Doch, sie ist noch da, meine Sympathie für dieses Land!

Friedenstaube an der Mauer
Friedenstaube an der Mauer

Neben der „eigentlichen“ Arbeit, habe ich es mir inzwischen zur Hauptaufgabe gemacht, nach möglichst vielen, vor allem positiven Facetten in diesem Land zu suchen. Bei allem, was ich höre und erlebe, will ich dieses Land nicht bitter verlassen! Es gibt hier viele Wahrheiten – die auch ganz gegensätzlich nebeneinander stehen können: mittags schlucke ich an meinen Tränen, nachdem wir einen Palästinenser besuchen, dessen Neubau gerade abgerissen wurde – und abends gehe ich inspiriert von einem Vortrag eines Israeli und eines Palästinensers nach Hause. Der Israeli sagte „Vielleicht geht es auf einer spirituellen Ebene darum, Zusammensein und Trennung zu leben.“ Das erlebe auch ich als Herausforderung. Es ist so leicht, das was wir kennen, als die volle Wahrheit anzunehmen. Dagegen hilft nur: offen sein für das, was ganz unerwartet auch da ist.

„Einfach nur da sein“ ist wesentlicher Bestandteil unserer Aufgabe hier. Wie schwer fällt das manch einer von uns, scheint es doch so wenig zu sein. Und wieviel einfacher scheint es zu sein, die Ärmel aufzukrempeln und mit anzufassen – statt „nur“ da zu stehen, zu beobachten und zu berichten. Ich bin dankbar für meine Hebammenerfahrung – wie viele Stunden verbringen wir Hebammen damit, scheinbar „nichts“ zu tun wenn wir bei einer Gebärenden sitzen. Einfach nur da sein.

Hauszerstörungen
Eine solche Gelegenheit bietet sich zum Beispiel, wenn wir bei oder nach Hauszerstörungen anwesend sind. Meist kommen wir erst, wenn alles in Trümmern liegt. So erhalten wir, wie immer in diesen Situationen, eine SMS von der UNO: „ongoing demolition in …“ und gemeinsam mit Firas, unserem Übersetzer und Fahrer sind wir wenig später vor Ort. In einer kleinen Straße finden wir das zerstörte Gebäude. Es handelt sich um den Anbau eines alten Hauses, der vor einigen Jahren errichtet wurde, nachdem sein altersschwacher Vorgänger vor vielen Jahren unter Schnee zusammenbebrochen war. Deshalb hatte die Familie nach eigenen Angaben für diesen Anbau eine offizielle Genehmigung erhalten, und so lebte die 13 köpfige Familie zuletzt auf circa 90 m² – von denen nun circa 30m² fehlen. Baugenehmigungen sind für Palästinenser in Ost-Jerusalem nur sehr schwer zu erhalten, der überwiegende Teil der Anträge wird abgelehnt, vor allem, weil die israelischen Behörden für palästinensisches Wachstum kaum Flächen zur Verfügung stellen, im Gegensatz zu den jüdischen Siedlungen, die auch in Ost-Jerusalem stetig wachsen.

Fassungslosigkeit nach der Hauszerstörung © EAPPI
Fassungslosigkeit nach der Hauszerstörung © EAPPI

Auf den Trümmern sitzen die erwachsenen Söhne des Hauses und versuchen aufzuräumen. Der Schock ist mit Händen greifbar. Asma, die Frau des Hauses, begrüßt uns – und wenig später halten wir jede einen Pappbecher Tee in der Hand. Ein wenig beschämt nehmen wir ihn gern an, die Geste rührt mich – ihre Würde lässt sich die Gastgeberin auch in dieser Situation nicht nehmen.
An diesem Morgen um 3.30 Uhr wird die Familie durch Schläge an die Tür geweckt (die Abrissverfügung war ihnen am Vortag um 18 Uhr zugestellt worden). Vor der Tür stehen Polizisten mit dem Abbruch-Kommando, die Straße ist bereits weiträumig durch 100 oder mehr Soldaten abgeriegelt. Die Familie hat „Glück“: die Straße ist so eng, dass kein Bulldozer hindurchpasst. So wird von Hand abgerissen und das lässt ihnen Zeit, die Möbel in den feuchten Hof zu räumen. Oft bleibt hierfür keine Zeit und alles verschwindet in den Trümmern.
Während der Abbruch des Anbaus vor sich geht, durchsuchen die Polizisten mit Hunden die anderen beiden Zimmer, öffnen einen Tresor. Asmas Bruder spricht sie darauf an und fragt was sie tun, da sie „lediglich“ einen Auftrag zum Abbruch, nicht aber zur Durchsuchung haben. Die Antwort: „We do what we want.“ Dieser Satz geht mir seitdem bei vielen Gelegenheiten durch den Kopf. Kann das wirklich sein?
Die Kosten für die Abrisse müssen von den Hauseigentümern getragen werden (50.000€ oder mehr). Um diesen Kosten zu entgehen, werden manchmal die sogenannten „self-demolitions“ angeboten. D.h. der Hauseigentümer zerstört sein Haus selbst.

Said vor den Trümmern seines Rohbaus
Said vor den Trümmern seines Rohbaus

Dies erleben wir bei Said, einem jungen Mann, der seit Jahren zusammen mit seinem Bruder für den Bau seines neuen Hauses gearbeitet hat. Die Familie besitzt ein Stück Land, welches jedoch im Rahmen der Stadtplanung zur „green area“ erklärt wurde. Er wohnt derzeit mit seiner vierköpfigen Familie in einem Zimmer; das neue Haus soll die gesamte Großfamilie von 15 Personen beherbergen. Als er die Abrissverfügung erhält, ist das Erdgeschoss bereits fertig. Er zerstört daraufhin die Decke des Gebäudes und damit auch die Statik des Baus, die Beweisfotos schickt er zum Gericht. Auch wenn dieser Bau nun nicht mehr zu gebrauchen ist äußert er bei unserem ersten Treffen die Sorge, dass dies dem Gericht nicht reichen wird.
Zwei Tage später erreicht uns die Nachricht, dass sein Bau komplett zerstört wurde. Wieder sind wir dort. Die anwesenden Männer stehen allesamt unter Schock, sprechen nicht, sitzen oder stehen einfach nur schweigend. Ich spüre ihre Niedergeschlagenheit fast physisch. Der am Bau beteiligte Großvater zieht ein Metallteil aus den Trümmern, wirft es auf den Haufen. Ein hilflos wirkender Akt des Aufräumens, den ich immer wieder beobachte.

Der Großvater war am Bau des Hauses beteiligt gewesen
Der Großvater war am Bau des Hauses beteiligt gewesen

Da dieses Gebiet als Grünfläche gilt, ist Said verpflichtet, innerhalb einer Woche die Trümmer aufzuräumen. Tut er dies nicht, wird die Stadt gebührenpflichtig für ihn aufräumen. Er wird diese Zahlung nicht leisten können und hat Sorge, stattdessen ins Gefängnis zu müssen. Said zieht sich zurück, sitzt allein eine Weile unter einem Baum. Diesmal laufen ihm die Tränen übers Gesicht als wir uns verabschieden.
Mehrmals versuche ich ihn in der Folgewoche zu erreichen, aber sein Telefon ist dauerhaft abgeschaltet – ich hoffe, dass sich seine Befürchtung nicht bewahrheitet hat.

Die andere Seite
Es gibt sie auch – die „andere“ Seite. Die positive. Ich suche nach ihr, halte Ausschau nach den Menschen im oft unmenschlichen System. Zunehmend schaue ich die Soldat*innen genauer an, entdecke unbedarfte, offene Gesichter und versuche mir vorzustellen, wer sie sind. Viele von ihnen, halb so alt wie ich, wirken für mich fast wie verkleidet in ihrer Uniform mit Helm, Gewehr, Tränengaskapseln. Wie war ich damals mit Anfang zwanzig? Wäre ich in der Lage gewesen dem Besatzungssystem auszuweichen? Ich höre auch von guten Bildungsmöglichkeiten während des Militärdienstes. Aber was macht es mit einem Menschen, wenn das Gewehr so selbstverständlich mit zur Arbeit genommen wird, wie ich es mit meiner Handtasche tue? Wird das Gewehr zum banalen Alltagsgegenstand, wenn Kinder von ihrem Soldaten-Vater damit täglich zur Schule gebracht werden? Und liegt die Möglichkeit der Nutzung dieses ‚Alltagsgegenstandes‘ dann auch im Bereich des Normalen?

Ich ertappe mich dabei, dass ich menschliche Begegnungen in bestimmten Situationen schon gar nicht mehr für möglich halte und bin erstaunt, wenn sie doch stattfinden. So stehen wir eines Morgens allesamt frierend und vor dem Regen Schutz suchend im Torbogen des Damaskus Tors. Wir zwei Freiwilligen mit unseren Westen begleiten die palästinensischen Schulkinder und stehen heute direkt neben den israelischen Soldaten, die sich dort ebenfalls untergestellt haben. Einer spricht mich an, was wir hier machen, warum wir diese Westen tragen. Ich erkläre es ihm. Er scheint interessiert und es ist ein kurzer freundlicher Austausch, ein Lächeln.

Und es gibt die Widersprüchlichkeiten: am Checkpoint in der Schlange steht ein Mann, dessen Jacke die Aufschrift „Security“ trägt. Wie viele Palästinenser arbeitet wohl wie er als Sicherheitspersonal in einer israelischen Firma. Dieser Security-Mann geht durch die für ihn gemachte Sicherheitsanlage, die seinen Arbeitgeber vor ihm schützen soll – diesen wiederum schützt er selbst vor seinesgleichen.

Und dann gibt es Situationen, in denen sich die Unterdrückten ihre kleine Freiheit nicht nehmen lassen. Es ist fünf Uhr morgens am Checkpoint. Der Muezzin ruft zum Gebet. Einige Männer scheren aus der Schlange aus, knien nebeneinander nieder zum Gebet. Heute gibt es sogar einen Vorbeter. Manchen dient ihre Tasche als Gebetsteppich auf dem sie die Stirn ablegen, manch einem eine leere Plastiktüte, die ein zuvor Betender liegen ließ. Manch Einer betet auf dem nackten Betonboden, Mancher hat sogar einen Teppich dabei. Sie verrichten ihr Gebet und stellen sich danach wieder zu den Wartenden. Diese Selbstverständlichkeit berührt mich.

Weihnachtsbaum in Jerusalem
Weihnachtsbaum in Jerusalem

Und dann war plötzlich schon Weihnachten. Davon hat man hier in Jerusalem bis auf wenige Ausnahmen nicht viel gemerkt. Eine solche Ausnahme war die feierliche Erleuchtung des Christbaums im Christlichen Viertel der Altstadt. Bei diesem Fest geht es fröhlich zu, ganz ohne Kommerz. Schon von weitem hören wir die Kinder mit ihren Tröten, die uns den Abend über begleiten werden. Daneben gibt es Weihnachtslieder, Clowns die mit den Kindern auf dem Weg tanzen und sie im Vorbeigehen schminken. Weihnachtsmänner in allen Größen, manch einer davon noch auf Papas Arm. Seifenblasen, die als Schnee-Ersatz in den Himmel schweben. Und dann kommt der Patriarch, angeführt von einem Spielmannszug mit Dudelsäcken, ein Relikt aus Zeiten des britischen Mandats, das sich bis heute gehalten hat. Schließlich kündigt eine Rede das feierliche Ereignis an, alle zählen gemeinsam von zehn runter und dann erstrahlt der Weihnachtsbaum: fröhlich-kitschig-bunt. Begrüßt wird er mit einem ausgiebigen Feuerwerk. Die Stimmung auf der Straße ist ausgelassen und nur langsam löst sich die Versammlung auf. Der Spielmannszug führt die Feiernden schließlich hinaus auf die Hauptstraße. Diese wird eine Weile von dieser friedlichen „Weihnachtsdemonstration“ blockiert. Die Organisation „Seeds of better life“ hat diesen Abend organisiert und uns allen eine schöne Zeit bereitet. Das nehme ich als Motto mit: Seeds of better life.

Erdmuthe, Januar 2017

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