Flaggen im Jordantal: Zeugnisse von Siedlergewalt und de-facto Annexion

Bei der Reise in ein fremdes Land fallen oft zuerst die gehissten Nationalflaggen ins Auge. Für manche ist die Flagge des eigenen Landes ein bedeutendes Symbol nationaler Identität, das ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammenhalt stiftet, historische, politische oder auch religiöse Aspekte des Landes widerspiegelt oder zu der sie aus anderen Gründen eine tiefe emotionale Verbindung hegen.

Im Jordantal muss man sich Mühe geben, eine palästinensische Flagge zu finden. Das Hissen palästinensischer Flaggen ist offiziell zwar nicht verboten, jedoch haben die Menschen vor allem in entlegenen Orten Angst vor Repressionen durch Siedler oder Militär und niemand geht das Risiko ein. Israelische Flaggen hingegen sind sehr präsent. Bei einer Fahrt durch das Jordantal sieht man sie von den völkerrechtswidrigen Siedlungen, Militärstützpunkten und von Bergspitzen wehen. Sie prangen an Häuserfassaden, Checkpoints und seit einiger Zeit hissen Siedler* auch in palästinensischen Gemeinden israelische Flaggen.

In Al Farisiya besuchen wir eine Familie, die beinahe täglich von Siedlergewalt betroffen ist. Die Höfe der Gemeinde Al Farisiya liegen verstreut im Norden des Jordantals, umgeben von Siedlungen, Siedlungsaußenposten und militärischem Sperrgebiet. Nach dem 7. Oktober 2023, so berichtet uns der Vater, kamen Siedler, stellten mehrere Fahnen auf und drohten: „Wenn ihr diesen Fahnen etwas antut, werden wir eure Häuser niederbrennen“. Die Siedler kommen regelmäßig von einem nahen Außenposten in das Dorf, um die Familie zu schikanieren, auch wir werden Zeug:innen während eines unserer Besuche: Die Hunde schlagen an, bellen wie verrückt und rennen auf die Siedler zu, die sich mit einem Quad dem Dorf nähern. Unsere Gesprächspartner stehen nervös auf und machen sich bereit für eine mögliche Konfrontation. Diese bleibt aber glücklicherweise aus, nach ihrem kurzen Abstecher machen die Siedler wieder kehrt.  

Solche Begegnung verunsichert die Menschen in Al Farisiya, die sich ständiger Beobachtung ausgesetzt sehen. Vor kurzem installierten die Siedler einen Stuhl neben der Flagge, die etwa 20 Meter vom Hof entfernt etwas erhöht steht. Seither sitzen sie dort regelmäßig mit Tee oder Kaffee und beobachten den Hof. Ihre Anwesenheit schüchtert die Familie ein.

Von Siedlern nahe des Hofs einer von uns besuchten Familie in Al Farisiya platzierte Flagge; © WCC-EAPPI/ Fabian
Von Siedlern nahe des Hofs einer von uns besuchten Familie in Al Farisiya platzierte Flagge; © WCC-EAPPI/ Fabian

Doch dabei bleibt es nicht. Tagsüber und selbst nachts kommen Siedler auch in die Gemeinde, dringen in die Häuser ein und bedrohen die Menschen. Für die Kinder sind die permanenten Übergriffe ein Albtraum. Ihr Vater berichtet mir: „Meine Kinder gehen mit Kleidung und Schuhen ins Bett, um bei Angriffen schnell wegrennen zu können. Vor Angst nässen sie sich nachts häufig ein“.

Die Karte von März 2024 zeigt u.a. die Gemeinden Al Farisiya und Khirbet Samra umgeben von Siedlungen, Außenposten, militärischen Sperrgebieten und Checkpoints. Unserer Beobachtung nach sind seither weitere Außenposten in der Region aufgebaut worden; Karte @ B’Tselem, zu finden unter https://www.btselem.org/video/202403_israel_has_ramped_up_efforts_to_displace_shepherding_communities
Die Karte von März 2024 zeigt u.a. die Gemeinden Al Farisiya und Khirbet Samra umgeben von Siedlungen, Außenposten, militärischen Sperrgebieten und Checkpoints. Unserer Beobachtung nach sind seither weitere Außenposten in der Region aufgebaut worden; Karte @ B’Tselem, zu finden unter https://www.btselem.org/video/202403_israel_has_ramped_up_efforts_to_displace_shepherding_communities

Durch die Einschüchterung und Gewalt der Siedler hat die Familie nach eigener Aussage ihren Zugang zu 500 Hektar Weide- und Ackerland verloren, ein zentraler Teil ihrer Lebensgrundlage. Wie in Al Farisiya leben im Jordantal die meisten palästinensischen Familien hauptsächlich von Viehzucht und Landwirtschaft, in sehr einfachen Verhältnissen. Obwohl das fruchtbare Jordantal eigentlich der Brotkorb Palästinas sein könnte, ist palästinensische Entwicklung hier nahezu ausgeschlossen. Das Jordantal steht mit wenigen Ausnahmen (z.B. der Stadt Jericho) unter vollständiger israelischer Verwaltung und Kontrolle. Seit Jahrzehnten wachsen israelische Siedlungen, landwirtschaftliche Betriebe und Siedlungsaußenposten in Anzahl und Größe, während Palästinenser:innen keine Baugenehmigungen erhalten, weder für Häuser, Schulen, Straßen noch Brunnen. Widersetzen sich die Menschen dieser diskriminierenden Politik und bauen dennoch auf ihrem Land, dann erhalten sie meist umgehend eine sogenannte „Demolition Order“, eine Zerstörungsanordnung. Viele der Familien, die wir im Jordantal besuchen, haben irgendwann schon einmal eine Demolition Order erhalten und leben mit dem permanenten Zustand der Angst, dass ihr Haus und Hof jederzeit abgerissen werden kann.

Zudem ist auch im Jordantal die Bewegungsfreiheit der Menschen durch militärische Checkpoints, Straßensperren und andere Hindernisse sehr stark eingeschränkt, noch einmal mehr seit Oktober 2023. Einige erzählen uns, dass sie nur noch in Notfällen reisen, zum Beispiel für dringend notwendige Einkäufe, Arztbesuche oder Beerdigungen.

Von Siedlern aufgestellt Flagge an der Zufahrt zum Grundstück einer Familie im Jordantal; © WCC-EAPPI/ Fabian
Von Siedlern aufgestellt Flagge an der Zufahrt zum Grundstück einer Familie im Jordantal; © WCC-EAPPI/ Fabian

Die größte Sorge der Familien, die wir besuchen, ist jedoch der massive Anstieg der Siedlergewalt. Laut der israelischen NGO PeaceNow[1] wurden im Westjordanland seit Oktober 2023 insgesamt 43 neue Siedlungsaußenposten errichtet, nicht wenige davon im Jordantal. Von den Bewohner:innen dieser selbst nach israelischem Recht illegalen Ansiedlungen geht z.T. massive Gewalt aus, mit Konsequenzen für die Menschen in den umliegenden palästinensischen Dörfern: Immer wieder werden Hirt:innen gewaltsam davon abhalten, ihre Tiere auf die Weideflächen zu führen. So sehen sich die Familien gezwungen, ihre Schafe, Ziegen und Kühe zu verkaufen, um aus dem Erlös die verbleibenden Tiere mit zugekauftem Futter zu versorgen, ohne für sich selbst dabei einen Ertrag erwirtschaften zu können, ein Teufelskreis.

Polizei und Militär greifen selten bis nie ein oder unterstützen die Siedler:innen sogar. Seit dem 07. Oktober wurden tausende Siedler:innen als Reservist:innen im Westjordanland stationiert[2], so dass betroffene Palästinenser:innen zum Teil nicht mehr unterscheiden können, ob Übergriffe von der Armee oder uniformierten Siedlern ausgehen. In einer Gemeinde erzählte mir ein Betroffener, dass ein Siedler, mit dem es zu einer Auseinandersetzung gekommen war, kurze Zeit später im Militärfahrzeug und in Uniform in das Dorf zurückkehrte.

Khirbet Samra liegt einige Kilometer südlich von Al Farisiya. In der unmittelbaren Umgebung befinden sich mehrere Siedlungen, Außenposten und ein Stützpunkt der israelischen Armee. Auch hier besuchen wir eine Familie, die von Siedlergewalt betroffen ist. Eine israelische Fahne steht direkt am Eingang ihres kleinen Hofs. Der jüngste Sohn Karim** studiert eigentlich in Tulkarem Veterinärmedizin. Aufgrund der extrem angespannten Situation im Westjordanland fällt für ihn das Studium derzeit aus.

Karim erzählt mir, wie die Siedler nach und nach den Hof der Familie mit immer weiteren Flaggen quasi eingekesselt und die Belästigungen täglich zugenommen haben. Jede neue Flagge wird ein Stück näher am Hof der Familie platziert. Seit zwei Wochen steht nun eine Flagge 50 Meter vor dem Familienhaus. Tag und Nacht fahren Siedler mit Quads über ihren Hof, gönnen der Familie kaum Schlaf und Ruhe. „Was passiert, wenn ihr die Flaggen abnehmt?“, möchte ich wissen. „Das kommt nicht in Frage, das haben andere Familien bitter bereut“, antwortet Karim. „Passt auf die Flaggen auf wie auf eure Kinder“, habe ihnen ein Siedler vor einiger Zeit gesagt.

Die Flaggen grenzen die betroffenen Gemeinden und Familien ein, physisch wie psychisch. Auf vielen Straßenschildern im Jordantal wurden zudem die arabisch geschriebenen Ortsnamen mit Farbe übermalt, gestrichen, als gäbe es keine Arabisch sprechenden Menschen, keine Palästinenser:innen mehr.

Wie hier sehen wir viele Straßenschilder im Jordantal, auf denen die arabischen Bezeichnungen übermalt wurden; © WCC-EAPPI/ Fabian
Wie hier sehen wir viele Straßenschilder im Jordantal, auf denen die arabischen Bezeichnungen übermalt wurden; © WCC-EAPPI/ Fabian

Ob durch das Militär, durch Bulldozer oder die Gewalt der Siedler: Die Angst der Menschen vor Vertreibung ist omnipräsent und scheint für viele nur eine Frage der Zeit. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem[3] zählt 20 Gemeinden im Westjordanland, die seit dem 7. Oktober 2023 vollständig aufgegeben wurden, aus 7 Gemeinden wurden einzelne Familien vertrieben, mindestens 40 weitere Gemeinden sind massiv von Siedlergewalt bedroht. Eine neue Erhebung der israelischen NGO Kerem Navot zeigt Vertreibungen aus insgesamt 57 Dörfern, Ortsteilen und einzelnen entlegenen Höfen seit 2022.[4]

2020 kündigte der israelische Premierminister Netanyahu an, das Jordantal annektieren zu wollen. Zwar wurde dieser offizielle Schritt zugunsten der Normalisierung der Beziehungen Israelis mit einigen arabischen Ländern damals auf Eis gelegt. De-facto[5] leben die Palästinenser:innen im Jordantal und überall in den vollständig von Israel kontrollierten C-Gebieten des Westjordanlands aber schon heute in einem Zustand der Annexion, der sie ihrer Rechte, ihres Lebensraums und ihrer Freiheit beraubt. Vor Kurzem kündigte der israelische Finanzminister Smotrich an, dass 2025 das Jahr formeller Annexion im Westjordanland werden wird.[6]

Die Familien, die geblieben sind, leisten in beeindruckender Weise gewaltfreien Widerstand, indem sie an ihrer Existenz auf ihrem Land festhalten. Ihre Resilienz und die Entschlossenheit, sich nicht vertreiben zu lassen, symbolisiert, was arabisch als „Sumud“ bezeichnet wird – die Standhaftigkeit, das Bleiben, trotz allem.  Doch auch sie werden auf Dauer nur durchhalten können, wenn die internationale Gemeinschaft endlich wirkungsvollere Maßnahmen ergreift, um Siedlergewalt zu beenden, (de-facto) Annexion zu stoppen und die illegale Besatzung zu beenden.

Fabian, im Dezember 2024

* Da wir bisher im Zusammenhang mit gewaltsamen Übergriffen nur von männlichen Siedlern gehört haben, verzichten wir hier auf die weibliche Form.

**Name geändert

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://peacenow.org.il/en/war-and-annexation-how-the-israeli-government-changed-the-west-bank-during-the-first-year-of-war

[2] https://www.haaretz.com/israel-news/2024-01-17/ty-article-magazine/.premium/israels-army-drafted-thousands-of-settlers-accounts-of-their-violence-are-piling-up/0000018d-12e7-d260-aded-b7efddbe0000

[3] https://www.btselem.org/settler_violence/20231019_forcible_transfer_of_isolated_communities_and_families_in_area_c_under_the_cover_of_gaza_fighting

[4] https://www.972mag.com/west-bank-villages-israeli-settler-violence/

[5] https://www.yesh-din.org/en/the-quiet-overhaul-changing-the-nature-of-israeli-control-in-the-west-bank-analysis-of-israels-37th-governments-annexation-policy-and-its-ramifications/

[6] https://www.timesofisrael.com/smotrich-says-trumps-victory-an-opportunity-to-apply-sovereignty-in-the-west-bank/

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