Keine besonderen Zwischenfälle – nur Machtgefälle

Die  Provinzstadt Qalqiliya liegt im Nordwesten der Westbank direkt an der sogenannten Grünen Linie, der international anerkannten Grenze nach Israel, und wird von der in dieser Region wie wild mäandernden Mauer nahezu komplett eingeschlossen. Irgendeine ökonomische Entwicklung in diesem durch die Mauer zur Enklave mutierten Ort ist kaum möglich.

Karte UNOCHA / Humanitarian Atlas 2019; die landwirtschaftlichen Tore in der Trennbarriere sind mit grünen Kreuzen markiert, die palästi-nensischen Orte braun und die Siedlungen lila dargestellt.
Karte UNOCHA / Humanitarian Atlas 2019; die landwirtschaftlichen Tore in der Trennbarriere sind mit grünen Kreuzen markiert, die palästi-nensischen Orte braun und die Siedlungen lila dargestellt.

Eine der besonderen Aufgaben des EAPPI-Teams ist hier das „monitoring der agricultural gates.“ Diese landwirtschaftlichen Tore in der Mauer – die hier in den ländlichen Gebieten als Sicherheitszaun mit Patrouillenstraße und Graben ausgebaut ist – wurden eingerichtet, weil sich viele der Äcker, Gewächshäuser oder Olivenhaine der Bauern hiesiger palästinensischer Dörfer nach dem Mauerbau auf der anderen, von Israel vereinnahmten Seite befinden. Von 77 landwirtschaftlichen Toren werden 55 nur während der Olivenernte geöffnet, lediglich an 13 Toren ist ein Übergang täglich möglich[1]. Die Bauern oder Gewächshausbesitzer brauchen einen Passierschein für sich, ihre Familienmitglieder oder ihre Arbeiter, um auf ihrem Land arbeiten zu können. Die Genehmigungsrate für Landbesitzer ist von 75% (2014) auf 28% (2018) gefallen, für Arbeiter im selben Zeitraum von 70% auf 50%[2]. Wer noch eine Genehmigung erhält darf z.B. an bestimmten Tagen zwischen 6 und 6:30, 12:30 und 13:00 oder 16:30 und 17:00 durch das Tor auf die Äcker oder von dort zurück. Ob die Tore dann tatsächlich geöffnet werden oder erst später – das beobachten wir.

Um 5 Uhr machen wir uns auf den Weg und fahren zum ersten, südlich von Qalqiliya gelegenen Tor. Erst geht es auf einer komplizierten Route durch verschlafene palästinensische Dörfer und vorbei an modernen israelischen Siedlungen. Wir dürfen mit unserem palästinensischen Fahrer nur die „palästinensischen Straßen“ benutzen, die gut ausgebauten „Siedler-Straßen“ sind den Autos mit israelischem Nummernschild vorbehalten. Auf Brücken überqueren und in Tunneln unterqueren wir manchmal diese Straßen. Den letzten Kilometer geht es auf Feldwegen zum ersten landwirtschaftlichen Tor. Dort stehen schon die ersten Landarbeiter, ein paar pickups und Traktoren, Eselskarren und Pferdewagen. Die Wartezeit bietet Gelegenheit zu ein paar Fragen, die Anwesenheit der EAPPI-Freiwilligen wird geschätzt.

EAs an einem agricultural gate © EAPPI
EAs an einem agricultural gate © EAPPI

Einige etwas des Englischen Mächtige geben gerne Auskunft über ihre Situation. Wir hören: Es ist ein Kreuz mit den Genehmigungen; der starre Öffnungsrhythmus entspricht sehr oft nicht ihren wetter- und von der Jahreszeit abhängigen Arbeits-erfordernissen. Man muss nicht wie ich von einem Bauernhof stammen, um das zu verstehen.

Das eine oder andere Taxi rumpelt noch den Feldweg entlang und entlädt weitere Arbeiter. Der Jeep mit den Soldaten kommt pünktlich. Komplizierte Schlösser werden geöffnet, Sperranlagen verschoben, Tore geöffnet. Die Männer formieren sich in einer Reihe und begeben sich einzeln zur Kontrolle. Einige gehen gleich weiter zu ihren Gewächshäusern oder Feldern, andere kommen zurück, steigen auf ihren Eselskarren oder in ihren pick up und durchqueren das Tor. Alles läuft heute reibungslos. Das Tor wird nach einer halben Stunde wieder sorgfältig verschlossen.

Ein agricultural gate © EAPPI
Ein agricultural gate © EAPPI

Wir machen uns auf zum nächsten Tor – einige Kilometer weiter. Wir haben das gleiche Ziel wie die Soldaten, doch sie brauchen nur am Zaun entlang auf der Patrouillenstraße zu fahren, für uns ist der Weg etwas beschwerlicher über Landstraßen und Feldwege. Trotzdem kommen die Soldaten zehn Minuten zu spät –  Kaffeepause? Die Kontrolle hier, eine etwas andere Variante des Rituals: Wer einen Schritt zu früh macht oder zu weit nach vorn rückt, wird zurechtgewiesen – sonst erfolgt der Durchlass aber ohne große Zwischenfälle.

Zum Schluss der Öffnungszeit schreiten die Soldaten an das erste Tor, um es zu schließen, da rauscht ein Auto mit einem verspäteten Arbeiter heran, der zum noch offenen Tor rennt. Es ist eine Minute nach Schluss der Öffnungszeit. Der jüngere der Soldaten, am offenen Tor stehend, die Kette und die Schlüsseln noch in der Hand, beobachtet den auf ihn zulaufenden Palästinenser, legt die Kette um die Pfosten und lässt sich nicht überreden, den Arbeiter noch durchzulassen. Vielleicht verspürt der junge Soldat hier einen pädagogischen Auftrag und will diesen Palästinenser zur Pünktlichkeit erziehen oder er will den ihn begleitenden älteren Soldaten, – seinen Offizier vielleicht,- durch seine konsequente Härte beeindrucken? Genießt er seine Macht? Auf jeden Fall kostet es den um eine Minute Verspäteten seinen Tagesverdienst.

Dass die Soldaten selbst 10 Minuten zu spät gekommen sind – niemand außer den rund 30 Arbeitern und uns wird das groß zur Kenntnis nehmen – es ist einfach ein Zeichen des Machtgefälles, dass diese Verspätung wohl keine Konsequenzen für die Soldaten haben wird.

Eine andere Art „Übergang“ ist der Checkpoint 300 in Bethlehem. Dort sind seit vorgestern 26 neue „electronic gates“ in Betrieb; hier müssen die Arbeiter, nachdem ihr Tagesproviant durchleuchtet wurde und sie selbst den Metalldetektor passiert haben, nur noch ihre Identitätskarte, auf der auch die Informationen zur Arbeitserlaubnis gespeichert sind, auf den Scanner legen. Wenn alles ok ist, gibt ein grünes Signal den Weg nach Israel frei. Die unsägliche, stundenlange Warterei, von der wir zuvor berichtet haben, kann mit gleichbleibendem Personaleinsatz der Soldaten seit vorgestern für die Arbeiter am frühen Morgen entscheidend verkürzt werden.

Zweifellos bedeutet die elektronische Kontrolle für jeden, der hier tagtäglich Stunden verbrachte, einen großen Vorteil und ebenso zweifellos entstehen damit erweiterte Möglichkeiten, das  Bewegungsprofil jedes Arbeiters zu kontrollieren.

Wir sind trotzdem an diesem Sonntagmorgen im April, dem ersten Arbeitstag der neuen Woche, um 4:15 Uhr an Ort und Stelle, um zu schauen, ob die neue, schnellere Abwicklung tatsächlich funktioniert.

Es ist kalt und es schüttet – der Sturm treibt den Regen von der Seite in die langen Gänge; auch im neuen Gebäudeteil des Checkpoints beginnt es an einigen Stellen von der Decke zu tropfen – jeder sucht nach einer geschützten Ecke. Mit uns drängen sich jetzt auch viele Arbeiter, die noch nichts vom neuen System wissen oder sich noch nicht drauf verlassen wollen, dass die Wartezeit wirklich kürzer ist, vor den neuen Abfertigungsschaltern und telefonieren. Ihre Transportmöglichkeiten auf der anderen Seite des Checkpoints sind noch auf die alten Abfertigungszeiten eingestellt und  sie stünden, nachdem sie passiert haben, heute Morgen im Sturm und Regen. So verweilen sie lieber in dieser zugigen Halle.

Aber dann werden die riesengroßen Ventilatoren an der Decke eingeschaltet und auf höchster Stufe erzeugen sie einen eisigen Wind in der ohnehin feuchtkalten Halle. Ich mag es nicht glauben – wer hat sie eingeschaltet und warum? Wer nutzt seine Macht, um die Lage dieser Arbeiter morgens um 5 Uhr noch übler zu gestalten?

Die Arbeiter drücken sich in Ecken und suchen nach weniger ausgesetzten Stellen im Raum oder lassen sich nun doch nach draußen in den stürmischen Regen treiben. Ich rufe die Nummer der „Humanitarian Line“ der israelischen Armee an, werde an eine englisch sprechende junge Frau weitervermittelt, schildere die Situation und bitte höflich darum, die Ventilatoren doch wieder abzustellen. Sie könne nichts versprechen sagt sie. “It`s terribly cold in here – can you please try?“ frage ich. Nach fünf bis zehn Minuten werden die Ventilatoren abgestellt.

Hat mein Anruf das bewirkt? Wer hatte ein Einsehen? Wer hat seine Macht zum Besseren genutzt?

Christa im April 2019

Ich habe für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Meine Berichte und Stellungnahmen geben nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.ochaopt.org/content/fewer-permits-granted-access-land-behind-barrier

[2] Ebd.

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