Der Albtraum vom Eigenheim

Hauszerstörung in Al Walaja
Hauszerstörung in Al Walaja

Es gibt Geräusche, die sich einem ins Gedächtnis einbrennen und die man nicht wieder vergisst. Für mich ist es zum Beispiel der Ruf des Muezzins in der Altstadt von Jerusalem, oder der Wind, der durch die Olivenbäume in den Feldern um Bethlehem geht. Beide Geräusche verbinden mich automatisch mit den entsprechenden Bildern. Die Geräusche sind wie eine Art Zeitmaschine, die mich an den Ort zurückbringt, an dem ich sie gehört habe. Nicht nur die Bilder kommen zurück, sondern auch das Gefühl und die Gerüche.

Der Muezzin und die Bäume im Wind verbinde ich mit sehr schönen, sehr glücklichen Momenten in Palästina. Aber es gibt ein weiteres Geräusch, das ich nicht mehr vergessen kann: Es ist das harte, metallene Hämmern eines gigantischen Schlagbohrers. Das Klirren von zerbrechenden Fensterscheiben. Das Einstürzen von Wänden und das Wehklagen der Hausbesitzer, die in diesen Momenten ihre Heimat und ihre Zukunft verlieren.

An einem sonnigen Donnerstagmorgen war ich mit meinen beiden Kollegen an einer Schule und wir unterhielten uns gerade mit dem Schulleiter, als mich unser Fahrer zur Seite nahm. Er erzählte mir, dass in dem nur wenige Kilometer entfernten Dorf Al Walaja gerade Hauszerstörungen vollzogen werden. Vier Häuser seien betroffen. Ich hatte schon einiges über Hauszerstörungen gelesen, hatte Bilder von den Ruinen gesehen, aber ich war trotzdem nicht auf das vorbereitet, was ich kurze Zeit später mit ansehen musste.

Karte UNOCHA
Karte UNOCHA

Al Walaja liegt heute westlich von Bethlehem im Westjordanland, nah an der Grünen Linie und nah an Jerusalem. Schon im israelischen Unabhängigkeitskrieg verlor  das Dorf 70% an den neu gegründeten Staat Israel. Nach dem 6-Tage-Krieg 1967 und dem Beginn der israelischen Besetzung wurde etwa die Hälfte des Dorfgebiets nach Jerusalem eingemeindet (in der Karte grau; Stadtgrenze blau-gestrichelt). Die betroffenen Einwohner erhielten jedoch keinen sogenannten „Jerusalem-Ausweis“, sondern blieben weiterhin im Westjordanland registriert, was sie de-facto zu „Illegalen“ auf ihrem eigenen Grund und Boden machte. Teile des enteigneten Landes wurden für den Bau der völkerrechtswidrigen Siedlungen Gilo und Har Gilo genutzt. Der andere Teil des Dorfes liegt im sogenannten C-Gebiet (in der Karte hellblau), jenen 62% des Westjordanlands, die unter vollständiger israelischer Kontrolle stehen. Derzeit wird die Mauer (rote Linie in der Karte) auf enteignetem Land unmittelbar am bebauten Teil von Al Walaja entlang errichtet, weit  entfernt von der offiziellen Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland (Grüne Linie). Sie trennt die Einwohner zukünftig von den wenigen, ihnen bis jetzt verbliebenen Feldern und Olivenhainen.

Als wir in Al Walaja ankamen bot sich uns folgendes Bild:

Al Walaja (1)_klein20 Soldaten hatten die Straße am Haus abgeriegelt und hinderten die Bewohner und Nachbarn das Grundstück zu betreten. Im Garten des Grundstücks waren alle Möbel, alles bewegliche Hab und Gut zu großen Haufen aufgetürmt. Von dem Haus war nur noch ein Haufen Trümmer übrig. Ein großer Bagger mit schwenkbarem Arm, an dem ein riesiger Schlagbohrer befestigt war, zerstörte nacheinander einen metallenen Pavillon, die Zufahrt zum Haus und die  Garage, sowie Teile der Gartenmauer. Die Besitzer mussten hilflos zusehen, wie ihr Haus zerstört wurde. Sie schrien und flehten verzweifelt die Soldaten an, und ihre verängstigten Kinder versteckten sich hinter ihnen.

Ich habe noch nie so etwas brutales, ungerechtes, so etwas herzzerreißendes gesehen.

Als kein Stein mehr auf dem anderen war, verließen die Arbeiter und Soldaten das Grundstück. Sie fuhren ein paar hundert Meter weiter und kamen zum nächsten Haus, zur nächsten Familie, deren Zuhause sie zerstören würden. Fassungslos folgten wir ihnen und wurden Zeugen, wie auch dieses Haus leergeräumt und die Möbel in den Garten gestellt wurden.

Al Walaja (3)_kleinDas schreckliche Schauspiel begann erneut und die Szenen ähnelten den bereits geschilderten. Stück für Stück fraßen sich nun jedoch zwei dieser Maschinen in das Haus, in dem wenigen Stunden zuvor noch Kinder geschlafen hatten. Die äußeren Wände wurden eingerissen und boten uns den Blick in das Haus, in die Zimmer, in denen manche Bilder noch an den Wänden hingen, als diese eingerissen wurden.

Ich war fassungslos. Das Geräusch der Zerstörung ist mir noch immer sehr präsent, die Bilder kann ich nicht vergessen. Genauso wenig kann ich die leeren Blicke der Familienväter vergessen, die wir einen Tag später trafen. Hassan[1] hatte 30 Jahre gearbeitet um sich dieses Haus leisten zu können. Es sollte der Alterssitz für ihn und seine Frau und gleichzeitig Ausgangspunkt im Leben seiner fünf Kinder sein. Das Land auf dem er baute hatte er von seinem Vater, und der wiederum von seinem Vater geerbt. Er hatte alles versucht, um eine Baugenehmigung zu erhalten, hatte Besitzurkunden vorgelegt und Anträge gestellt. Es erging ihm aber wie fast allen, die auf ihrem Land bauen wollen, welches im C-Gebiet liegt: Es gibt keine Baugenehmigung[2]. Trotzdem musste er dort bauen. Seine Kinder wurden groß, er konnte nicht länger in der Wohnung seines Bruders leben und so baute er sein Haus auf seinem Land.

Der Abrissbescheid kam kurz nach der Fertigstellung des Hauses. Hassan brachte viel Geld auf, um vor Gericht gegen die drohenden Zerstörung vorzugehen und fühlte sich sicher und im Recht. Seine Papiere belegen eindeutig, dass er Besitzer des Landes ist.

Er hatte eine ausstehende Anhörung vor Gericht und war zuversichtlich. Doch drei Tage vor dieser Anhörung, ohne abschließendes Urteil, machten die Bulldozer das laufende Verfahren überflüssig: Er hat sein Haus und seine Zukunft verloren. Genauso erging es den anderen vier Familien, deren Häuser an diesem Tag zerstört wurden.

Was passiert nun mit den Trümmern?  Werden die Grundstücke von israelischer Seite beansprucht oder könnte es irgendeine andere Erklärung für dieses Vorgehen geben? Nein. Alle vier Häuser liegen mitten im Dorf, und drei von ihnen sind und bleiben ein Haufen Schutt. Ohne Verwendung, ohne Sinn, ein Mahnmal sinnloser Zerstörung.

Das vierte Haus gehörte einer wohlhabenden italienisch-palästinensischen Familie. Sie war schon einen Tag nach der Zerstörung mit Aufräumarbeiten beschäftigt und plante bereits den Wiederaufbau. Sie bezeichneten es als ihre Art des Wiederstandes. Sie wollen ihr Recht geltend machen, als Palästinenser in ihrem Land und auf ihrem Boden zu bauen, zu wohnen und zu leben. „Und wenn sie es uns fünf weitere Male zerstören“, sagte der Vater des Hausbesitzers, „wir werden uns von ihnen nicht das Recht auf unser Land nehmen lassen.“ Glücklich ist der, der sein Recht mit vorhandenem Kapital geltend machen kann. Jedes Mal aufs Neue.

Aber was ist mit den vielen anderen Familien, denen es so geht wie Hassan und seinen Kindern? Wo sollen diese Familien leben, ein Haus bauen und wohnen, wenn sie es auf dem Land ihrer Väter nicht dürfen?

Al Walaja (5)_kleinDie Geräusche und Bilder der Hauszerstörungen kann ich nicht vergessen. Ich war ein Augenzeuge, habe die Gewalt mit eigenen Augen gesehen und ich habe mit den betroffenen Familien gesprochen und ihre Geschichte gehört. Ihre Gesichter, ihre Trauer, ihre Geschichten und ihr Schicksal werden mich begleiten, wie der Muezzin in der Abendsonne Jerusalems und das Rauschen des Windes unter Olivenbäumen in Bethlehem.

Florian, im Mai 2017

[1]Der Name wurde geändert.

[2]Die durchschnittliche Ablehnungsrate liegt bei 98,5%.

 

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