Die Zerstörung der Lebensgrundlage

Wir waren gerade von der morgendlichen Begleitung von Kindern auf ihren Schulwegen zurückgekehrt und hatten begonnen, unseren Bericht darüber zu schreiben. Da klingelte mein Handy und uns wurde mitgeteilt, dass in einem Dorf außerhalb Bethlehems in der vergangenen Nacht zwei Straßen durch das israelische Militär zerstört worden waren. Einige Nachrichten und Anrufe später erfuhren wir, dass in der letzten Nacht insgesamt sogar drei Zerstörungen stattgefunden hatten. Nachdem wir die Zerstörung der beiden Straßen dokumentiert hatten machten uns auf den Weg zu einer Familie, deren Tierhaltung vollständig zerstört worden war.

Mohammed, der älteste Sohn der Familie, erzählt mir was letzte Nacht geschehen ist; Foto © EAPPI
Mohammed, der älteste Sohn der Familie, erzählt mir, was letzte Nacht geschehen ist; Foto © EAPPI

Direkt nach unserer Ankunft berichten uns die Familienmitglieder: In der vergangenen Nacht gegen 03:30 Uhr kam das israelische Militär mit zwei Bulldozern auf das Land der Familie. Die Bulldozer zerstörten das Zelt, in dem die Hühner gehalten wurden, den Taubenschlag, einen Überseecontainer, in dem das Futter der Tiere lagerte und mehrere Futter- und Wassertröge für die Schafe. Das Wohnhaus blieb unversehrt.

Die beiden Pferde und 24 der 60 Schafe haben die Flucht ergriffen und waren noch unauffindbar, als wir gegen 12:00 mittags auf die Farm kamen. Die anderen Schafe irrten völlig verwirrt auf dem Gelände umher, die Tauben gurrten verzweifelt in den Bäumen, die Hunde bellten und jaulten und ein kleiner Esel humpelte ganz verloren umher – er war bei der nächtlichen Aktion am Beim verletzt worden).

In den Überresten des zerstörten Hühnerstalls sehen wir noch die verendeten Tiere; Foto © EAPPI
In den Überresten des zerstörten Hühnerstalls sehen wir noch die verendeten Tiere; Foto © EAPPI

Das ganze Areal glich einem Schlachtfeld, überall Zerstörung und riesige Furchen der Bulldozer. Zu allem Übel war die ganze Szenerie in einen Duft aus Blut und Tod gehüllt – 40 Hühner waren in dem Zelt, als dieses zerstört wurde – keines überlebte.

Ibrahim, der Vater der Familie, erzählt: „Das, heute Nacht, war die fünfte Zerstörung für uns. 2016 haben sie unser Haus zerstört. Wir wussten nichts davon, wir haben keine Zerstörungsanordnung bekommen. Ich verstehe das nicht! Ein Zelt und ein Überseecontainer sind doch keine festen Bauwerke!“[1]

Im Bereich nördlich von Bethlehem verläuft die Mauer (rote Linie) etwa 3 Kilometer abweichend von der „Grünen Linie“ und trennt so einen großen Bereich des Westjordanlands ab, in dem die Siedlungen Har Gilo und Gilo liegen; Kartenausschnitt interaktive Karte UNOCHA-OPT
Im Bereich nördlich von Bethlehem verläuft die Mauer (rote Linie) etwa 3 Kilometer abweichend von der „Grünen Linie“ und trennt so einen großen Bereich des Westjordanlands ab, in dem die Siedlungen Har Gilo und Gilo liegen; Kartenausschnitt interaktive Karte UNOCHA-OPT

Mohammed, der älteste Sohn der Familie, fügt aufgebracht hinzu: „Die Botschaft an uns soll ganz klar sein: ‚Verlasst dieses Land!‘. Die können jeden unserer Schritte genau sehen.“ Das Land der Familie liegt direkt an der Mauer, die hier, mehrere Kilometer entfernt von der international anerkannten Grenze („Grüne Linie“) weit innerhalb des Westjordanlands verläuft. Christliche und muslimische Familien aus Beit Jala verloren durch den Mauerbau den Zugang zu ihrem Land bzw. können dieses nur noch sehr eingeschränkt und durch Kontrollen betreten.

Auf diesem abgetrennten Teil des Westjordanlands stehen auch die nach internationalem Recht illegalen israelischen Siedlungen Gilo und Har Gilo. Vom Wachturm der Siedlung oben auf dem Berg ist das Land der Familie einzusehen.

Zwischen den verbliebenen Schafen sitzt die Familie in den Trümmern ihrer Existenzgrundlage – im Hintergrund die Mauer; Foto © EAPPI
Zwischen den verbliebenen Schafen sitzt die Familie in den Trümmern ihrer Existenzgrundlage – im Hintergrund die Mauer; Foto © EAPPI

Mohammed sagt weiter: „Wir sind doch bloß einfache Bauern. Warum tun sie uns so was an? Wollen sie uns kaputt machen, weil wir Palästinenser sind? So viele Tiere mutwillig und ohne Zweck zu töten, das ist eine Sünde!“

Olivenbäume werden gefällt und Land geebnet, Vorbereitungen für den Straßenbau auf der anderen Seite der Mauer; Foto © EAPPI
Olivenbäume werden gefällt und Land geebnet, Vorbereitungen für den Straßenbau auf der anderen Seite der Mauer; Foto © EAPPI

Als wir da nun so stehen und uns die Geschichte der vergangenen Nacht erzählen lassen, nehmen wir plötzlich die Geräusche von mehreren Motorsägen wahr. Auf Nachfrage, wo diese Geräusche herkommen, wurde uns erklärt, dass Israel gerade palästinensische Olivenbäume auf der anderen Seite der Mauer fällen lässt, um dort eine Straße, die Jerusalem mit den Siedlungen im südlichen Westjordanland verbindet, auszubauen[2].

Der Überseecontainer hatte als Lagerplatz gedient, bis dato habe ich diese Container für quasi unzerstörbar gehalten. Foto © EAPPI
Der Überseecontainer hatte als Lagerplatz gedient, bis dato habe ich diese Container für quasi unzerstörbar gehalten. Foto © EAPPI

Auf dem Weg zurück zum Auto sagte unser Fahrer zu mir: „Das reicht mir jetzt für heute. Ich kann nicht mehr und ich muss jetzt nach Hause! Ich kann einfach nicht verstehen, wie Menschen sich so etwas gegenseitig antun können und warum sie uns so sehr verabscheuen.“

Mir fehlen die Worte. Die scheinbar blinde Zerstörungswut und der Gefühlsausbruch unseres Fahrers gehören zu den traurigsten und eindrücklichsten Momenten, die ich bis jetzt hier erlebt habe.

Charlotte, im Januar 2020

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von Pax Christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

 

[1]              Das Land der Familie zum Teil im vollständig von Israel kontrollieren und verwalteten C-Gebiet der Westbank, wo Genehmigungen für palästinensische Bauten so gut wie nicht zu erhalten sind.

[2]              https://peacenow.org.il/en/confiscation-tunnels-road

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