Niemand macht wohl gerne Dienst um 4 Uhr morgens, erst recht nicht an einem checkpoint und dann auch noch an einem berüchtigten wie dem checkpoint 300[1] zwischen Bethlehem und Jerusalem, gleich neben Rahels Grab[2], wo die Mauer wie wild mäandert. Aber der Wecker meldet sich gnadenlos um 3.30 Uhr, Zeit genug für eine flüchtige Morgenwäsche, Zähneputzen und eine heiße Tasse Tee. Warme Schuhe und Socken sind angesagt, denn im Winter kann es im checkpoint in Bethlehem (800 m) kalt werden. Die Straße vor unserem Haus ist dunkel und menschenleer, doch um die Ecke, auf der Zufahrtsstraße zum checkpoint herrscht schon hektisches Treiben. Ein Taxi nach dem anderen spuckt dunkel gekleidete Männer aus, die zum Eingang des checkpoints eilen, vorbei an den Ständen der Straßenhändler, die im grellen Lichtkegel weniger Arbeitslampen Zigaretten und Kaffee, Fladenbrot und Hummusdosen, Müsliriegel und harte Eier, Süßigkeiten, Früchte oder Tomaten verkaufen. Auch Socken und Ladekabel sind im Angebot. Daneben werden in einem riesigen Kessel Falafelbällchen frittiert. Viele der Männer kommen aus dem Süden der besetzten Gebiete und haben schon eine Stunde Fahrt zum checkpoint hinter sich.
Bethlehem
Das Gewächshaus von An-Nahla
Gelebter Widerstand gegen Verdrängung und Siedlungsausbau
Es hat geregnet in der vergangenen Nacht, aber jetzt herrscht ein strahlend blauer Himmel. Die frühen Sonnenstrahlen lassen auf den Hängen der Judäischen Berge südlich von Bethlehem das üppige Grün der Vegetation glitzern. In wenigen Wochen wird wieder karges Braun die steinigen Höhen dominieren. Wir sind auf dem Weg zu Abu Ahmad in Khirbet An Nahla[1]. Nachdem wir das Dorf durchfahren haben, gräbt sich der Jeep die letzten Kilometer auf dem verschlammten Feldweg langsam und schlingernd seinen Weg; auf den Hügeln ringsum schmucke Häuschen mit roten Ziegeldächern und moderne, weiß getünchte Mietblocks – die jüdischen Siedlungen: Efrat, Givat Hadagan, Neve Daniel. Ein Fußpfad führt uns die letzten Meter am Rande eines Feldes zu dem in einem Bergsattel gelegenen Gewächshaus, nicht weit dahinter auf der felsigen Hügelkuppe sind ein aus Brettern gezimmerter wachturmähnlicher Verschlag, ein Wohncontainer, ein paar Bretterhütten, ein Bulldozer und viele israelische Flaggen zu sehen: Der outpost (Außenposten) Givat Eitam[2].
Unangenehme Begegnung
Die Übergriffe durch Siedler nehmen in der Westbank zu
Zwei israelische Soldaten haben sich auf Felsen am Hang postiert und beobachten gelangweilt die Schulkinder, die sich auf dem steinigen Pfad bergauf zu ihrer Schule bewegen; der dritte Soldat ist im Jeep am Straßenrand sitzen geblieben. Ein zweiter Jeep steht oben auf dem Parkplatz der Grundschule. Es ist ein kühler Wintermorgen und der vorhergesagte sonnige Tag lässt sich durch die feuchten Nebelfetzen nur erahnen. Wir stehen auf der anderen Straßenseite und haben die Wege im Blick, die zur Jungenschule auf der einen Hangseite und zur Mädchenschule und gemischten Grundschule auf der anderen Hangseite führen. In kleinen Gruppen kommen die Kinder aus verschiedenen Richtungen: Kleine Mädchen passieren uns schwatzend und kichernd, winken schüchtern zum Gruß, einige rufen uns ein verschmitztes „Sabach ilcher“ (Guten Morgen) zu und amüsieren sich über unsere (noch) nicht ganz akzentfreie Antwort. Die männlichen Teenies – zumeist mit modischer Undercut-Frisur – schlendern betont lässig an uns vorbei und stellen mit einem fließenden „Good Morning“ ihre Weltläufigkeit unter Beweis, die weiblichen – zumeist in Schuluniform und mit Kopftuch – unterstreichen ihre sprachliche Kompetenz mit der kühnen Frage „How are you?“. Der eine oder andere Lehrer bleibt für ein Schwätzchen stehen und bedankt sich für unsere Anwesenheit.
Sie warten noch immer auf Rückkehr
Jihad lautet der Name jenes Mannes, der uns durch das Refugee Camp Duheisha führt. Sein eigener Name dient ihm als warnende Botschaft vor leichtfertigen Verurteilungen und stereotypem Schwarz-Weiß-Denken:
Dem Erdboden gleichgemacht
Sechs Tage sind vergangen, seit die Jerusalemer Stadtverwaltung, das israelische Militär und die Zivilverwaltung des israelischen Militärs mit drei Bulldozern anrückten und das Haus von Raed Salameh Mahmoud Abu Tarboushs Familie und der seines Bruders zerstörten. Wir hörten davon durch eine Benachrichtigung von UNOCHA und machen uns auf den Weg, um den Familien mit einem Besuch unsere Solidarität zu zeigen.
Umgeben von Siedlungen
Das Dorf Shoshahla liegt etwa fünf km südlich von Bethlehem. Es ist das erste Dorf, das ich hier als Ecumenical Accompanier und Teil des EAPPI Bethlehem-Teams besuche. Ich bin kaum eine Woche hier und allein dieser einzelne Besuch lehrt mich mehr darüber was es heißt, von Siedlungen umgeben zu sein, als ich zuvor aus Büchern, Artikeln und Dokumentationen erfahren konnte.
Shoshahla als Dorf zu bezeichnen entspricht kaum der heutigen Realität des Ortes: Shoshahla war einmal ein Dorf, gegründet in den 1870er Jahren. Nach der Besetzung der Westbank 1967 und mit Gründung der Siedlungen in der Umgebung des Dorfes kam es immer wieder zu Übergriffen auf die Einwohner*innen von Shoshahla durch Militär und Siedler, bis schließlich 1985 alle Familien das Dorf verlassen hatten. 1992 beschloss ein Mann namens Muhannad Salah, mit seiner Familie nach Shoshahla zurückzukehren. 2015 folgten drei weitere Familien. Sie versuchen auf ihrem Grund und Boden, der Besatzung und den widrigen Lebensumständen trotzend, die Stellung zu halten, damit ihr Land nicht einer weiteren Siedlung weichen muss.
Ameer am Checkpoint
Ameer* ist viel länger und öfter als wir am engen Checkpoint 300 in Bethlehem anwesend. Wenn wir morgens um 4 Uhr erscheinen, ist er oft schon dort. Er hat sich am Ende des Betonganges einen Hochstuhl gebastelt, den er ankettet, damit er ihn täglich wiederfindet. Dort sitzt er oft stundenlang und lässt die Tausenden vorbeiziehen, die nach Israel rübergehen, um – meist auf den Baustellen – Geld zu verdienen, da es auf palästinensischer Seite zu wenig Arbeit gibt.
Besuch bei einer alten Dame
Clémence Handal ist 72 Jahre alt. Sie wohnt seit Jahren allein in der oberen Etage eines Mehrfamilienhauses. Die christliche Großfamilie Handal lebt in den drei Häusern, die unmittelbar an unser Apartment angrenzen. Sie hatten früher viel Land hier. Doch nur ein paar Kleingärten mit verschiedenen Obstbäumen sind geblieben, seit die Mauer in Bethlehem gebaut wurde.
Das „Orakel von Bethlehem“: Majdi Ata Amro
Das „Orakel von Bethlehem“, so hieß er in einer englischen Zeitung: Majdi Ata Amro (53) mit seinem Touristenladen besonderer Art in der Manger Street in Bethlehem, wo er nicht nur an die Touristen verkauft und seinen Lebensunterhalt verdient, sondern auch seine Gäste aus aller Welt gerne empfängt. Kaffee in kleinen Pappbechern und Tee in Gläsern, immer mit ein paar Blättern frischen Grüns, schaffen schnell eine heimische Atmosphäre.
Tent of Nations – „Wir weigern uns, Feinde zu sein“
Daoud Nasser ist ein eindrucksvoller Mensch: Er scheint gleichzeitig an mehreren Orten sein zu können: wenn Studenten helfen beim Bäume pflanzen und abernten, je nach Jahreszeit. Wenn sie dort praktizierte Müllvermeidung organisieren, als gelte es zu beweisen, dass Palästina ganz viel weniger schädlichen und landschaftszerstörenden Abfall produzieren könnte. Wenn sie anfangen, das Regenwasser in ihrem Zentrum in einem großen unterirdischen Becken aufzufangen, und es dann auf andere Stellen umpumpen, mit Sonnenenergie natürlich, die intensiv genutzt wird. Wenn seine Frau und er wo auch immer gebraucht werden. Sie sind bekannt und geschützt durch ihre Bekanntheit in den neuen Medien und die stete internationale Präsenz.