Ras Ein al Auja – Ein Dorf kämpft um seine Existenz

Wir nähern uns einem Familienhaus in Ras Ein al Auja, einer Gemeinde nördlich von Jericho. Ich kann die Erschöpfung und den Stress im Gesicht des Mannes sehen, der uns am Tor begrüßt. Es ist ungefähr 9 Uhr am Morgen des 8. März 2025. Eine Stunde zuvor haben wir erfahren, dass es in der Nacht zuvor einen schweren Angriff von Siedlern unter den Augen der Armee auf die Gemeinde gegeben hat.

Auf dem Weg nach Ras Ein al Auja; © WCC-EAPPI/Bre
Auf dem Weg nach Ras Ein al Auja; © WCC-EAPPI/Bre

Sofort fällt mir auf, dass die Kinder sichtlich verstört sind und sich an ihren Vater Saad* klammern. Er war die ganze Nacht wach und hat vergeblich nach seinen Schafen und Ziegen gesucht. Er erzählt uns, dass am Vorabend gegen 21 Uhr eine große Gruppe Siedler in der Gemeinde angekommen sei und behauptete, sie hätten ihre Schafe verloren. Kurz darauf traf ein größerer Konvoi von Armee- und Polizeifahrzeugen ein. Saad erklärte, dass die Siedler alle Schafe zusammengetrieben und auf Lastwagen verladen hätten, die in der Nähe warteten. Die Gemeinde versuchte, so Saad, aus den Nachbardörfern Hilfe zu rufen, doch die Armee habe entlang der Straße nach Ras Ein al Auja temporäre Checkpoints errichtet, die den Zugang unmöglich machten. Einige Siedler seien mit Gewehren bewaffnet gewesen, die meisten jedoch mit Messern und Knüppeln. Saad zeigte uns Einschlagspuren dieser Knüppel an seinem Haus. UNOCHA dokumentierte[1] Schäden an drei Häusern und an mehreren Solarpanelen. Die Siedler hätten versuchten, in andere Häuser einzubrechen, doch den meisten Familien gelang es, sich darin einzuschließen. Reuters veröffentlichte in einem Bericht[2] über den Angriff Videomaterial israelischer Aktivist:innen der Gruppe Mistaclim (Looking the Occupation in the Eye), die in der Nacht vor Ort bei den Familien waren.

Schätzungsweise 1.500 Schafe wurden laut Aussagen der Bewohner:innen von Ras ein al Auja in dieser Nacht gestohlen. Einem Einheimischen sei ins Bein geschossen worden, ein anderer sei verhaftet (später wieder freigelassen) und eine Frau in ihrem Haus tätlich angegriffen worden. Einige Tiere wurden getötet. Wir sahen ein Bild einer toten jungen Ziege, aufgenommen nur wenige Stunden zuvor von einem Hirten auf der Suche nach seiner Herde.

Mit seinem Kleinkind im Arm führt uns Saad über seinen Hof und zu den leeren Ställen. Er sagt sichtbar verzweifelt: „Unsere Schafe sind unser Ein und Alles; wir haben nichts mehr.“ Schweigen herrscht, während wir alle in die leeren Ställe starren. Uns fehlen die Worte angesichts des Ausmaßes dieses Übergriffs. Als wir uns zum Gehen bereit machen kommt ein Nachbar mit ähnlich schockierenden Geschichten. Die Siedler hätten die Wassertanks aufgedreht, und als die Männer versuchten, das Wasser abzustellen, seien sie geschlagen worden. Alle Anwesenden stimmten überein: Es war der schlimmste Angriff, den die Gemeinde je erlebt hat. Ein paar Tage später lese ich[3], dass ein Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen vorrübergehend verhaftet wurde, als er israelische Aktivist:innen begleitete, die den Schafdiebstahl durch Dokumentation des Verbleibs der Tiere aufklären wollten und dabei von Siedlern konfrontiert wurden.

Leerer Schafstall in Ras Ein al Auja; © WCC-EAPPI/Bre
Leerer Schafstall in Ras Ein al Auja; © WCC-EAPPI/Bre

Tierdiebstahl und andere Formen der Schikanierung und Gewalt von Siedlern gegen palästinensische Gemeinden sind Teil einer umfassenderen Strategie der Strategie der Übernahme von Land in der Westbank. Ras Ein al Auja ist seit Jahren von dieser Entwicklung betroffen, wie eine meiner Vorgänger:innen vor einiger Zeit berichtet hat.[4]

Der systematische und anhaltende Prozess der Landnahme ist nicht nur gekennzeichnet von Siedlergewalt, sondern auch von Siedlungsausbau, dem Bau neuer Außenposten sowie der Zerstörung palästinensischer Gebäude und Infrastruktur. Die Beschlagnahmung von Land als „Staatsland“, „militärische Sperrzonen“ oder „Naturschutzgebiete“ zur ausschließlich israelischen Nutzung sowie die Zuteilung von Weideland an Siedler haben zugenommen. In seinem Gutachten zu den rechtlichen Konsequenzen von Israels Besatzungspolitik von Juli 2024 hat der Internationale Gerichtshof festgestellt, dass fast das gesamte Gebiet C im Westjordanland für israelische Siedlungen, militärische Sperrzonen und Naturschutzgebiete ausgewiesen wurde.[5]

Allein 2024 erklärten die israelischen Behörden mehr als 24.000 Dunum (2.400 Hektar) im Westjordanland zu Staatsland, davon etwa 20.000 Dunum im Jordantal.[6]  Ein Bericht von Kerem Navot und PeaceNow legte im März offen, dass mittlerweile 14% des Westjordanlands durch Weideaktivitäten und die damait einhergehende Gewalt gegen palästinensische Hirt:innen und Gemeinden von Siedler:innen unter ihre Kontrolle gebracht wurde.[7] Unterstützung erfolgt von den Behörden: Anfang Februar dieses Jahres wurden 16.121 Dunam (1.612 Hektar) als Weideflächen für Siedler:innen deklariert, davon knapp 2.400 Dunum in und um Ras Ein al Auja.[8] PeaceNow berichtet, dass mindestens 9 Gebäude des Dorfes mitten in diesem zukünftigen Weideland liegen und 9 weitere von diesem Gebiet vollständig umschlossen wären, was die Lebensgrundlage der Menschen in Ras Ein al Auja weiter untergräbt. Die Karten von PeaceNow veranschaulichen das Ausmaß der Landnahme, die Ausweitung von Siedlungen rund um das Dorf und damit die erheblichen negativen Auswirkungen, die dies auf die Gemeinde Ras Ein al Auja haben wird.

Weideland für Siedler – in und um Ras Ein al Auja; © PeaceNow
Weideland für Siedler – in und um Ras Ein al Auja; © PeaceNow
Weideland für Siedler – in und um Ras Ein al Auja; © PeaceNow
Weideland für Siedler – in und um Ras Ein al Auja; © PeaceNow

Ein paar Tage später stehe ich auf einem Hügel einer palästinensischen Gemeinde im Norden des Jordantals, mit einer viel grüneren Landschaft und sanften Hügeln. Zu mir gesellen sich ein 12-jähriges Mädchen und ihr Großvater. Wir sehen einen Siedler mit einer Schafherde über das Gerstenfeld der Gemeinde ziehen. Die etwa 150 Schafe zertrampeln und fressen die frisch ausgetragene Saat und ziehen weiter einen Hügel hinauf in Richtung einer großen israelischen Flagge.

Wir kehren zur Gemeinde zurück. Der alte Mann runzelt die Stirn und weist seine Enkelin an, vorauszulaufen, um ihren Vater zu warnen, dass der Siedler unterwegs ist. Sie lässt die Mohnblumen fallen, die sie gerade gepflückt hat, und rennt den Hügel hinunter. Die Anwesenheit des Siedlers ist ein alltägliches Ereignis. Manchmal, so berichtet uns der alte Mann, bringt dieser Siedler seine Schafe mitten in die Gemeinde, aber meistens grast er auf palästinensischem Land, nur wenige Meter von den Häusern entfernt. Die Gemeinde hat keine andere Wahl, trotz der Übergriffe und Belästigungen dieses Siedlers müssen und wollen sie ihrem Alltag nachzugehen. Ihnen selbst wurde von der Armee mittlerweile verboten, sich mit ihren Tieren weit von ihrem Hof ​​zu entfernen, entferntere und damit reichhaltigere Weideflächen aufzusuchen, die noch nicht abgegrast sind, und ihre Herde leidet. Für mich war es bisher schwer vorstellbar, dass so etwas passieren kann, doch für diese Palästinenser:innen sind ein zerstörtes Gerstenfeld, tägliche Schikanen durch Siedler, eingeschränkte Bewegungsfreiheit und Verbote der Armee hinsichtlich ihrer Weidegänge nur die Spitze des Eisbergs.

Schafe und Ziegen auf der Weide im nördlichen Jordantal – wie hier wird die scheinbare Idylle vielerorts überschattet von Gewalt und Angst vor Vertreibung; © WCC-EAPPI/Bre
Schafe und Ziegen auf der Weide im nördlichen Jordantal – wie hier wird die scheinbare Idylle vielerorts überschattet von Gewalt und Angst vor Vertreibung; © WCC-EAPPI/Bre

Die Familie bittet uns noch etwas zu bleiben, und wir sprechen über die jüngsten Ereignisse in Ras Ein al Auja. Überall, wo wir hingehen, wird über die 1.500 gestohlenen Schafe gesprochen; die Geschichte verbreitet sich in den Gemeinden und Familien, die wir besuchen. Die Menschen sind voller Angst, denn dieses neue Ausmaß an Aggression und Schikanen ist zutiefst beunruhigend. Die ältere Generation erzählt uns von ihrer Angst, erneut von ihrem eigenen Land vertrieben zu werden. Die Menschen hier fühlen sich im Stich gelassen, insbesondere von der internationalen Gemeinschaft.

Es entsteht eine Gesprächspause. Wir alle schauen den jüngeren Kindern zu, die im Hof ​​spielen, und ich frage mich, was aus ihrer Zukunft werden wird. Diese Familie hat schon lange mit einem illegalen Siedlungsaußenposten zu kämpfen, doch die Situation eskaliert stetig. Ende März genehmigte das israelische Sicherheitskabinett die Deklaration von 13 Nachbarschaften in Siedlungen bzw. Siedlungsaußenposten zu eigenständigen Siedlungen.[9] Im vergangenen Jahr wurden mindestens 59 neue Siedlungsaußenposten errichtet, viele davon im oder nahe am Jordantal.[10] In den ersten Monaten des laufenden Jahres wurden mehr Wohneinheiten in Siedlungen in Genehmigungsverfahren gebracht, als jemals zuvor.[11] All dies unterstreicht die Bemühungen, die israelische territoriale Kontrolle und de-facto Annexion in der Region zu festigen.

Die Menschen hier sprechen viel über den erneut entflammten Krieg im Gazastreifen. Doch auch die Lage im Westjordanland hat sich in den letzten 18 Monaten drastisch verschlechtert. Volker Türk, Hoher Kommissar der UN für Menschenrechte, sagte im Rahmen der Veröffentlichung eines entsprechenden Berichts seines Büros: „Israel muss sofort und vollständig alle Siedlungsaktivitäten einstellen und alle Siedler evakuieren, die gewaltsame Umsiedlung der palästinensischen Bevölkerung stoppen und Angriffe durch seine Sicherheitskräfte und Siedler verhindern und bestrafen.“[12]

Wir sind zurück in Ras Ein al Auja. Diesmal wurden wir von einer Gruppe Frauen begrüßt, die uns ihre Erlebnisse von der Nacht des 7. März schildern wollten. Wir sitzen im Schatten der Bäume. Die Frauen sind wütend, frustriert und erschöpft, aber sie wollen uns unbedingt ihren Standpunkt darlegen. Sie erzählen uns, dass die Schafe ihre Lebensgrundlage sind. Sie machen sich große Sorgen um die Zukunft. Fatima* erzählte, wie tief das Trauma des Angriffs ihre Kinder getroffen hat. Sie können nicht mehr allein sein, haben Albträume und leben in ständiger Angst. Nadja* fragte mich, warum die internationale Gemeinschaft sie im Stich gelassen und Israel erlaubt habe, zu tun, was es wolle. Bevor ich antworten kann, erzählt mir Nadja von der neuen Straße zum Außenposten. Die Frauen erzählen, dass ihre örtliche Quelle seit langem für sie gesperrt ist, da sie von Siedlern besetzt ist.

Alia zeigt uns, wo bis vor Kurzem ihre Tiere untergebracht waren; © WCC-EAPPI/Bre
Alia zeigt uns, wo bis vor Kurzem ihre Tiere untergebracht waren; © WCC-EAPPI/Bre

Es scheint, als würden die Schikanen nie aufhören. Wir gehen mit Alia* um die leeren Pferche herum und sehen nur ein paar zurückgebliebene Schafe und einen Esel. Trotz all des Leids lachen die Frauen während unserer Gespräche manchmal übereinander und über uns. Die Widerstandsfähigkeit und Stärke dieser Frauen kennt scheinbar keine Grenzen, aber ich frage mich im Stillen, wie lange sie diese Situation und die Schwierigkeiten, mit denen sie auch in Zukunft wohl immer wieder konfrontiert sein werden, aushalten sollen.

Bre, im April 2025

*Namen geändert

Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-272-west-bank

[2] https://www.reuters.com/world/middle-east/west-bank-bedouin-community-says-israeli-settlers-stole-hundreds-sheep-2025-03-11/

[3] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wie-f-a-s-reporter-christian-meier-im-westjordanland-festgenommen-wurde-110385115.html

[4] https://www.eappi-netzwerk.de/letzten-jahre-jordantal/

[5] https://www.icj-cij.org/index.php/node/204160 Punkt 199 des Gutachtens

[6] https://peacenow.org.il/en/state-land-declaration-12000-dunams, https://peacenow.org.il/en/the-israeli-government-declares-8000-dunams-in-the-jordan-valley-as-state-lands

[7] https://peacenow.org.il/en/the-bad-samaritan-land-grabbing-by-settlers-through-grazing

[8] https://peacenow.org.il/en/the-civil-administration-announces-allocation-of-16121-dunams-for-grazing

[9] https://peacenow.org.il/en/the-cabinet-establishes-13-official-settlements

[10] https://peacenow.org.il/wp-content/uploads/2025/02/SW-Report-Summary-2024-Peace-Now-February-2025.pdf, Karte Seite 2

[11] https://peacenow.org.il/en/advancement-of-2545-housing-units-in-the-west-bank

[12] https://www.ohchr.org/en/press-releases/2025/03/israel-ramps-settlement-and-annexation-west-bank-dire-human-rights

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