Das Jordantal: De-facto Annexion in der Kornkammer Palästinas

Das Jordantal ganz im Osten des Westjordanlands könnte eine der bedeutendsten Regionen für die Landwirtschaft in den palästinensischen Gebieten sein. Fruchtbar und grün trägt das Jordantal zur Versorgung der Menschen über seine Grenzen hinaus bei und ist wirtschaftliche Lebensgrundlage für viele Palästinenser:innen. Die Region hat das Potential für eine reiche landwirtschaftliche Produktion insbesondere von Tomaten, Gurken, Paprika, Melonen und Datteln. Doch hinter der üppigen Landschaft verbirgt sich eine harte Realität: Palästinensische Bauern und Bäuerinnen sind strengen Beschränkungen durch die israelische Besatzung und häufiger Gewalt ausgesetzt. Dieser anhaltende Druck auf die palästinensische Landwirtschaft bedroht nicht nur das wirtschaftliche Überleben der Menschen, sondern auch ihre Verbindung zu dem Land, das sie seit Generationen bewirtschaften.

Grüne Weiden im Jordantal; © WCC-EAPPI/Bre
Grüne Weiden im Jordantal; © WCC-EAPPI/Bre

Wenn wir von Jericho aus ganz bis in den Norden des Jordantals fahren, wird der Kontrast zwischen dem fruchtbaren Land und der Diskriminierung und de-facto Annexion, der die palästinensischen Bauern und Bäuerinnen ausgesetzt sind, schmerzhaft deutlich. Grüne Felder und scheinbar endlose Dattelplantagen erstrecken sich vor mir, aber der überwiegende Teil dieser landwirtschaftlichen Flächen wird von völkerrechtlich illegalen israelischen Siedlungen bewirtschaftet. Palästinenser:innen hingegen ist die Nutzung von etwa 87% des Landes im Jordantal als C-Gebiet unter israelischer Kontrolle nahezu vollständig untersagt – sei es für Landwirtschaft, Bautätigkeit oder anderweitige Entwicklung[1].

Die Gemeinde Ein al-Beida, ein Dorf im nördlichen Teil des Jordantals, ist stark von der Landwirtschaft abhängig. Siedlergewalt, Landenteignung und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch das israelische Militär haben die Dorfgemeinschaft schwer getroffen. Die Folgen sind für die vielen Familien hier verheerend.  

Wir treffen uns mit Ahmed*, einem örtlichen Bauern, der die schlimme Situation veranschaulicht, mit der viele Menschen im Jordantal konfrontiert sind. Als Gemüsebauer baut er Tomaten, Gurken, Paprika und Kräuter in seinen Gewächshäusern an. Er darf nur zu bestimmten Zeiten Wasser verwenden und die ihm zugeteilte Wasserversorgung reicht oft nicht aus, um den Bedarf seiner Pflanzen zu decken. Laut UNOCHA waren 2021 etwa 60% der Menschen im C-Gebiet des Jordantals ganz oder teilweise auf die Zulieferung von Wasser per LKW angewiesen, das heißt sie hatten gar keinen oder keinen ausreichenden Anschluss an das Wassernetz.[2] Aufgrund der Hindernisse bei der Wasserversorgung zahlen Palästinenser:innen im Jordantal sehr viel mehr für Wasser als in anderen Teilen des Westjordanlands und als israelische Siedler:innen in den benachbarten Siedlungen, die keine Einschränkungen in der Wasserversorgung befürchten müssen. Als direkte Folge liegt der Wasserverbrauch in palästinensischen Gemeinden im C-Gebiet des Jordantals dramatisch unter der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation von 100 Litern pro Kopf pro Tag bei nur 30-50 Litern.  

Wasserversorgung Palästinenser:innen und Siedler:innen im Jordantal; © https://www.ochaopt.org/content/palestinians-strive-access-water-jordan-valley
Wasserversorgung Palästinenser:innen und Siedler:innen im Jordantal; © https://www.ochaopt.org/content/palestinians-strive-access-water-jordan-valley

Die Bauern und Bäuerinnen in diesen Regionen sind daher in hohem Maße auf Bewässerungs- und Landwirtschaftstechniken wie Wasserbecken und Gewächshäuser angewiesen, um Getreide anzubauen und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ahmeds landwirtschaftlicher Wasserspeicher wurde erst vor wenigen Wochen zerstört, sodass er eine ganze Woche lang ohne Wasser war. 2024 war das Jahr der meisten Zerstörungen von Häusern und Infrastruktur durch israelische Behörden im Westjordanland seit Beginn der systematischen Erfassung durch UNOCHA 2009. Allein im Jordantal wurden 272 Objekte zerstört, darunter 93 mit landwirtschaftlichem Nutzen, 175 Menschen verloren ihr Zuhause.[3]

Ahmeds Wasserspeicher liegt in Trümmern; © WCC-EAPPI/Bre
Ahmeds Wasserspeicher liegt in Trümmern; © WCC-EAPPI/Bre

Das israelische Militär hat außerdem vor kurzem Ahmeds Gewächshäuser durchsucht und Ausweise überprüft. Und er berichtet uns, dass israelische Siedler seine Wasserleitungen regelmäßig beschädigen, was seinen Kampf um Wasserversorgung noch verschärft. Täglich kreisen zudem von Siedlern gesteuerte Drohnen zur Überwachung über seinem Land.

Für palästinensische Landwirte wie Ahmed sind die Herausforderungen enorm, da Siedler zunehmend palästinensische landwirtschaftliche Flächen ins Visier nehmen, Ernten niederbrennen, Neuanpflanzungen zerstören und Landwirte gewaltsam angreifen[4]. Im Oktober 2024 wurde ein nahe gelegener, familiengeführter Gemüsestand von israelischen Siedlern niedergebrannt. Immer wieder hören wir, dass das israelische Militär solche Übergriffe nicht selten geschehen lässt oder gar unterstützt[5]

Tomaten, Frühlingszwiebeln und Kräuter in Ahmeds Gewächshaus; © WCC-EAPPI/Bre
Tomaten, Frühlingszwiebeln und Kräuter in Ahmeds Gewächshaus; © WCC-EAPPI/Bre

Vom Druck der Siedler berichtet uns auch Yusuf* aus Furush Beit Dajan. Yusufs Familie wird ständig von Siedlern überwacht, die Drohnen über ihrem Haus fliegen lassen und direkt neben ihrem Haus einen illegalen Außenposten errichtet haben, mitsamt israelischer Flagge zur Untermauerung ihres Anspruchs. Die Siedler haben Yusuf offen gesagt: „Das ist unser Land, und wir werden es nehmen.“ Doch trotz der ständigen Drohungen sagt Yusuf: „Ich werde unser Land nie verlassen.“

Yusuf baut hauptsächlich Melonen auf seinen drei Dunam Land an, es ist ein kleines Feld vor dem Haus der Familie. Doch wie viele palästinensische Landwirte kann auch er mittlerweile aufgrund der Besatzungssituation und der Ausweitung der Siedlungen seinen Lebensunterhalt nicht mehr nur aus den eigenen Erträgen bestreiten. Da die Entwicklungsmöglichkeiten im Jordantal auch in anderen Bereichen gegen Null gehen, blieb Yusuf keine andere Wahl, als Arbeit in einer nahegelegenen, illegalen israelischen Siedlung anzunehmen. Seine Frau Safa* arbeitet auf dem Land der Familie, während Yusuf für die Siedler arbeitet. Sein Gehalt beträgt 10 Schekel (2,70 €) pro Stunde. Uns sagt er: „Sie haben unser Land genommen, und ich bringe ihnen bei, wie man es bewirtschaftet“.

In vielen Gemeinden im Jordantal leben die Menschen hauptsächlich von dem, was sie selbst anbauen; © WCC-EAPPI/Bre
In vielen Gemeinden im Jordantal leben die Menschen hauptsächlich von dem, was sie selbst anbauen; © WCC-EAPPI/Bre

Die Notlage von Bauern wie Yusuf wirft ein Schlaglicht auf das umfassendere Problem palästinensischer Arbeiter:innen in israelischen Siedlungen. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse dieser Siedlungen, von denen ein Großteil international exportiert wird, tragen direkt zum Erhalt der Besatzung und zum Ausbau der Siedlungen und ihrer landwirtschaftlichen Produktion bei. Die Folge ist der Entzug der Lebensgrundlage für palästinensische Bauern und Bäuerinnen, die sich schlussendlich nicht selten gezwungen sehen, die Landwirtschaft oder gar ihr Land aufzugeben und andere Einkommensquellen zu suchen oder fortzuziehen. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten zur Besatzung im Juli 2024 betont, dass Siedlungen und die Besatzung als Ganzes gegen internationales Recht verstoßen. Das Gericht stellte u.a. die Verpflichtung von Drittstaaten heraus, in den Beziehungen zu Israel zwischen dem Territorium des Staates Israel und den Siedlungen in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten zu unterscheiden, und weder Hilfe noch Unterstützung für die Aufrechterhaltung der völkerrechtswidrigen Besatzungssituation zu leisten.[6]

Derweil geht die de-facto Annexion vor Ort Schritt für Schritt weiter. 2024 wurden mehr als 24.000 Dunum (2.400 Hektar) Fläche im Westjordanland seitens Israel zu Staatsland erklärt, davon mehr als 20.000 Dunum im Jordantal.[7] Staatsland wird nahezu ausschließlich für israelischen Nutzen zur Verfügung gestellt, z.B. zum Ausbau von Siedlungen.[8] Die Staatslanddeklarationen stellten einen neuen Höchstwert der Aneignung von Land seit den Osloer Verträgen dar.

Der Obst- und Gemüsemarkt in der Stadt Jericho im Jordantal; © WCC-EAPPI/Bre
Der Obst- und Gemüsemarkt in der Stadt Jericho im Jordantal; © WCC-EAPPI/Bre

Darüber hinaus machen Bewegungsbeschränkungen es Landwirt:innen wie Ahmed und Yusuf unglaublich schwer, ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Die Checkpoints Tayasir und Hamra bilden Nadelöhre aus dem Jordantal hin zu den Absatzmärkten in den großen Städten wie Nablus im zentralen nördlichen Westjordanland. Tayasir ist immer wieder für längere Zeiträume komplett geschlossen, und es gibt zahlreiche Berichte über Schikanen und lange Warteschlangen am Checkpoint Hamra, was ein ohnehin schon schwieriges Leben noch schwieriger macht.

Die Situation im Jordantal ist ein Sinnbild für die zunehmend unhaltbare Situation, mit der die Palästinenser:innen unter der israelischen Besatzung konfrontiert sind. Das Tal ist zu einer Krisenregion geworden, in der die Bauern und Bäuer:innen nicht nur um ihren Lebensunterhalt, sondern um ihre Existenz kämpfen.[9]

Trotz der enormen Herausforderungen zeigen viele der palästinensischen Bauern und Bäuerinnen, denen wir hier im Jordantal begegnen, weiterhin Resilienz und Entschlossenheit. Die Verbundenheit mit dem Land sitzt tief, und selbst angesichts überwältigender Ungerechtigkeit treten sie durch ihre Arbeit und ihr Bleiben für ihr (kulturelles) Erbe und ihre Zukunft ein und versuchen zudem, sich so gut es geht gegenseitig zu unterstützen.

Wassermelonensprößling im Jordantal - Trotz aller Schwierigkeiten kämpfen viele Menschen hier weiter um den Erhalt ihres Landes und ihrer Landwirtschaft; © WCC-EAPPI/Bre
Wassermelonensprößling im Jordantal – Trotz aller Schwierigkeiten kämpfen viele Menschen hier weiter um den Erhalt ihres Landes und ihrer Landwirtschaft; © WCC-EAPPI/Bre

Für die Palästinenser:innen im Jordantal ist die Hoffnung auf einen gerechten und dauerhaften Frieden an ihr Recht auf Selbstbestimmung, den Schutz ihres Landes und die Bewahrung ihrer landwirtschaftlichen Traditionen geknüpft. Solange diese Rechte nicht gewahrt bzw. erfüllt werden, wird die Notlage der palästinensischen Bevölkerung im Jordantal ein zentrales und dringendes Thema bleiben, im anhaltenden Ringen um Gerechtigkeit und Frieden.

Bre, im März 2025

* Alle Namen geändert

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerkes oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.ochaopt.org/sites/default/files/ocha_opt_jordan_valley_factSheet_february_2012_english.pdf

[2] https://www.ochaopt.org/content/palestinians-strive-access-water-jordan-valley

[3] https://www.ochaopt.org/data/demolition, unter more breakdowns Auswahl „Jordan Valley – yes“

[4] https://www.btselem.org/settler_violence_updates_list

[5] https://foreignpolicy.com/2023/11/09/west-bank-palestinians-israeli-settlers-attacks-idf/

[6] https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/186/186-20240719-sum-01-00-en.pdf, Seite 18

[7] https://peacenow.org.il/en/state-land-declaration-12000-dunams, https://peacenow.org.il/en/the-israeli-government-declares-8000-dunams-in-the-jordan-valley-as-state-lands

[8] https://peacenow.org.il/en/state-land-allocation-west-bank-israelis

[9] https://peacenow.org.il/en/data-on-netanyahus-jordan-valley-annexation-map

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