Nowhere left to go

Jericho zu verlassen, war in den ersten Wochen meines Aufenthalts jederzeit problemlos möglich, da meist einer der drei Checkpoints an den Ausfahrtstraßen der Stadt unbemannt war. Doch nachdem die israelische Armee nahezu zeitgleich mit der Waffenruhe in Gaza am 19.01.2025 im Westjordanland die Aktion „Iron Wall“ (Eiserne Mauer) gestartet hat, wurden die bereits zuvor bestehenden massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Palästinenser:innen noch einmal verschärft.

Wir kommen nur noch schwer und mit langen Wartezeiten aus der Stadt, werden täglich kontrolliert und stehen dafür extra früh auf, um den größten Stau zu vermeiden. Jericho, wie das gesamte Westjordanland, befindet sich durch die militärische Operation über Nacht in einer Art Lockdown, der Verkehr zwischen den Dörfern und Städten ist quasi zum Erliegen gekommen. Viele Menschen müssen teilweise die ganze Nacht im Auto ausharren, kommen nicht nach Hause und nicht zur Arbeit. „Iron Wall“ ist laut dem israelischen Finanzminister Smotrich „eine langfristige und nachhaltige Operation gegen Terroristen und ihre Anstifter, um die Siedlungen und Siedler zu schützen und die Sicherheit Israels zu gewährleisten.“[1] Die Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika der internationalen Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council (NRC) Angelita Caredda sagt zu den neusten Entwicklungen: „Wir beobachten im Westjordanland beunruhigende Muster unrechtmäßiger Gewaltanwendung, die unnötig, wahllos und unverhältnismäßig ist. Dies erinnert an die Taktik der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen“.[2]

Stau am südlichen Checkpoint in Jericho Foto © WCC-EAPPI/Fabian
Stau am südlichen Checkpoint in Jericho Foto © WCC-EAPPI/Fabian

Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen im Westjordanland ist seit Jahren massiv eingeschränkt. Checkpoints, Mauern, Zäune, Polizeikontrollen, Schranken, Betonklötze oder ausgehobene Gräben: Laut UNOCHA[3] gab es im September 2024 etwa 800 Sperren, die nicht nur die Bewegung von Menschen und Gütern be- oder verhindern, sondern auch jederzeit von der Armee dazu genutzt werden können, ganze Dörfer und Städte vollständig abzuriegeln. Die seit Mitte Januar zusätzlich implementierten Sperren (mindestens 20 neue Schranken an Zufahrtsstraßen von Dörfern und Städten, zahlreiche Straßensperren, Erdhügel und Gräben[4]) führen laut dem lokalen OHCHR-Büro dazu, dass „Gemeinden praktisch auseinandergerissen und das tägliche Leben weitgehen gelähmt wird.“[5] Familien werden getrennt, der Weg zur Arbeit wird zur täglichen Odyssee, die Wirtschaft macht massiv Verluste, Kranke erreichen keine ärztliche Versorgung und auch die Schulbildung ist betroffen, wie in meinem früheren Beitrag beschrieben[6].

Israelische Siedler:innen sind von all dem nicht betroffen, die Checkpoints und Barrieren befinden sich an den Ein- und Ausgängen palästinensischer Städte und Dörfer und an deren Verbindungsstraßen. Siedler:innen bewegen sich frei in den besetzten Gebieten, mit Ausnahme der zumindest theoretisch unter palästinensischer Sicherheitskontrolle stehenden A-Gebiete, die etwa 18% des Westjordanlands ausmachen. Darüber hinaus investieren israelischen Regierungen seit Jahren massiv in den Ausbau des Straßennetzwerks zwischen Siedlungen[7], das die Bewegungsfreiheit von Palästinenser:innen weiterhin einschränkt. So z.B. in der ganz im Norden des Jordantals gelegenen Gemeinde Bardala: Seit September 2024 wird eine Militärstraße rund um das Dorf gebaut, die nicht nur den Zugang der Einwohner:innen von Bardala zu ihren Weideflächen stark beschränken wird. Mittlerweile haben Siedler die Gunst der Stunde genutzt, und in der Nähe einen neuen Außenposten errichtet, von dem aus sie die Bewohner:innen des Dorfes schikanieren und Weidegänge verhindern.[8] Die israelische Menschenrechtsorganisation PeaceNow berichtet außerdem, dass 2024 etwa 114km Straßen ohne behördliche Genehmigung in und um Siedlungen gebaut wurden[9]

Bau einer israelischen Militärstraße um das Dorf Bardala im nördlichen Jordantal; Foto © WCC-EAPPI/Fabian
Bau einer israelischen Militärstraße um das Dorf Bardala im nördlichen Jordantal; Foto © WCC-EAPPI/Fabian

Bei unseren Besuchen in den Gemeinden im Jordantal ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit immer ein Thema. Auf unseren beinahe täglichen Fahrten von Jericho in den Norden sehen wir am Hamra Checkpoint, der den Zugang zur zentralen Westbank reguliert, jedes Mal die endlosen Autoschlangen. Überall sprechen die Menschen von den Checkpoints, jede:r ist betroffen und hat persönliche Geschichten zu erzählen. Viele berichten uns, dass sie seit dem 07. Oktober 2023 aufgrund der Sperren und starken militärischen Präsenz nur noch reisen, wenn es sich nicht vermeiden lässt, zum Beispiel für Arztbesuche, dringende Einkäufe oder Beerdigungen. Niemand hat Lust darauf, stundenlang im Auto festzusitzen oder das Risiko einer vermeidbaren Fahrt auf sich zu nehmen, da immer ungewiss ist, wann und ob man überhaupt ankommt.

So hören wir zum Beispiel immer wieder, dass Menschen notwendige ärztliche Untersuchungen und Behandlungen nicht in Anspruch nehmen, da die Checkpoints eine zu große Hürde darstellen. Auch wenn sie sich bewusst sind, dass Krankheiten oder Verletzungen dadurch unentdeckt oder unbehandelt bleiben könnten. Vor kurzem ist ein junger Mann in der Gemeinde Al Farisiye völlig unerwartet verstorben. Die Familie hadert damit, ob er vielleicht rechtzeitig medizinische Versorgung in Anspruch genommen hätte, wenn der Weg nicht mit so vielen Hindernissen verbunden gewesen wäre. In Furush Beit Dajan erzählt uns ein Einwohner, dass er vier Jahre lang jeden zweiten Tag aufgrund einer Diabetesbehandlung den Checkpoint überqueren musste und fast jedes Mal stundenlang an Checkpoints und anderen Sperren festsaß. Ende Januar lesen wir in den Nachrichten, dass eine Frau in der Nähe von Hebron an einem Herzinfarkt gestorben ist, weil sie auf dem Weg zum Krankhaus an einem Checkpoint aufgehalten wurde. Kürzlich berichtete der Manager des Palästinensischen Roten Halbmondes, dass die Krankenwagen auf dem Weg zum Notfalleinsatz vom israelischen Militär zur Inspektion an den Checkpoints aufgehalten werden: „Wir werden, wie jedes andere Auto behandelt.“[10] Angehörige von Verstorbenen berichten uns, dass sie aufgrund der Checkpoints nicht an Trauerfeiern teilnehmen und Abschied nehmen konnten.

Geschlossene Schranke auf einer Straße in Beit Jala, Bethlehem Foto © WCC-EAPPI/Amos
Geschlossene Schranke auf einer Straße in Beit Jala, Bethlehem Foto © WCC-EAPPI/Amos

Viele schwangere Frauen haben Angst davor, nicht rechtzeitig zur Geburt ins Krankenhaus zu kommen. In der Vergangenheit hat es immer wieder Geburten an Checkpoints gegeben.[11] Ein Taxifahrer erzählt uns, dass er seine hochschwangere Frau aufgrund geschlossener Checkpoints in Jericho auf gefährlichen Alternativrouten ins nächste Krankenhaus fahren musste. Um dieses Risiko zu umgehen und das Krankenhaus sicher erreichen zu können, sei auch seine schwangere Schwägerin vorübergehend umgezogen.

Ein im Januar veröffentlichter Bericht der internationalen Hilfsorganisation Medecines Sans Frontiere bestätigt, was uns von den Menschen hier berichtet wird: „Die Intensivierung der israelischen militärischen Übergriffe und die Abriegelung von Dörfern und Städten hat zur Entstehung isolierter Enklaven geführt, die Palästinenser:innen dazu zwingen, längere und gefährliche Alternativrouten zu benutzen, um medizinische Einrichtungen zu erreichen. Selbst kurze Fahrten zu nahegelegenen medizinischen Einrichtungen, die normalerweise nur Minuten dauern würden, können sich zu stundenlangen Torturen entwickeln, da die Palästinenser:innen mehrere Kontrollpunkte und Sperren navigieren müssen.“[12]

Wie Jericho können fast alle Orte und Städte in der Westbank vom Militär komplett abgeriegelt werden. Manche Orte haben nur eine Zufahrtsstraße, auf der das israelische Militär bspw. Schranken errichtet, nach Bedarf schließt und die Einwohner:innen damit quasi einschließt. Diese Praxis konnte ich in mehreren Dörfern beobachten, etwa in Susiya im Süden der Westbank oder in Wadi Fukin nahe Bethlehem. Auch bei einem Besuch in Ein Duyuk al Foqa im Jordantal berichtet uns ein Bewohner, dass dort bald die einzige Straße mit einer Schranke versehen werden soll. Er weiß nicht, wie er dann Wasser und Futter zu seinen Tieren transportieren soll.

Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ist neben der Diskriminierung vor allem auch ein großes wirtschaftliches Problem. Waren kommen nur schwer von A nach B, genauso wie die Arbeiter:innen. Menschen aus Al Farisiye berichten uns, dass sie große Schwierigkeiten haben, die Milch ihrer Tiere und den produzierten Käse in die nächste Stadt zum Verkauf zu transportieren.

Die Bauern aus Furush Beit Dajan können nicht den direkten Weg zwischen ihren Feldern und ihrem aktuellen Wohnort Beit Dajan benutzen, sondern müssen weite Umwege und lange Wartezeiten am Hamra-Checkpoint in Kauf nehmen; Ausschnitt Karte Foto © UNOCHA-OPT West Bank Access Restrictions November 2024
Die Bauern aus Furush Beit Dajan können nicht den direkten Weg zwischen ihren Feldern und ihrem aktuellen Wohnort Beit Dajan benutzen, sondern müssen weite Umwege und lange Wartezeiten am Hamra-Checkpoint in Kauf nehmen; Ausschnitt Karte Foto © UNOCHA-OPT West Bank Access Restrictions November 2024

Viele Landwirte klagen darüber, dass ihre Produkte nicht pünktlich und frisch auf den Märkten ankommen und sie hohe finanzielle Schäden leiden: „Es ist ein großes Problem, das Gemüse durch die Checkpoints zum Markt zu bringen.“, erzählt uns ein Bauer aus Furush Beit Dajan, einer Gemeinde unmittelbar neben dem Hamra Checkpoint. Seit Dezember 2023 haben die israelischen Behörden zahlreiche Wohn- und Nutzgebäude im Dorf zerstört, aufgrund fehlender Baugenehmigungen. Es sei erwähnt, dass 2024 keine einzige Baugenehmigung von den israelischen Behörden für palästinensische Wohngebäude in den israelisch kontrollierten C-Gebieten des Westjordanlands ausgestellt wurde.[13] Die betroffenen Familien mussten notgedrungen ins einige Kilometer entfernte Beit Dajan im palästinensisch verwalteten B-Gebiet ziehen. Obwohl es eine direkte Verbindungsstraße zwischen den beiden Orten gibt, so erzählt uns der Bauer, ist diese für Palästinenser:innen gesperrt, weil an der Straße auch eine völkerrechtswidrige israelische Siedlung liegt. Nun müssen er und die anderen Bauern aus Furush Beit Dajan einen weiten Umweg  zu ihren Feldern im Dorf fahren und sitzen dann noch stundenlang am Hamra-Checkpoint fest. Ein Mann, dessen Haus im Januar zerstört worden war, sagte uns: „Meine Brüder und ich haben unser ganzes Geld gespart und zusammen dieses Haus für unsere Eltern und unsere Familien gebaut, es war ein zu Hause für uns alle.“ Er kann die Gewalt und die Schikane der Soldat:innen gegenüber friedlichen Farmern nicht verstehen: „Du hast nur dieses Leben, warum verbringst du deine Zeit damit, andere Menschen leiden zu lassen?“

Kontrolle am nördlichen Checkpoint in Jericho; Foto © WCC-EAPPI/Fabian
Kontrolle am nördlichen Checkpoint in Jericho; Foto © WCC-EAPPI/Fabian

Die Bewegungsfreiheit der Menschen im Jordantal wird zudem durch zahlreiche militärische Objekte und Sperrgebiete einzuschränken. Etwa ein Drittel der Westbank ist als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen und ca. ein Fünftel (18%) als Truppenübungsgebiet. Tatsächlich für militärische Trainings genutzt werden davon regelmäßig oder sporadisch lediglich 20%.[14] Über die Hälfte der Fläche des Jordantals und des Gebiets am Toten Meer ist als „closed military area“ deklariert.[15] Ein militärisches Sperrgebiet besteht zum Beispiel nahe der Gemeinde Muarrajat East. Truppenübungen haben wir dort nie gesehen, stattdessen haben Palästinenser:innen hier über Jahrzehnte ihre Tiere geweidet. Mittlerweile werden sie von Siedlern oder Soldat:innen häufig gewaltsam daran gehindert. Währenddessen können nun die Siedler aus dem nahen illegalen Außenposten ihre Herden dort ungehindert weiden lassen.

Anderenorts finden Truppenübungen ungeachtet der Nutzung des Landes durch palästinensische Gemeinden statt. Während wir vor einigen Wochen eine Familie aus Khirbet Samra beim Weidegang mit ihren Tieren begleiteten, konnten wir ein Training der israelischen Armee auf den frisch bestellten Feldern der Familie beobachten.

Überall berichten uns die Menschen, dass sie sich wie eingesperrt fühlen. Dabei spielt auch Siedlergewalt eine entscheidende Rolle, wie ich bereits in meinem Bericht „Flaggen im Jordantal“[16] beschrieben hatte. In Ein el Hilwa haben Siedler mittlerweile sogar einen Zaun mit Stacheldraht um die Gemeinde errichtet, der zusätzlich zu den täglichen Übergriffen und der Einschüchterung sicherstellen soll, dass Menschen und Tiere sich nicht frei rund um das Dorf bewegen können. Ein Hirte aus dem Dorf Nuweima sagte uns in seiner Verzweiflung: „Sie wollen, dass wir nur in unseren Häusern bleiben und auch darin sterben.“

Die Freude über die Waffenruhe in Gaza hat in der Westbank aufgrund der militärischen Operationen und der zahlreichen neuen Checkpoints und Gates nicht lang angehalten. Immer wieder höre ich in den Gemeinden Sätze wie „Sie sind in Gaza fertig und nun sind wir dran“. Die Menschen hier im Jordantal leben in großer Sorge aufgrund der Annexionsbestrebungen der israelischen Regierung, viele sehen die aktuellen Maßnahmen als Schritte in diese Richtung. Es ist die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, diesen Entwicklungen entgegenzutreten, sich für eine Ende der Besatzung einzusetzen und bis dahin sicherzustellen, dass Israel seinen Verpflichtungen als Besatzungsmacht nachkommt, zu denen der Schutz und die Sicherheit der besetzten Bevölkerung gehören.    

Fabian, im Februar 2025

Ich habe für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.haaretz.com/israel-news/2025-01-21/ty-article/.premium/israel-opens-days-long-counter-terrorism-operation-in-jenin-west-bank/00000194-88a9-df29-a594-e9ed7b9a0000 Übersetzung des Autors

[2] https://www.nrc.no/news/2025/january/escalation-in-the-west-bank-violations-surge-amid-fragile-ceasefire-in-gaza Übersetzung d.A.

[3] https://www.ochaopt.org/content/movement-and-access-west-bank-september-2024

[4] https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-266-west-bank

[5] https://reliefweb.int/report/occupied-palestinian-territory/accountability-and-human-rights-basis-just-peace-occupied-palestinian-territory-enar

[6] https://www.eappi-netzwerk.de/bildung-ist-die-einzige-zukunft/

[7] https://peacenow.org.il/en/the-roads-boom-in-2020

[8] https://www.haaretz.com/israel-news/2025-02-24/ty-article-magazine/.premium/an-outpost-and-idf-road-block-palestinian-farmers-from-their-land-in-the-west-bank/00000195-37ec-d56d-a7ff-3ffebb6e0000

[9] https://peacenow.org.il/en/the-year-of-annexation-and-expulsion-summary-of-settlement-activity-in-2024

[10] https://apnews.com/article/israel-palestinians-checkpoint-west-bank-hamas-5452633221d1a7b155d822482055b6ea

[11] https://www.thelancet.com/pb/assets/raw/Lancet/abstracts/palestine/palestine2011-4.pdf

[12] https://www.doctorswithoutborders.ca/west-bank-palestine-inflicting-harm-and-denying-care/, Seite 10, Übersetzung d.A.

[13] https://peacenow.org.il/en/the-year-of-annexation-and-expulsion-summary-of-settlement-activity-in-2024

[14] https://www.keremnavot.org/a-locked-garden

[15] https://www.ochaopt.org/sites/default/files/ocha_opt_firing_zone_factsheet_august_2012_english.pdf

[16] https://www.eappi-netzwerk.de/flaggen-im-jordantal/

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