Ein Lichtstreif am Horizont

Trüb nasskalt ist das Wetter, als wir zu fünft im Auto Jerusalem verlassen, um nach Nahalin zum Tent of nations zu fahren, und es wird noch nässer, je mehr wir uns unserem Ziel nähern. Tief hängen die Wolken zwischen den Hängen und Hügeln um den Bergrücken vom Tent of Nations, keine einzige der fünf umliegenden israelischen Siedlungen ist zu erkennen.

Das EAPPI-Büro in Jerusalem hat uns – das Ost-Jerusalemer EAPPI-Team  – gebeten, den wichtigen Termin an diesem Samstagnachmittag im Februar wahrzunehmen, nachdem das ganze EAPPI-Team Bethlehem an COVID erkrankt ist.

Es ist die erste offizielle Rückkehr der beiden Nassar-Brüder auf ihr Grundstück seit dem Überfall vom 28. Januar, bei dem sie schwer verletzt wurden. Maskierte Männer aus dem Nachbardorf hatten die Brüder Daoud und Daher mit Metallstangen und Messern angegriffen.

Auf dem Weg erklärt uns Hanna vom Jerusalemer EAPPI-Büro, was uns vielleicht erwartet. Im besten Fall könnte es zu einer “atwe” kommen, das ist ein traditionelles Schlichtungsverfahren, bei dem “Älteste” – ehrenwerte Vertreter beider Konfliktparteien –  zusammenkommen und Entschuldigungen und Entschädigungsleistungen aushandeln, um so den Konflikt beizulegen. Auf Einladung der beiden Brüder werden hochrangige Vertreter der lokalen Kirchenleitungen und andere lokale und internationale Unterstützer:innen des Tent of Nations-Projekts sowie hochrangige und lokale politische Vertreter aus dem Nachbarort, Bethlehem und der palästinensischen Autonomiebehörde mit viel Medienpräsenz erwartet.

Als wir gegen 13 Uhr am Tent of Nations eintreffen, sind wir die ersten und werden von Daher Nassar herzlich willkommen geheißen. Er zeigt uns die Narbe am Kopf, deutet auf die Stelle am Oberschenkel, wo er mit einem Messerstich verletzt worden ist. Dann führt er uns zu einer nahen Unterkunft für Freiwillige, die schwer beschädigt wurde.

Daher Nasser zeigt die beschädigte Freiwilligen-Unterkunft; © WCC-EAPPI

Neue Gäste treffen ein. Es sind lokale Unterstützer:innen und führende Vertreter der verschiedenen Kirchen vor Ort, begleitet von internationalen Freiwilligen. Daoud Nasser heißt sie im Namen der Familie willkommen und dankt ihnen für ihr Kommen, ihre Unterstützung und für die vielen Zeichen der Solidarität in diesen letzten sehr schweren Wochen.

Und er lässt kurz die Geschichte des 30-jährigen rechtlichen Kampfes um die Besitztitel für dieses Land Revue passieren und die 28 Angriffe bzw. Verwüstungen der letzten Jahre, die mit dem Angriff auf Leib und Leben nun eine neue Dimension erreicht haben. Seine Familie sei die einzige, die diesen juristischen Kampf gegen die fünf umliegenden Siedlungen führt und damit den ganzen Ort mit seinen 11000 Einwohnern schützt. “Wenn wir uns nicht gegen die Siedlungen stemmen, wird uns dieses Land genommen!” – (Siehe dazu auch den EAPPI-Bericht “Wir weigern, uns zu hassen” vom 12.02.2022) – Ein weiterer Erfolg in diesem Kampf sei die Zurückweisung einer Beschwerde einer Siedlerorganisation durch ein israelische Gericht vor zwei Wochen, so rücke die Anerkennung ihrer Besitztitel auch nach israelischem Recht in greifbare Nähe! Er wolle sich allerdings keinen falschen Hoffnungen hingeben und bitte weiterhin um anhaltendes unterstützendes Gebet.

Daoud Nassar dankt den Gästen für ihr Kommen und ihre Unterstützung. Von links nach rechts: Reverend Canon Don Binder (Chaplain des Erzbischofs der Anglikaner), Bischof Ibrahim Azar (ELCJHL = Ev.-Luth. Kirche in Jordanien und im Heiligen Land), dahinter Pfr. Joachim Lenz, ev.-luth. Propst von Jerusalem und als solcher Repräsentant der EKD im Hl. Land, Bischof William Shomali vom Lateinischen Patriarchat (röm.-kath.), Erzbischof Atallah Hanna (Griech.-Orthodoxes Patriarchat), Munib Younan, der Vorgänger von Ibrahim Azar, Daoud Nassar, neben ihm der Bürgermeister von Bethlehem Anton Zaiman. ©WCC-EAPPI

Der Bürgermeister von Bethlehem merkt zu dem Landstreit mit einer palästinensischen Familie des Nachbarortes an, dass anscheinend bei der Landregistrierung vor 100 Jahren, als der Großvater der Nassar-Geschwister als Eigentümer eingetragen wurde, die Löschung oder Streichung des Vorbesitzers vergessen worden war.

Dann entsteht Unruhe. Wir fragen nach den Grund und erfahren, dass der Gouverneur von Bethlehem und die anderen palästinensischen politischen Vertreter und die Delegation vom Nachbarort am Hauptplatz des Tent of Nations warten und nicht hierher kommen wollen. Und so folgen wir nach einigem Hin und Her Daoud Nassar über die nassen aufgeweichten rotbraunerdigen Felder zum nächsten Versammlungsort.

Hier haben sich zahlreiche politische Vertreter aus der Region und auch aus Ramallah versammelt, doch leider ist niemand von der mit den Nassars in Streit liegenden Familie erschienen. Diese streitet eine Beteiligung am Überfall ab und eine Teilnahme hier könnte als ein Schuldeingeständnis gedeutet werden. Es wird also nichts mit einem Versöhnungstreffen an diesem Tag.

Politische und kirchliche Prominenz: Der Bürgermeister des Nachbarortes Nahalin verliest eine Erklärung. Links von ihm Dr. Ramzi Khoury, in der palästinensischen Autonomiebehörde zuständig für kirchliche Angelegenheiten, neben ihm mit Maske der Gouverneur von Bethlehem Kamil Hmed, hinter ihm der Leiter der Vertretung Deutschlands in Ramallah, Oliver Owcza; © WCC-EAPPI

Doch ist dieses Treffen trotzdem ein wichtiges Zeichen der Solidarität in Palästina.

Der Bürgermeister an der Spitze einer Abordnung aus Nahalin verliest eine Erklärung, in der er die Gewalt und die Angriffe klar verurteilt, gleichzeitig aber auch abstreitet, dass die Angreifer aus seinem Ort stammen.  Der Gouverneur von Bethlehem betont: Es sei nun wichtig, dass die Sicherheitskräfte den Fall schnell aufklären. Er appelliert an das Gemeinschaftsgefühl der Palästinenser, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen in Christen und Muslime, sondern sich auf den gemeinsamen Kampf gegen die Besatzung zu fokussieren.

Auch Bischof Ibrahim Azar, sein Vorgänger Munib Younan und die Vertreter der anderen Kirchen ergreifen das Wort und betonen die Symbolhaftigkeit des Zusammenkommens als Zeichen der Solidarität und der einhelligen Verurteilung von Gewalt gegen Palästinenser. Es sei christliche Aufgabe, sich des Nachbarn in Not anzunehmen. Bischof Azar fordert den für religiöse Angelegenheiten zuständigen Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde Dr. Khoury auf, die vier Richter für Landkonflikte zügig zu benennen. Der weist daraufhin, dass die Kommission zur Auswahl der Richter bereits vom Präsidenten ernannt sei. Ein solches Schiedsverfahren zu Landstreitigkeiten habe es auf Ebene der palästinensischen Autonomiebehörde bisher noch nicht gegeben. An Bischof Azar ist es dann, die Schlussworte zu sprechen: Er war gespannt, was passieren würde, gehe jetzt aber mit der Gewissheit, dass die Familie weiter geschützt wird. Und er schließt mit dem Zitat aus der Bergpredigt: “Selig die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heißen” (Matthäusevangelium, Kap. 5, Vers 9).

Daoud Nassar ist zufrieden mit dem Verlauf des Treffens und den vielen Gesten der Solidarität, hält aber daran fest, dass die Täter gefasst werden müssen: Es braucht nicht nur Worte, es braucht auch Taten! Und er bittet weiterhin, auch EAPPI, um schützende Präsenz auf dem Gelände des Tent of Nations.

Blick vom Tent of Nations; © WCC-EAPPI

Ein trüber nasskalter Samstagnachmittag im Februar geht zu Ende, doch ist dieses Treffen ein Lichtstreif am Horizont! Und die Nässe ist gut für die über 100 Setzlinge, die die Volontär:innen der  evangelisch-lutherischen Erlöserkirche aus Jerusalem zwei Tage vorher gepflanzt haben! Ein neuer Frühling kann kommen!

Ulrich, März 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind. Das Programm bittet darum, dass private Stellungnahmen nicht weitergeleitet oder veröffentlicht werden.

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