Gemeinsam mit vier Hirtenjungen aus Susiya und ihrer Herde sind wir in der hügeligen Landschaft von Masafer Yatta unterwegs. Die Frühlingssonne scheint, eine leichte Brise weht und die Wiesen leuchten in hellem Grün. Schafe und Ziegen erfreuen sich an dem frischen Futter und grasen genügsam.
In Palästina ist seit drei Wochen Lehrerstreik, so dass die Jungen nicht zur Schule gehen können. Hamsi auf dem Pferd führt die Herde an. Die anderen umkreisen die Tiere und halten sie gut zusammen. Die Jungen sind ein eingespieltes Team. Das Ganze hat etwas von Abenteuer – es erinnert an Pfadfinderaktivitäten.
Um die Mittagszeit gibt es ein Picknick. An einer Zisterne werden zunächst die Tiere getränkt, Ahmed entzündet in Sekundenschnelle ein Feuer für das Teewasser, sein Cousin Sai mischt gekochte Kartoffeln mit Olivenöl und Salz und Juhad wäscht die mitgebrachten Tomaten. Wir genießen Essen und Sonne und versuchen uns in englisch-arabischer Kommunikation. Idylle pur? Weit gefehlt.
Nicht mehr als 100m entfernt liegt ein kleiner Militärstützpunkt der israelischen Armee. Wir sind in der sogenannten Zone C, zu der 60% der Landflächen im Westjordanland zählen. Hier hat Israel die alleinige Kontrolle in Militär- und Zivilangelegenheiten. Olivenhaine und Weideland von Abu Muhammed, dem Großvater der Jungen, grenzen an den Zaun des Militärgeländes. Soldaten stehen am Zaun und beobachten uns. Ein weiterer Soldat verschafft sich vom Wachturm aus einen Überblick. Die Jungen wirken ängstlich. Sie schauen immer wieder zu den Soldaten. Was werden diese gleich tun? Schießen? Wieder Tränengas werfen?
Am Vortag wurde ihr Großvater mit Knallgranaten und Tränengaskanistern, die vom Gelände des Militärstützpunktes kamen, von seinem Weideland vertrieben. Er hatte die Tiere beim Grasen wohl zu nah an den Zaun gelassen. Heute sind wir hier, um den Jungen eine schützende Präsenz zu sein und dadurch eine Wiederholung der Ereignisse vom Vortrag zu verhindern.
Es dauert nicht lange und zwei Soldaten nähern sich uns. „Ihr könnt hier nicht bleiben! Das ist Militärgebiet“, sagt einer in bestimmtem Ton, während der andere seine Waffe in Bereitschaft hält. „Geht weiter weg“, fordert er uns auf. Ich frage: „Wo ist es denn ok?“ Er antwortet zunächst nicht, weist nur mit der Hand in eine Richtung. „Da unten, in dem Tal, da könnt ihr sein, aber nicht hier!“
Unwillig treiben die Jungs ihre Schafherde in die angewiesene Richtung, bleiben aber immer noch auf der Wiese des Olivenhains. Die Soldaten behalten sie dabei stets im Blick. Erst zur Mittagspause gehen die Jungs in das angewiesene Tal. Uns erscheint das Ganze als eine Art „Katz und Maus-Spiel“.
Es gibt offensichtlich kein Gesetz, das einen Mindestabstand zu Militärstützpunkten festzulegen vermag. Manche Soldaten sprechen von 50 Metern, wobei das Metermaß offenbar unterschiedlich definiert wird.
Tatsache ist, dass der Schäfer durch die Kontrolle der israelischen Armee in der Nutzung seines eigenen Landes deutlich eingeschränkt ist. Neben vielen Begrenzungen in der alltäglichen Bewegungsfreiheit ist dies eine weitere Einschränkung mit ökonomischen Folgen. Hinzu kommt das Gefühl der Schikane durch die scheinbare Willkür der Soldaten in der Auslegung ihrer Vorschriften.
Und mir stellt sich schließlich die Frage: Wer hat hier Angst vor wem?
Zwei Tage später sind wir mit einem Schäfer aus einem benachbarten Dorf unterwegs, als wir aus der Richtung des Militärstützpunkts die Detonation zweier Knallgranaten hören. Mit unserem Taxifahrer machen wir uns auf den Weg um herauszufinden, ob mit den Jungs und ihren Angehörigen alles in Ordnung ist. Neben der Militärbasis angekommen treffen wir auf die Tiere und einen der Enkel, der uns bestätigt, dass Abu Muhammed und ein Cousins von den Soldaten verhaftet wurden.
Die Soldaten sehen uns sofort und der sehr junge Kommandant kommt heraus, um mit uns zu sprechen. Es ist eine ambivalente Situation. Zunächst tritt er sehr autoritär auf. Nachdem wir ihm sachlich das Problem schildern, dass täglich andere Aussagen zum Sicherheitsabstand gemacht würden, öffnet er sich für eine Konversation. Er sagt: „Ich frage mich, warum kommt der jeden Tag genau hier hin? Es gibt doch so viele Flächen, wo er mit seinen Schafen grasen kann. Schaut nur!”
Unseren Hinweis, dass dies das Land des Schäfers sei und die Ländereien rundherum anderen Schäfern gehören, hört er sich kommentarlos aber scheinbar durchaus interessiert an. Ich frage mich, ob die Soldaten tatsächlich nur so wenig über die Realität um sie herum wissen und in wie weit ihr Verhalten von Angst geprägt ist, realer Angst vor den Hirtenjungen und ihrem Großvater.
Ergebnis des Tages ist, dass die Soldaten mit einem Eisen die Linie markieren, welche Hirten und Tiere nicht überschreiten sollen. Dieser Abstand ist leider größer als alle mündlichen Angaben zuvor. Großvater und Enkel werden nach 1,5 Stunden freigelassen. Sie werden am nächsten Tag wiederkommen. Denn für sie geht es nicht nur um die Versorgung ihrer Tiere, sondern auch um ein Einstehen für das Recht auf die Nutzung ihres Landes.
Elke, März 2016