Das einsame Dorf

„Ich kann euch nicht in dieses Dorf gehen lassen, das ist gefährlich. Das ist ein muslimisches Dorf. Die Einwohner werfen Steine auf Fremde und schießen sogar manchmal auf sie“, sagte der Soldat an dem Checkpoint zu uns.

Wir waren auf dem Weg in das Dorf „An Nu´man“. Wir mussten den Checkpoint, an dem wir nun standen, nicht passieren, sondern wurden von den Soldaten zu ihm gerufen. Die Straße, die nach An Nu´man führt, ist mit einer Schranke verschlossen, der Fußgänger Checkpoint nicht besetzt. Der Soldat kontrollierte unsere Pässe und unsere Visa und versuchte uns nun von dem geplanten Besuch des Dorfes abzuhalten. „Was soll An Nu´man überhaupt sein? Meint ihr Mizmoriy?“, ergänzte ein weiterer Soldat. Wir verstanden nicht, was er meinte, aber machten ihnen deutlich, dass wir eine wichtige Verabredung mit einem Bewohner des Dorfs An Nu´man hatten. Nach weiteren Versuchen uns davon abzuhalten, ließ er uns endlich gehen, mit den Worten: „Seid vorsichtig. Und ihr geht auf eigene Verantwortung. Es ist gefährlich.“

Ohne den Spannungsbogen zerstören zu wollen, muss ich eines vorwegnehmen: Es war nicht gefährlich! Die Befragung von den Soldaten am Checkpoint, mit ihren schussbereiten Maschinengewehren war unangenehm und ist jedes Mal wieder irgendwie bedrohlich. Der Aufenthalt in Al Nu´man war es nicht.

An Nu'man - Karte UNOCHA
An Nu’man – Karte UNOCHA

Bis vor 50 Jahren, vor der Besetzung der Westbank durch Israel, war An Nu´man ein kleiner, unscheinbarer Ort nördlich von Bethlehem. Nach dem 6-Tage-Krieg 1967 änderte sich jedoch alles. An Nu´man wurde über Nacht zu einem Teil von Jerusalem erklärt, die meisten Bewohner erhielten jedoch keine sogenannten „Jerusalem-Ausweise“ sondern blieben in der Westbank registriert. Um offiziell nach Jerusalem und Israel einreisen zu können würden sie eine Genehmigung benötigen. Nur das Land, auf dem das Dorf gebaut ist, gehörte nun also aus israelischer Sicht zum Staat Israel, jedoch nicht die Menschen von An Nu’man. Mit gravierenden Folgen: Seit 2002 ist das Dorf von seiner Umgebung vollkommen abgeschnitten und isoliert, durch eine Kombination aus der Trennbarriere, die zwischen Dorf und Großraum Bethlehem gebaut wurde, der illegalen Siedlung „Har Homa“, die jedes Jahr um viele Wohneinheiten wächst, und der Straße 398, die den Siedlern der Umgebung dient, für die Bewohner An Nu’mans jedoch unzugänglich ist. Seit dem Jahr 2006 erreicht man das Dorf nur noch durch einen Militär-Checkpoint. Er ist die einzige Ein- und Ausfahrt.

An der Zufahrt zu An Nu'man gibt es keinen Hinweis auf das Dorf
An der Zufahrt zu An Nu’man gibt es keinen Hinweis auf das Dorf

Dabei besteht der Ort nur aus einer Straße, ca. 30 Häusern und 300 Einwohnern. Es gibt keine Einkaufsmöglichkeiten und keine Schule in An Nu´man, sodass alle Einwohner gezwungen sind, den Checkpoint zu benutzen um das Dorf zu verlassen. Auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit, beim Einkaufen oder für einen Arztbesuch. Öffentliche Verkehrsmittel wie Busse oder Taxen dürfen nicht in das Dorf. Es gibt nicht mal ein Straßenschild, das auf die Existenz des Ortes verweist. Das Schild, welches auf die Straße nach An Nu´man zeigt, ist mit „Mizmoriy“ beschriftet, dem israelischen Namen für diese Region. Jetzt wissen wir, was der Soldat meinte.

Anas Ibrahim Dirawi aus An Nu'man
Anas Ibrahim Dirawi aus An Nu’man

Im Dorf treffen wir uns mit Anas Ibrahim Dirawi. Anas ist 27 Jahre alt und ist in An Nu´man geboren und aufgewachsen, arbeitet als studierter Ingenieur für Straßenbau in Bethlehem für die Palästinensische Autonomiebehörde und spricht sehr gut Englisch. Er ist ein sehr freundlicher junger Mann, der uns Kaffee, Süßigkeiten und Wasser anbietet, denn es ist ein heißer Tag. Wir sitzen im Schatten hinter seinem Haus und er beginnt von seinem Leben und der Situation seines Dorfes zu erzählen:

„Ich wohne seit meiner Geburt in diesem Haus, zusammen mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester. Mein großer Bruder wohnt nebenan mit seiner Familie, in dem Haus, das mein verstorbener Großvater gebaut hat. Gott hab ihn selig.“

Er fragt uns, ob es uns störe, wenn er raucht, wir verneinen und er zündet sich eine Zigarette an.

„Mein Großvater war sehr reich und hat dieses Grundstück für seine Familie gekauft und diese beiden Häuser gebaut. Das war 1953. Mein Bruder hat jetzt eine Frau und zwei Kinder, die fünf und sieben Jahre alt sind. Das Haus, in dem er wohnt, ist klein und er wollte es um zwei Zimmer erweitern. Knapp zehn Quadratmeter nur. Also hat er einen Antrag bei der Stadtverwaltung von Jerusalem gestellt. Und natürlich wurde dieser abgelehnt. Das ist eines der großen Probleme für uns, wir dürfen hier nichts bauen. Weil das Haus aber zu klein war, haben wir die Zimmer trotzdem gebaut. Aber das israelische Militär sieht alles. Sie kamen mit Luftaufnahmen aus dem Jahr 1998 und von letztem Jahr und sagten, dass wir illegal gebaut hätten und dass wir die Räume abreißen müssen. Ansonsten würde ein Abrisskommando kommen und wir würden die Kosten zahlen müssen.

Also haben mein Bruder und ich einen großen Hammer genommen und die Wände wieder eingerissen, soweit wir mussten.“

Ich frage, ob wir das Haus sehen können und wir gehen über das Grundstück zu dem Haus seines Bruders. Er zeigt uns den Haufen Schutt im Garten. Das waren einmal die Wände der Kinderzimmer. Wir stehen auf einer überdachten Terrasse, aber man sieht am Haus noch, dass da einmal eine Wand war.

Blick von An Nu'man auf die Siedlung Har Homa, die stetig in Richtung des Dorfes erweitert wird
Blick von An Nu’man auf die Siedlung Har Homa, die stetig in Richtung des Dorfes erweitert wird

„Die Terrasse durften wir Gott sei Dank stehen lassen, aber das löst das Platzproblem nicht. Und so geht es allen hier im Dorf. Wir dürfen einfach nichts bauen, obwohl es doch unser Grund und Boden ist. Aber die Siedlung Har Homa, die wächst jedes Jahr um viele große Wohneinheiten. Und das Land gehört ihnen nicht. Wir verstehen das nicht.

Bald haben sie das Land von An Nu´man erreicht und werden darauf weiterbauen. Vor ein paar Jahren haben die Israelis zwei Häuser, die auch keine Baugenehmigung hatten, zerstört, die Ruinen kann man noch sehen. Seitdem wissen wir, dass sie es ernst meinen.

Sie haben meinem Vater und vielen anderen Landbesitzern im Dorf, Angebote gemacht, um das Land zu kaufen. Aber er hat das Land von seinem Vater geerbt, es ist seine Heimat und genauso ist es meine Heimat. Niemals würde er unser Land verkaufen. Das Land ist wie das eigene Leben! Das kann man nicht verkaufen.“

Wir gehen zurück zu den Stühlen hinter seinem Haus und Anas schenkt uns noch ein Glas Wasser ein.

Blick von An Nu'man in Richtung Bethlehem, im Vordergrund die Trennbarriere
Blick von An Nu’man in Richtung Bethlehem, im Vordergrund die Trennbarriere

„Ich weiß, dass viele Palästinenser ähnliche Probleme haben, aber wir haben noch ein zweites großes Problem: Niemand darf in unser Dorf kommen nicht mal Familienangehörige, weil hier ja offiziell schon Jerusalem ist. Seitdem die Israelis 2006 den Checkpoint gebaut haben, braucht man ein Permit (Erlaubnisschein) von der israelischen Militärverwaltung, um nach An Nu´man zu kommen. Es sei denn, man wohnt hier. Zieht man von hier weg, verliert man die Erlaubnis, wieder hierher zu kommen, denn so ein Permit hat fast noch niemand bekommen.

Ich hatte einmal eine feste Freundin, die ich sehr geliebt habe. Ich wollte sie heiraten und habe ihren Vater um ihre Hand angehalten. Als er aber hörte, dass ich aus Al Nu´man komme, hat er mich weggeschickt. Er wollte seine Tochter nicht nach Al Nu´man ziehen lassen, weil ihre Familie sie nie hätte besuchen können. Das hat mich fürchterlich traurig gemacht. Ich werde wohl eine Frau aus dem Dorf heiraten müssen, eine arrangierte Ehe, ohne Romantik, damit ich meine Heimat nicht verliere. Aber was soll ich tun?“

Er sieht wirklich traurig aus, während er uns seine Geschichte erzählt und mir drängt sich die Frage nach dem ‚warum?‘ auf. Warum diese Ungerechtigkeit, warum diese Unterdrückung? Warum macht Israel alles, um den Dorfbewohnern das Leben so schwer wie möglich zu machen? Anas scheint meine Gedanken zu erraten.

Ökumenischer Begleiter im Gespräch mit Anas Dirawi
Ökumenischer Begleiter im Gespräch mit Anas Dirawi

„Wisst ihr, Israel möchte dieses ganze Gebiet für sich haben. Deshalb gehört es auch offiziell zum Stadtbereich Jerusalem, ohne, dass wir auch nur eine Leistung der Stadt Jerusalem bekommen. Hier soll ein Park oder so entstehen, oder die Siedlung Har Homa soll bis hier erweitert werden, es gibt viele Gerüchte. Die israelischen Behörden machen uns das Leben so schwer, dass wir es fast nicht mehr aushalten. Wo sollen wir leben, wenn wir nicht bauen dürfen? Wie soll das weitergehen? Wie soll ich eine Familie gründen? Irgendwann wird es mein Dorf nicht mehr geben, wenn es so weitergeht. Und das wollen sie erreichen. Es ist eine langfristig geplante, erzwungene und stille Umsiedlung. Für uns Palästinenser fühlt es sich an, als würde Israel permanent einen Krieg gegen uns führen. Sie greifen unsere Privatsphäre, unsere Heimat, unseren Boden an und wollen ihn erobern. Mit stiller Gewalt. Aber ich werde das nicht zulassen. Ich bleibe hier.“

Wir haben noch eine ganze Weile hinter dem Haus auf den Stühlen im Schatten gesessen und uns unterhalten. Wir sprachen nicht nur über die Besatzung und die Ungerechtigkeit, sondern auch über die alltäglichen, schönen Dinge des Lebens. Seine Pläne und seinen Beruf. Anas hat uns auch gefragt, wie wir helfen können und was EAPPI machen kann, um die Lage des Dorfes und die der Palästinenser zu verbessern.

Wir erzählten von unserer Tätigkeit, von der Zusammenarbeit mit internationalen, israelischen und palästinensischen Organisationen und dass wir uns für ein Ende der Besatzung und einen gerechten Frieden in unserer Heimat einsetzten, indem wir informieren. Ich sagte, dass ich zum Beispiel seine persönliche Geschichte und die seines Dorfes nutzen könnte, um einen Artikel zu schreiben. Dann könnten die Menschen, die ich erreiche, einen Teil der Lebenswirklichkeit in Palästina kennenlernen. Eine Wirklichkeit, die geprägt ist von Ungerechtigkeiten und von erlittenem Leid. Aber auch eine Geschichte des nicht-Aufgebens und der Standhaftigkeit. Anas gefiel der Gedanke sehr und er bedankte sich herzlich für unsere Arbeit.

Und hier ist sie. Die Geschichte eines Palästinensers, der unter der Besatzung Israels lebt und der sich nicht unterkriegen lässt. Die Geschichte eines Mannes, der für seine Heimat kämpft. Friedlich, Gewaltlos, trotz aller Widrigkeiten.

Es ist die Geschichte von Anas Ibrahim Dirawi und seinem Dorf An Nu´man.

Florian, im Juni 2017

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner