Afaf

Teilnehmende des EAPPI während eines Gottesdienstes in Nablus; @EAPPI
Teilnehmende des EAPPI während eines Gottesdienstes in Nablus; @EAPPI

Afaf ist 75 Jahre alt. Sie lebt in Nablus. Wir lernen sie in den Gottesdiensten der anglikanischen Gemeinde kennen. Sie ist von kleiner Statur und trägt eine Brille mit einem schwarzen Gestell und sehr dicken Gläsern. Im Gottesdienst hat sie eine feste Aufgabe und liest regelmäßig die Stellen aus den Evangelien, die für den jeweiligen Sonntag im Kirchenjahr vorgesehen sind. Das macht einen etwas skurrilen Eindruck, denn sie verfügt über eine laute, hohe Stimme, und gleichzeitig lugt aufgrund ihrer geringen Größe nur ihre schwarze Wollmütze und der obere Rand ihrer Brille über das Pult der Kanzel hervor.

Auch singt sie mit Inbrunst die Kirchenlieder mit. Pia aus dem Yanoun-Team sitzt oft neben ihr, um im Gesangbuch die Noten mit zu lesen, denn sie begleitet den Gesang gerne mit ihrer Flöte, was auch die Organistin an der kleinen Standorgel mit Freude registriert.

So kommt es, dass uns Afaf einmal nach dem Gottesdienst zu sich nach Hause zum Mittagessen einlädt. Sie spricht ein sehr gutes Englisch, auch wenn der Akzent sehr hart ist. Aber das erleichtert nur das Verstehen für mich. Wir nehmen Afaf in unserm Auto mit, und sie lotst unseren Fahrer zu ihrem Haus, das recht nah am Zentrum von Nablus gelegen ist. Direkt gegenüber ihrer Wohnung liegt der Gamal Abdel Nasser Park, eine kleine grüne Oase mitten in den Neubauvierteln der Stadt. Afafs Haus aber ist alt, 1917 erbaut. „Das ist vor Deiner Geburt und sogar noch vor meiner“, wie sie nicht ohne Stolz hervorhebt, als wir eintreten. Wir gelangen in eine Diele, die zugleich als Esszimmer dient, denn in der Mitte steht ein großer Esstisch und an der hinteren Wand gegenüber der Eingangstür befindet sich das Büffet mit dem Geschirr.

Sofort werden wir alle eingespannt. Federico muss den Salat zubereiten. Dazu wird er mit einer für ihn viel zu kleinen Schürze ausstaffiert. Lisa und ich decken den Tisch. Es ist Fastenzeit und daher gibt es kein Fleisch. Afaf stellt stattdessen eine Art Risotto aus Graupen, Linsen, ein wenig Karotten- und Zwiebelgemüse, dass sie offenbar schon am Vortag zubereitet hat, zum Aufwärmen in den Ofen. Als Aperitif reicht sie selbstgemachte Zitronenlimonade.

Afaf schließt uns in ihr Tischgebet ein; @EAPPI
Afaf schließt uns in ihr Tischgebet ein; @EAPPI

Als der Tisch fertig gedeckt ist und die Speisen bereit sind, setzten wir uns und Afaf spricht das Tischgebet. Dabei schließt sie unsere Arbeit ein und bittet um Gottes Segen für unseren „Friedensdienst“. Danach langen wir alle beherzt zu. Afaf braucht lange für Ihr Mahl, denn sie erzählt uns viel aus ihrem Leben. „Ich war mein Leben lang Lehrerin. Studiert habe ich in Bir Zeit“. Sie deutet auf eine alte Schwarz-Weiß-Photographie, die neben vielen anderen auf einem Schreibtisch neben der Eingangstür steht und die sie im Talar zeigt, wie sie ihre Diplomurkunde entgegennimmt. Auf dem Bild erkennen wir eine hübsche, junge Frau. „Meine beiden Eltern sind schon lange tot. Zuletzt starb mein Vater vor 15 Jahren. Seither lebe ich alleine in dieser jetzt viel zu großen Wohnung. Ich habe noch zwei ältere Brüder. Der eine hat in Österreich Pharmazie studiert und lebt auch dort, der andere hat nach Syrien eingeheiratet und ist auch schon vor 15 Jahren verstorben.“

„Und wo kommst Du her?“ fragt sie plötzlich mich. Ich sage: „Ich bin aus Deutschland“. „Kommst Du aus West- oder aus Ost-Deutschland?“ hakt sie nach. „Aus West-Deutschland“ antworte ich. „Das ist gut, dann bist Du kein Kommunist und kein Stalinist.“ Ich verschweige höflich meine marxistische, linksradikale Vergangenheit.

Die Räume mit ihren fast 5 Meter hohen Decken, den alten, großen Zimmertüren und dem schönen, originalen Boden mit arabischen Steingutkacheln, wie sie jetzt auch wieder bei uns in Mode sind, verströmt den soliden Charme einer Altbauwohnung. Die Einrichtung ist wohl weitestgehend auch noch original das Mobiliar ihrer Eltern. Wir kommen uns vor wie in einer Zeitkapsel. „Ich war nie verheiratet“ gesteht sie. „Ich warte mit meinen 75 Jahren immer noch auf den Richtigen“ sagt sie lachend.

Zum Nachtisch gibt es Kanafe, eine palästinensische Spezialität aus einer Art Frischkäse, der mit kandiertem Zucker überzogen und mit Pistazienstreuseln bestreut warm genossen wird. Dazu gibt es schwarzen, arabischen Kaffee. Plötzlich wird Afaf ernst. Sie war ein kleines Kind, als der Staat Israel gegründet wurde, von Palästinensern vor allem auch im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung erinnert. Seit sie denken kann, so sagt sie, sei ihr Leben von Verlust geprägt. Verlust von Land, aber auch Verlust der Angehörigen, die ausgewandert sind, um anderswo ein besseres Leben zu führen. Ihre Verwandten in Syrien zu besuchen sei unmöglich gewesen, und auch den Bruder in Österreich hat sie schon sehr lange nicht mehr gesehen. Schließlich sagt sie:

„Meine Eltern sind tot und ich habe keine Freunde. Ich bin ganz alleine hier.“ Sie hebt den Blick zum Himmel:“ Warum, Gott, mutest Du mir das zu?“ Dabei bricht ihre Stimme und ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Aber ich will mich nicht beschweren. Ich habe meine Rente, und ich habe auch noch eine Arbeit, die ich tun kann, ich bin nicht gebrechlich, und ich habe Jesus und meinen Glauben.“ Wir schweigen, gleichzeitig ein wenig betreten und tief gerührt darüber, dass sie uns so freimütig ihr Herz ausgeschüttet hat.

Zum Abschied deutet sie auf einen von Ihr selbst in Kreuzstichtechnik gestickten und eingerahmten Bibeltext, der ganz oben in der guten Stube an der Wand prangt. Es handelt sich um die in protestantischen Glaubensgemeinschaften vielleicht am meisten geliebte und zitierte Bibelstelle aus dem ersten Korintherbrief: (1 Kor. 13). Afaf rezitiert: „So faith, hope, love remain, these three; but the greatest of these is love.“

Jochen, April 2018

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