in allen ist rege Bautätigkeit sichtbar. Damit ist das Problem benannt: Der Besitz der Nassars ist das entscheidende Mosaikteil, um die fünf Siedlungen zusammenwachsen zu lassen. Und wenn diese fünf Siedlungen verbunden wären, bedeutete dies eine vollständige territoriale Verbindung zwischen Westjerusalem und dem großen Siedlungsblock Gush Etzion mitten im Landkreis Bethlehem.

Für Gebäude erhält die Familie keine Baugenehmigung, deshalb gibt es unterirdische Unterkünfte; © WCC-EAPPI

Schon vor einundzwanzig Jahren, 1991, erhielt die Familie Nassar 1991 den Bescheid, dass ihr Land zu israelischem Staatsland umgewidmet werden soll. Ein solcher Schritt ist im Rahmen des israelischen Besatzungsregimes möglich, wenn das entsprechende Land innerhalb der sogen. C-Zone liegt, in der Israel die volle militärische und zivile Autorität ausübt. Das Land der Nassars liegt in der C-Zone. Aber im Unterschied zu vielen anderen palästinensischen Familien verfügen sie über vollständige Besitztitel, die viele Etappen der wechselvollen Geschichte von Land und Leuten abbilden: Daoud erzählt, dass Großvater Daher Nassar den Weinberg 1916 von palästinensischen Vorbesitzern erwarb und den Besitz von den ottomanischen Autoritäten registrieren ließ, danach 1924/25 von den britischen Behörden während des Britischen Mandats, und auch 1987 vor Einrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde und erneut im Jahre 2000. Auch der Grenzverlauf ihres Landes ist dokumentiert. Zwei langwierige Prozesse – einer nach militärischem Besatzungsrecht, der andere vor dem Supreme Court in Israel, haben bisher keine Entscheidung gebracht. Gegenwärtig läuft das dritte Verfahren, das Anfang Mai eine finale Entscheidung bringen soll.

Parallel trafen die Familie immer wieder empfindliche Schläge, die sie als Zermürbungstaktik interpretiert. So wurden wiederholt Teile des Baum- und Rebenbestandes und des Zisternensystems von Siedlern und von der Armee zerstört (u.a. 2002, 2014). Seit der Corona-Pandemie ist der Druck stark gestiegen, denn der Schutz der internationalen Präsenz brach wegen der geschlossenen Grenzen Israels ein. So wurde im letzten Jahr ein Brand gelegt und nun der Überfall auf die Brüder, den Daoud als bisher nicht gekannte Gewalteskalation bewertet.

EAs begleiten die Familie bei der Fütterung der Tiere; © WCC-EAPPI

Die Familie lebt seit Generationen in christlicher Tradition und gehört zu den Gründern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bethlehem. Daoud erklärt die vier Handlungsprinzipien seiner Familie: Wir sind keine Opfer, es geht um handeln statt nur zu reagieren; wir weigern uns zu hassen, auch wenn wir täglich herausgefordert werden; wir handeln gemäß unserem Glauben, d.h. nicht in der üblichen Vergeltungslogik; wir glauben an Gerechtigkeit, wie lange es auch dauern mag. Das gibt ihnen den langen Atem für den Rechtsweg und konsequent gewaltfreies Handeln.

Aufgrund der eindeutigen Dokumentenlage hatten sie eine rasche Gerichtsentscheidung erwartet. Aber bald war klar, berichtet Daoud weiter, dass es um eine politische Entscheidung geht – an der sich außerdem kein Richter die Finger verbrennen wollte. So wurde das Verfahren mit immer wieder neuen Anforderungen verzögert: alle Original-Dokumente da, aber bitte historisch beglaubigen; die ganze Akte ist leider unauffindbar, bitte von vorne beginnen; die Grundstücksgrenzen sind unklar, bitte belegen. Die Familie konnte alle diese Hürden bewältigen und damit, wie Daoud es beschreibt, den bisherigen Strategien Gericht, physischer Druck und Geldangebote widerstehen. Den brutalen Angriff auf seinen Bruder und ihn schätzt er als neue Strategie ein: die Familie soll von ihrem schützenden Umfeld gespalten werden. Denn der Überfall wurde nicht wie bisher von Siedlern, sondern von Männern aus dem Nachbardorf Nahalin ausgeführt. Dort trug im ersten Corona-Jahr überraschend eine kleine Gruppe den Anspruch vor, dass große Teile des Nassar-Landes eigentlich ihnen gehörten. Die Nassar-Familie lud sie zu einer gerichtlichen Klärung ein, die noch nicht abgeschlossen ist. Und nun noch der Überfall durch die maskierten Schläger.

Die direkte Zufahrt zum Tent of Nations wurde von der Armee blockiert; © WCC-EAPPI

In dieser heiklen Lage kam die Arbeit auf der Farm seit Ende Januar weitgehend zum Erliegen. Auf Bitte der Familie begleitet unser EAPPI-Team einzelne Familienangehörige dabei, täglich die notwendigsten Arbeiten vor Ort zu verrichten. An erster Stelle steht dabei die Versorgung der Tiere – Hunde, Hühner, Enten, Tauben und der Esel Vicky. Die liebevoll gestalteten Außenbereiche, Hütten und Höhlenräume lassen erahnen, welches hoffnungsvolle und kreative Leben hier miteinander geteilt wurde. Jetzt fegen letzte kalte Winde über den Hügel, die leeren Unterkünfte sind ein trauriger Anblick. Es treiben aber auch schon erste Knospen an den Apfel- und Aprikosenbäumen, und am 18. Februar soll das Leben auf die Farm zurückkehren bei einer Baumpflanz-Aktion, zu der die Evangelisch-Lutherische Kirche Bethlehems einlädt. Das ist eine ermutigende und beruhigende Aussicht, wenn wir nachmittags das Gelände verlassen und uns aus nahe des Weinbergs geparkten Fahrzeugen beobachtet sehen.

Wir werden die Familie Nassar weiterhin begleiten, so wie es viele EAPPI-Teilnehmer:innen schon seit Beginn des Programms getan haben.

Danuta, Februar 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

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