Kisan – Wo die Besatzung die Idylle verblassen lässt

Sonnenaufgang nahe Kisan; © WCC-EAPPI/Helga

Sonnenaufgang über im Morgendunst liegenden Bergen und Hügeln. In der Ferne silbern glitzernd das Tote Meer. Vögel zwitschern, Hähne krähen, Hunde bellen, Schafe und Ziegen blöken.

Der rote Sonnenball erscheint am Horizont und wirft Tageslicht auf das kleine Dorf Kisan 20 km südlich von Bethlehem. Doch unser Wissen um die besatzungsbedingte Situation des Ortes und seiner Menschen trübt unsere Freude an der mystischen Morgenstimmung.

In Kisan begleiten wir regelmäßig Hirtinnen mit ihren Herden auf ihr Weideland, weil die Frauen auf den Weidegängen immer wieder von Siedlern bedrängt wurden. Die Hirtinnen sagen uns, dass die Siedler fernbleiben, wenn wir da sind. Frühmorgens beobachten wir aus einiger Entfernung, wie die Frauen mit ihren Herden umherziehen. Zuletzt gab es mehrmals neue Vorgaben seitens des Militärs, bis wohin die Hirtinnen mit ihren Tieren gehen können. Eine der Frauen sagte uns dazu: „Unsere Ziegen müssen fressen, Futter zukaufen ist teuer. Außerdem ist das hier doch unser Land.“

In den letzten Wochen gab es immer wieder Vorfälle, von denen uns die Menschen im Dorf berichtet haben. Vor einigen Wochen sei ein Siedler mit seinen Söhnen durch das Dorf gefahren und habe eine Ziege getötet. Daraufhin sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Die herbeigerufene Armee habe zunächst Tränengas und Knallgranaten gegen die Menschen von Kisan eingesetzt und sei nachts zurückgekommen, um die mutmaßlichen Steinewerfer zu ermitteln, indem sie Privathäuser durchsuchten und die Bewohner:innen, einschließlich kleiner Kinder, derweil stundenlang auf der Straße stehen ließen. Bei anderen Vorfällen hätten Siedler Todesdrohungen gegen Menschen in Kisan ausgesprochen, auch die von uns begleiteten Hirtinnen berichten uns von solch einem einschüchternden Zusammentreffen.

Die Belästigungen durch Siedler und die Handhabung durch das israelische Militär wird in Kisan als eine Zuspitzung der über Jahre zunehmenden Zurückdrängung der Einwohner:innen auf den bebauten Teil des Dorfs wahrgenommen. Nach Aussage des Bürgermeisters erstreckt sich das Land von Kisan etliche Kilometer um das Dorf herum und nach Osten sogar noch sehr viel weiter Richtung Totes Meer. Doch die israelische Besatzung und gegen internationales Recht verstoßende Siedlungspolitik haben den Lebensraum der hier noch verbliebenen 130 Familien stark eingeschränkt. 30 Familien, so erzählt uns der Bürgermeister, seien im Laufe der Jahre schon fortgezogen.

Das Osloer Abkommen erklärte nur den Ortskern von Kisan zum sogenannten B-Gebiet, wo die palästinensischen Familien Häuser auf- und ausbauen können. Die neue Moschee und ein paar Häuser am Ortsrand stehen schon auf vollständig von Israel kontrolliertem C-Gebiet und haben deshalb von den israelischen Behörden Abrissandrohungen erhalten. Vor zwei Jahren gelang es mit internationaler Unterstützung, die Schule von Kisan aus einem Privathaus und Containern in ein neues Gebäude am Ortsrand zu verlegen, allerdings befindet sich diese nun auch im C-Gebiet, ihre Zukunft ist ungewiss.

Ausschnitt einschließlich Legende aus UNOCHA-OPT Interactive Map Stand 3.11.22; https://www.ochaopt.org/maps; Kisan liegt südlich von Bethlehem wie eine Insel im vollständig von Israel kontrollierten C-Gebiet der Westbank

1981 wurde die israelische Siedlung Ma’ale Amos südlich von Kisan auf dem Land des Dorfes gegründet. Hier leben heute nach Angaben der israelischen Organisation PeaceNow über 800 Siedler:innen[1]. Ab 1999 wurde der Außenposten Ibei Hanahal errichtet, ab 2013 der Außenposten Ma’ale Amos West und ab 2015 die Ma’ale Amos Industriezone[2]. Für Siedlungen und Außenposten wurde ein weitläufiges Straßennetz geschaffen, das zurzeit weiter ausgebaut wird. All das nimmt den Dorfbewohner:innen Land, somit Weideflächen für ihre Tiere und landwirtschaftlich nutzbare Felder. Weizen, wie früher, wird laut Bürgermeister hier schon lange nicht mehr angebaut. Wer seinen Landbesitz mit Dokumenten nachweisen kann, versucht diesen durch fortgesetzte Kultivierung mit Olivenbäumen zu erhalten, denn die brauchen wenig Pflege. Wenn Bauern Land über mehrere Jahre nicht bearbeiten, sehen sich die israelischen Behörden nach traditionellem osmanischem Recht befugt, dieses als Staatsland zu konfiszieren[3].

In der Siedlung Ma’ale Amos leben über 800 Menschen; © WCC-EAPPI/Helga

Teile von Kisans Land wurden zum Naturschutzgebiet erklärt. Wir trafen einen Bauern, der uns erzählte, dass er dort seine Obst- und Olivenbäume kaum pflegen, die Ernte immer nur teilweise einholen kann und sich in diesem Jahr angesichts zunehmender Siedlerübergriffe nicht allein auf sein Feld traut. Anfang Oktober sind Siedler auf dieses westlich des Dorfes gelegene Gebiet eingedrungen, haben Picknicktisch und -bänke errichtet und eine kleine Reihe Bäumchen gepflanzt. Im Dorf ist die Rede davon, dass ein Siedler ein Ausflugslokal plant, um Wander:innen in diese herrliche Schlucht anzuziehen.

Noch vor 15 Jahren, so erzählt uns der Bürgermeister, hatten alle im Dorf Schaf- oder Ziegenherden, nun nur noch etwas mehr als die Hälfte der Leute. Es gäbe zu wenig Weideland, von der israelisch kontrollierten Verteilstelle bekämen sie zu wenig Wasser, dazu die häufigen Zwischenfälle mit Siedlern. Die meisten Männer arbeiten nun außerhalb des Dorfes.

Die häufige Abwesenheit der Männer heißt einerseits für die Frauen im Dorf, deren Arbeit mit zu erledigen, andererseits ist es ihre Chance, ihre Stimme zu erheben und das Dorfleben aktiv mitzugestalten. Wenn die Hirtinnen morgens nach zwei Stunden Weidegang zurückkehren, erledigen sie die Hausarbeit, versorgen die Kinder, melken die Tiere, backen Brot, stellen Milchprodukte her. Und sie treffen sich mit anderen Frauen im Dorf um zu besprechen, was als Nächstes für die Gemeinschaft gebraucht wird. Es ist der Initiative der Frauen zu verdanken, dass es in der neuen Schule seit dem Schuljahr 2022 auch eine Vorschulklasse gibt und eine kleine Kinderbücherei eingerichtet wurde. Bildung ist für palästinensische Eltern sehr wichtig, sie wollen bessere Zukunftschancen für ihre Kinder. Maßnahmen dafür bewirken, dass Familien sich entscheiden, nicht von Kisan wegzuziehen. Kisan liegt außerdem so abgelegen, ohne Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, dass nicht nur Pendeln zur Arbeit schwierig ist, sondern auch Zugang zu Sekundarschule, Universität und erst Recht zu medizinischen Einrichtungen. Inzwischen sind die Frauen in Verhandlungen mit einer NGO bezüglich der Möglichkeit, ein Fahrzeug mit Fahrer zur Verfügung gestellt zu bekommen.

Einer der israelischen Steinbrüche nahe Kisan; © WCC-EAPPI/Helga

Nicht nur die immer weniger werdenden Möglichkeiten für Broterwerb und die Beschwerlichkeiten eines Lebens im C-Gebiet belasten die Menschen in Kisan, sondern auch zwei nahe israelische Steinbrüche und zwei Mülldeponien. Von dem einen oder dem anderen Steinbruch komme je nach Windrichtung aller Staub ins Dorf. „Wenn ich Wäsche aufhänge, hole ich sie so manches Mal dreckiger wieder rein als sie vorher war“, beklagt sich eine Frau uns gegenüber. Der Staub belaste außerdem die Atemwege.

Blick von der Schule in Kisan auf die nahe Mülldeponie, auf der auch Abwässer entsorgt werden; © WCC-EAPPI/Helga

Der Bürgermeister berichtet uns, dass von der Mülldeponie, die ausschließlich israelischen Siedlungen dient, lose angesammelter Müll im Wind vom Hügel herab auf landwirtschaftliches Nutzland von Kisan fliege. Ein UN-Mitarbeiter sagte uns außerdem, dass die andere Deponie, die für Abfälle aus palästinensischen Orten und aus Siedlungen genutzt wird, u.a. der Entsorgung von Abwässern diene. Bei ungünstig stehendem Wind stinke es in Kisan so sehr, dass Kinder sich übergeben müssten. Es bestehe zudem die Gefahr, dass durch die Versickerung von Abwässern das Grundwasser langfristig verschmutzt und umliegendes Weideland zerstört wird.

Kisan, zunehmend beschränkt auf die bewohnte B-Gebiet-Fläche des Ortskerns, das landwirtschaftlich genutzte Gebiet zunehmend unzugänglich oder konfisziert, seine Einwohner:innen Drohungen und Übergriffen von Siedlern ausgesetzt, erscheint mir immer weniger der mystisch-romantische Ort, als den er sich mir im ersten Eindruck präsentierte. Je mehr Orte ich während meines Aufenthaltes im Bezirk Bethlehem kennenlerne, desto mehr fällt mir auf, dass die überwiegende Zahl von Dörfern in einer ähnlichen Situation wie Kisan ist: Die ursprüngliche Lebensweise und Erwirtschaftung des Lebensunterhalts werden zunehmend erschwert oder verunmöglicht, die Abhängigkeit von Arbeit außerhalb, etwa auch in Siedlungen oder in Israel, wird erhöht. Im eigenen Dorf zu bleiben oder hier gar ein Leben in Würde zu führen scheint in den C-Gebieten zunehmend abzuhängen vom Engagement ausländischer Geldgeber oder von NGOs.

Hirtin beim morgendlichen Weidegang nahe Kisan; © WCC-EAPPI/Helga

Ich frage eine Hirtin, die von einem Siedler bedroht und deren Haus nachts von der Armee durchsucht worden war, wie sie sich fühlt. „Ich habe Angst, große Angst. Und doch fühle ich mich stark, denn ich lasse mich nicht vertreiben. Ich fühle Sumud – Standhaftigkeit: Das hier ist mein Land. Ich bleibe.“

Helga, im November 2022

 

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://peacenow.org.il/en/settlements/settlement74-en

[2] https://peacenow.org.il/en/settlements-watch/israeli-settlements-at-the-west-bank-the-list

[3] https://peacenow.org.il/en/methods-of-confiscation-how-does-israel-justify-and-legalize-confiscation-of-lands

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