„Wir sehen, was geschieht“

Besuch im Madaa Creative Center in Batn al Hawa, Silwan

Zohair Rajabi auf dem Dach des Madaa Creative Center in Batn al Hawa, Silwan, im Hintergrund der Zionsberg mit Dormitio-Abtei und Stadtmauer; Foto © WCC-EAPPI

An einem Mittwochmittag im Februar, kurz nach 13 Uhr, empfängt uns Zohair Rajabi, der Sprecher des Ost-Jerusalemer Stadtteils Silwan, zur Besichtigung des Madaa Creative Centers im Ortsteil Batn al Hawa.

Zohair Rajabi führt uns durch die Räume des Madaa Kinderhortes in Batn al Hawa. Es ist eines von 3 Zentren in Silwan. Zohair Rajabi und andere starteten mit den Kinderhorten 2016 nach einer Reihe von Zusammenstößen mit Siedlern und Polizei. Viele Kinder und Jugendliche wurden damals verhaftet. „Für unsere Kinder  – dachten wir – müssten wir dieses Zentrum schaffen“.

Sie beschäftigen eine Lehrerin, stellen Computerarbeitsplätze, an denen die Kinder spielen und arbeiten können, und bieten viele Aktivitäten an, von Sport über Erste Hilfe bis zu Graffiti- und Dabke-Kursen, einem traditionellen levantinischen bzw. palästinensischem Volkstanz. Dazu kommt eine Percussion(Schlagzeug)-Gruppe. An einigen Tagen gestaltet eine Amerikanerin mit den Kindern und Jugendlichen Wandmalereien, z.B. die grünen Augen (siehe Bild). Sie scheinen zu sagen „Wir sehen, was geschieht.“ Das Zentrum ist von Sonntag bis Donnerstag geöffnet. Es wird von einer Schweizer NGO finanziell unterstützt, die Kinder bzw. ihre Eltern zahlen nichts.

Die Augen scheinen zu sagen „Wir sehen, was geschieht“ – Wandmalerei oberhalb des Madaa Creative Centers; Foto © WCC-EAPPI

Im Durchschnitt kommen 30 – 50 Kinder im Alter von 6 – 14 Jahren nach der Schule hier her, Jungen und Mädchen gemischt. Im Hauptraum im ersten Stock arbeitet die Lehrerin, im Stockwerk darunter beaufsichtigt Jadala Rajabi die Kinder. Er ist der Bruder von Zohair und leitet das Zentrum.

Letzte Vorbereitung, gleich kommen die Kinder; Foto © WCC-EAPPI

Jadala sagt uns: „Das ist unser Leben. Wir bauten dieses Zentrum, um das Leben unserer Kinder zu verbessern und sie von der Straße wegzubringen“.

Trotzdem gibt es natürlich immer wieder Konflikte. Jadala erzählt uns von zahlreichen Verhaftungen von Jugendlichen und jungen Männern, die nicht selten zu Gefängnisstrafen führen. 2018 sollte Jadalas damals 7(!) Jahre alter Sohn verhaftet werden, weil er angeblich eine Siedlerfrau beleidigt hatte, dabei spricht er kein Hebräisch.  Nach langem Hin und Her wurde er dann, so Jadala, 4 Stunden auf der Polizei verhört und schließlich zum Hausarrest nach Hause geschickt.

Jadala könnte viele solcher Geschichten erzählen. Er schließt: Das größte Problem ist der Mangel an Wohnraum. Die Familien wachsen, Kinder heiraten und benötigen eigene Wohnungen, doch es gibt keine Genehmigungen für Bauvorhaben. „Wohin sollen wir gehen? Für uns gibt es keinen anderen Platz.“

Vom Dach des Zentrums, wo wir einen guten Überblick über das Tal und die umliegenden Hänge von Silwan haben, erklärt uns Zohair Rajabi die allgemeine Situation in Batn al Hawa.  87 palästinensische Häuser haben bereits Räumungsbescheide erhalten. Auch er selbst ist betroffen und kämpft vor Gericht gegen die Siedlerorganisation, die seine Zwangsräumung anstrebt.

87 Häuser, das bedeutet, 650 bis 700 Menschen sind von Zwangsräumung bedroht, so Zohair Rajabi. Die Räumungsbescheide hätten sich seit 2015 gehäuft, einige Häuser wurden bereits zwangsgeräumt. Anstelle der palästinensischen Familien wohnen dort nun Siedler*innen.

Batn al Hawa ist nur eines der 6 Gebiete in Silwan, in denen zahlreiche Familien Räumungs- oder Abrissbescheide erhalten bzw. ihr Zuhause bereits verloren haben, oder in denen Grundstücke konfisziert wurden. Weitere sind Al Bustan, Wadi al Rababe, Wadi Hilweh, Wadi Yazoul und Wadi Allozeh. Insgesamt sind in den Ost-Jerusalemer Stadtteilen Silwan und Sheikh Jarrah mehr als 1.000 Menschen von Räumung und Hauszerstörung bedroht.[1]

Die Hintergründe von Zwangsräumungen beschreibt unter anderem PeaceNow[2]: Palästinensische Flüchtlinge des Krieges von 1948/49 haben gemäß Absentee Property Law kein Recht darauf, ihre zurückgelassenen Häuser und Ländereien in West-Jerusalem und Israel zurückzubekommen. Dies betrifft viele Einwohner:innen Ost-Jerusalems, die im Krieg geflohen waren und von den jordanischen Behörden in den Stadtteilen nahe der Altstadt Wohnraum und Land zur Verfügung gestellt bekamen. Jüdische Flüchtlinge des gleichen Krieges (bzw. ihre Rechtsnachfolger:innen), die Häuser und Ländereien in Ost-Jerusalem bzw. der Westbank verloren hatten, können diese seit 1970 auf der Grundlage des Legal and Administrative Matters Law zurückfordern. In vielen Fällen treten hier nicht die früheren Eigentümer:innen selbst auf, sondern Siedlerorganisationen, die Grundstücke und Gebäude von den Vorbesitzer:innen erworben haben oder diese vertreten.

Hauszerstörungen werden in den allermeisten Fällen mit dem Fehlen von Baugenehmigungen begründet. Diese sind jedoch aufgrund der für palästinensischen Wohnungsbau sehr begrenzt ausgewiesenen Fläche (lediglich 15% Ost-Jerusalems[3]) nur in sehr seltenen Fällen überhaupt zu bekommen.

Darüber hinaus können Räumungs- und Abrissbescheide in Zusammenhang mit touristischen Projekten und der Erweiterung von Nationalparks stehen, wie es etwas mit der „City of David“[4] – einem von einer Siedlerorganisation verwalteten archäologischen Park – oder dem „King’s Garden national park“-Projekt der Fall ist. Auch hat z.B. die Grabung eines Tunnels von der „City of David“ Richtung Altstadt zur starken Beschädigung darüber liegender palästinensischer Wohngebäude geführt[5]. Nun, so erzählt es Zohair, meinen Behördenvertreter, es sei zu gefährlich für die betroffenen Familien, weiter in den Häusern zu leben.

Gestaltete Wand im Madaa Creative Centers; Foto © WCC-EAPPI

Es gibt viele verschiedene Gründe für Räumungs- und Abrissbescheide, doch für Zohair Rajabi haben sie eines gemeinsam: Die Zahl der palästinensischen Bevölkerung soll verringert werden. Silwan, so Zohair Rajabi, ist das Gebiet, das im Süden unmittelbar an die Jerusalemer Altstadt und  die Al Aqsa Moschee anschließt und ist sehr dicht besiedelt. Zusammen mit den anderen angrenzenden arabischen Vororten (Ras Al Amoud, Abu Tur und Ein Allozeh) leben hier 60 – 65 Tsd. Menschen. Die palästinensische Bevölkerung von Silwan steht unter dem permanenten Druck der Siedler:innen und ihrer Organisationen. Sie verursachen laut Zohair Rajabi die meisten Probleme und behaupten, dies sei ihr Land. Und der Weg, mit dem sie Druck machen, ist der Weg über die Regierung und Gerichte.[6] So ist Silwan eines der Gebiete mit den meisten Hausräumungs-  und Abrissbescheiden und vollzogenen Räumungen und Zerstörungen in Ostjerusalem.[7]  Dazu kommen Geldstrafen und Verhaftungen von Kindern. Zohair Rajabi sagt: „Sie versuchen, das Leben für die Menschen hier unmöglich zu machen.

1966 kam ihr Vater hierher nach Silwan, 2015 – fast 50 Jahre später – kam der Räumungsbescheid. Zohair und Jadala haben noch fünf Brüder, ihre Familien umfassen ca. 70 Personen, alle haben Räumungsbescheide erhalten. Was können sie machen? „Wir hier in Silwan, wir haben kein anderes Leben als dieses. Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht. Die israelischen Siedlerfamilien haben beste Lebensbedingungen, aber sie scheren sich keinen Deut um unser Leben“. Auf meine Frage, wie sie diese Situation ertragen können, antwortet er. „Dies ist unser Leben. Die Siedler und die Polizei sind Teil unseres Lebens. Wir versuchen, etwas Ausgleich zu schaffen, Frieden zu haben.“

Nachdenklich verlassen wir Batn Al Hawa. Wir werden regelmäßig wiederkommen, um internationale Präsenz zu zeigen und zu signalisieren, dass wir wahrnehmen, was geschieht. Und natürlich auch um ein bisschen mit den Kindern zu spielen, die unterdessen gekommen sind und erste Kontakte zu uns geknüpft haben.

Ulrich, Februar 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind. Das Programm bittet darum, dass private Stellungnahmen nicht weitergeleitet oder veröffentlicht werden.

[1] https://peacenow.org.il/en/the-threat-of-mass-palestinian-displacement-in-east-jerusalem

[2] ebenda

[3] https://www.btselem.org/jerusalem

[4] Die Davidsstadt gilt als der älteste besiedelte Teil Jerusalems und wird von Siedlerorganisationen trotz mangelnder Faktenlage als die wichtigste archäologische Fundstelle des biblischen Jerusalem gehandelt. Siehe dazu auch den sehr interessanten Artikel von Nir Hasson ,Israelische Siedler*innen in Ost-Jerusalem: Ideologie, Archäologie und Immobilien,  vom 06.06.2018 https://www.rosalux.org.il/israelische-siedlerinnen-ost-jerusalem/ , S. 4

[5] https://peacenow.org.il/en/the-disputed-tunnel-in-silwan-inaugurated-with-american-support

[6]  Nir Hasson ,Israelische Siedler*innen in Ost-Jerusalem: Ideologie, Archäologie und Immobilien,  vom 06.06.2018 https://www.rosalux.org.il/israelische-siedlerinnen-ost-jerusalem/Seiten 2 und 3

[7] 185 zerstörte Gebäude seit 2009, 403 Menschen haben dabei ihr Zuhause verloren. Im Durchschnitt 21 Hauszerstörungen pro Jahr seit 2016, 2021 waren in Silwan 93 Palästinenser:innen und 22 Gebäude betroffen. Quelle: UNOCHA https://www.ochaopt.org/data/demolition

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