„Alle Mächte, die die Barmherzigkeit verlieren, haben keine Zukunft“

Das Wohnzelt von Abu Jamal im Jahr 2017, auf den Hügeln im Hintergrund die Siedlungen Ibei Hanahal und Ma’ale Amos; © WCC-EAPPI

Das Beduinendorf Al Ganoub liegt zwischen Hebron und Bethlehem. Hamed Qawasmeh, der Vertreter des Büros des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte für die südliche Westbank hat uns zu einem Besuch dieses Ortes eingeladen. Dieses Mal bin ich mit dem EAPPI-Team aus Hebron unterwegs. Sie sind eigentlich vor allem innerhalb der Stadt tätig. Der Besuch von Al Ganoub im Umland von Hebron ist auch für sie eine besondere Erfahrung.

Al Ganoub liegt zwischen vier Siedlungen; © UNOCHA-OPT Interactive Map

Wir brechen im Regen auf, das vollbesetzte Auto kämpft sich in dichtem Nebel über kurvenreiche Straßen durch Berg und Tal. An einer Tankstelle warten Vertreter der israelisch-palästinensischen Organisation Combatants for Peace auf uns und schließen sich an. Plötzlich sind wir über der Nebelgrenze und überschauen eine karge Hügellandschaft. Eine unbefestigte Straße führt uns auf dem Kamm eines Hügels weiter – vor uns ist nichts zu sehen außer einem roten Schrottauto. Dort halten wir und gleich wird unser Ziel sichtbar: windgeschützt direkt links unterhalb des Hügelkamms erstrecken sich zwei flache Zeltkonstruktionen – das Wohnzelt der Familie Shalalda und der Schafstall, umgeben von einem Gatter. Das traditionelle Familienzelt, üblicherweise aus dicht und dick verwebter Schafwolle, ist einem Brandanschlag zum Opfer gefallen, wird uns später Abu Jamal erzählen. Jetzt spannen sich große Plastikplanen über Balken und Gestänge, beschwert von Autoreifen, die an Seilen aneinander hängen. Wir werden in das überraschend warme Zelt gebeten. In einer Ecke sind ordentlich auf Kante die Matratzen und Schlafdecken übereinander gestapelt, in der anderen Ecke ist die Küche mit Wasserkanistern, Spüle und zweiflammigem Gasherd. Rundum Sitzgelegenheiten auf Sesseln, einer Bank, auf Teppichen und freundlich bereit gestellten Plastikstühlen. Abu Jamal und seine Familie freuen sich sichtlich über den Besuch. Der erste Kaffee lässt nicht lange auf sich warten.

Abu Jamal (links) im Gespräch mit Vertreter:innen von Combatants for Peace und WCC-EAPPI; © WCC-EAPPI

Abu Jamal ist mit 73 Jahren der Älteste seines Clans und seines Dorfes Al Ganoub. Hamed erzählte uns auf dem Weg, dass er das Rückgrat der kleinen Gemeinschaft sei. Neun von 16 Familien haben bereits den Ort verlassen, weil sie die Übergriffe der Siedler nicht mehr ertragen. Der Druck auf die verbliebenen sechs Familien ist immens gestiegen, und im Zentrum der Angriffe steht Abu Jamal. Denn die Siedler wissen um seine tragende Rolle in der Gemeinschaft. „Wenn Abu Jamal geht, ist das Dorf Geschichte“, sagt der UN-Vertreter.

Abu Jamal beeindruckt mit Ruhe und Unaufgeregtheit. Am 8. Februar gab es einen gezielten Angriff auf ihn, den er mit Glück, schweren Kopfverletzungen und vier gebrochenen Fingern überlebt hat. Aber es war keine Frage für ihn, direkt aus dem Krankenhaus zurück nach Al Ganoub zu gehen. „Hier bin ich geboren, hier ist das Land unserer ganzen Familie, hier werde ich mein Leben beenden. Wieso sollte ich weggehen?“, fragt er. „Wir greifen niemanden an, aber wir verteidigen uns. Gott hat Männer und Frauen geschaffen, und Stämme und Völker, damit sie sich begegnen, nicht damit sie gegeneinander kämpfen.“ Er erzählt, dass es anfangs nach guten Beziehungen aussah, als der Bau der Siedlungen Mitte der Achtziger Jahre begann. „Sie haben uns besucht und ärztliche Hilfe im Falle von Schlangenbissen oder Skorpionstichen angeboten.“ Inzwischen ist Al Ganoub von den Siedlungen Ma’ale Amos, Metzad, und den Außenposten von Pnei Kedem und Ibei Hanahal umgeben. Seit zwei Jahren gebe es große Probleme, und die Siedlungen weiteten sich immer mehr aus. Ihre Zisternen seien mit Urin und Kot verunreinigt worden, und immer wieder tätliche Angriffe. „Wenn wir unsere Schafe weiter als 15m von unserem Ort weiden lassen, tauchen Siedler auf und machen Ärger.“

Der fehlende Respekt der Siedler beschäftigt ihn sehr. „Wir sind Schäfer. Das war einer der ersten Berufe überhaupt. In allen Völkern und Kulturen standen am Anfang die Schäfer. Wir sind vielleicht nicht sehr gebildet, aber als Schäfer lernen und praktizieren wir drei Grundregeln, ohne die keine Gesellschaft funktionieren kann: wir brauchen Mut, wir brauchen Barmherzigkeit und Anerkennung der gleichen Rechte anderer Schäfer.“

Als am 8. Februar die Schläger kamen, war er allein mit seiner Frau, einer Schwiegertochter und einigen Kindern. Er schickte sie weg, rief das Internationale Rote Kreuz an und blieb neben dem bereits erwähnten roten Schrottauto stehen. Zuerst seien zwei Autos und ein geländegängiger Klein-Traktoren gekommen, dann weitere Geländewagen. Am Ende seien es über 50 Personen gewesen. Seine Schilderung des Vorfalls erinnert erschreckend an anderortige paramilitärische Strategien: Die Männer hätten sich in einer Reihe aufgestellt, ein Anführer habe eine Ansprache gehalten, die die formierten Männer mit einem Ruf beantwortet hätten, und dann seien einige Männer auf ihn zugegangen, und einer habe ihn mit einem großen Stein gegen den Kopf geschlagen. Ein weiterer Schlag habe ihn zu Boden gestreckt. Sie hätten weiter auf ihn eingeschlagen, auch mit Schlagringen und Stangen. Er habe seinen Kopf mit einer Hand zu schützen versucht. Deshalb die vier gebrochenen Finger.

Der Schafstall der Familie Shalalda, eine Siedlung im Hintergrund; © WCC-EAPPI

Benachbarte Familien versuchten zu Hilfe zu kommen, wurden jedoch von den Schlägern zurückgehalten, zwei seiner Söhne eilten vom nächsten Dorf Sa’ir zu ihrem Vater und wurden ebenfalls bedroht, berichtet Abu Jamal. Schließlich sei Militär aufgetaucht, aber die Schläger konnten alle rechtzeitig entkommen.  Es ist Abu Jamal wichtig zu erwähnen, dass eine Soldatin sich direkt um ihn gekümmert und seine Kopfwunden abgetupft habe. „Wenn nur alle Soldaten so wie sie wären!“ Schließlich wurde er bis zur befestigten Straße getragen und in einer israelischen Ambulanz  bis zum Checkpoint Richtung Hebron gefahren. Dort wurde er in eine palästinensische Ambulanz umgeladen und schließlich ins Al Ahli-Krankenhaus in Hebron gebracht. Besatzungs-bürokratisch ausgedrückt: Da Abu Jamal Palästinenser in den Besetzten Gebieten ist, kann er nur in einem palästinensischen Krankenhaus in Zone A oder B behandelt werden. Deshalb diese lebensgefährliche Unterbrechung des Verletztentransports am Checkpoint zwischen Zone C und Zone A[1].

Nach fünf Tagen hat Abu Jamal das Krankenhaus verlassen und ist, wie eingangs geschildert, in sein Familienzelt auf dem Hügel von Al Ganoub zurückgekehrt. Die geschiente Hand wird noch eine lange Weile  verbunden bleiben, die vernähten  Kopfwunden haben zu heilen begonnen. Aufgeben ist noch immer kein Thema für Abu Jamal, auch wenn seine Umgebung ihn dazu drängt, ins nächste Dorf zu ziehen. „Alle Mächte, die die Barmherzigkeit verlieren, haben keine Zukunft,“ so seine feste Überzeugung. „Sie nehmen einfach anderen Leuten ihr Land weg und glauben, das sei zu ihrem Vorteil. Aber damit verursachen sie selbst einen so hohen Druck, der schließlich auf eine Explosion zusteuert.“

Hamed Qawasmeh ist froh, dass Abu Jamals Fall wenigstens von Teilen der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Das gibt für eine Weile Schutz. Die Übergriffe auf zahlreiche Beduinendörfer im Norden und Süden der Westbank gehen unterdessen weitgehend unbemerkt weiter. Er befürchtet, dass die palästinensische Beduinenkultur in spätestens 10 Jahren ausgelöscht sein wird, wenn kein Kurswechsel gelingt – in Richtung Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, wie Abu Jamal wahrscheinlich sagen würde.

Abu Jamal hat Anzeige bei den israelischen Behörden erstattet. Sein Fall wird rechtlich von der israelischen Menschenrechtsorganisation Yesh Din begleitet, deren Arbeit sich auf die Besetzten Gebiete konzentriert.[2] Auch die palästinensisch-israelische Organisation Combatants for Peace[3] wird die Familie weiter begleiten.

Danuta, März 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind. Das Programm bittet darum, dass private Stellungnahmen nicht weitergeleitet oder veröffentlicht werden.

[1] In Zone A sind die Palästinensischen Autoritäten für alle zivilen und Sicherheitsbelange zuständig, in Zone B für die zivilen Belange und gemeinsam mit Israel für Sicherheitsfragen, in Zone C übt Israel die zivile und sicherheitsbezogenen Autorität aus.

[2] www.yesh-din.org

[3] www.cfpeace.org

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