Our lady who brings down walls

An der Sperranlage[1], die Israel und die Westbank trennt, sieht man viele Graffitis. Seit der Errichtung der Mauer sind sie, wie hier in Bethlehem, künstlerischer Ausdruck des Widerstandes und der politischen Meinungs-äußerung. Manche der Graffitis drücken Verzweiflung aus, andere Schmerz und wieder andere Hoffnung.

Wöchentliches Gebet an der Mauer in Bethlehem; © WCC-EAPPI/Simon

Zu letzteren zählt auch eine Ikone von Maria, die seit 2010 zu sehen ist und von dem Künstler Ian Knowles geschaffen wurde. Inspiriert wurde sie durch eine Rede des damaligen Papstes Benedikt auf einer Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten im selben Jahr. Als Bild für die Christ:innen in der Region gebrauchte er ein Bild aus dem biblischen Buch der Offenbarung, in dem eine durch die Sonne bekleidete Frau unter Schmerzen ein Kind gebiert.

Knowles hat zu verschiedenen Gelegenheiten berichtet, was ihm an seiner Ikone wichtig ist: Maria fasst sich mit der Hand an die Stirn, als ob sie in großem Schmerz ist. Für den Künstler ist dieser Schmerz das Leiden der Christ:innen vor Ort unter der Besatzung.

In biblischer Tradition ist Maria nicht nur demütige Dienerin Gottes und Muttergottes, sondern durchaus eine politische und revolutionäre Persönlichkeit. Im sog. Magnificat, dem Lobgesang Marias, heißt es z.B.: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron / und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben / und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lukas 1, 52-53). In dieser Tradition ist die Wahl Marias kein Zufall. „Our Lady who brings down walls“ heißt sie deshalb auch unter denjenigen, die sich jede Woche zum gemeinsamen Gebet an der Mauer treffen.

Das etwa 20-minütige Gebet am Freitagabend, an dem manchmal nur eine einstellige Anzahl von Personen, manchmal aber auch größere Gruppen teilnehmen, ist nicht spektakulär. Seine Intensität bekommt es viel mehr durch seine Beständigkeit und die Treue der Teilnehmenden seit vielen Jahren. Während des Rosenkranzgebets wird immer wieder Maria angerufen. Das Vaterunser wird gesprochen und zum Abschluss ein Lied gesungen.

Im Arabischen gibt es einen Begriff für diese Form der Standhaftigkeit: „sumud“. Sumud meint dabei keinen heroischen Akt der Befreiung durch Menschen, die unter Unterdrückung leben, sondern die entschiedene Resilienz, dass Aufgeben letztlich keine Option ist trotz täglich erlittenen Unrechts und zum Teil traumatischer Erfahrungen.

Bei verschiedenen Gesprächen hier in Bethlehem wurde uns deutlich, dass sumud eine wichtige Rolle im palästinensischen Streben nach Gerechtigkeit und Frieden spielt und nicht ausschließlich passiv zu verstehen ist. Im Festhalten (auch am eigenen Grund und Boden), im Dableiben (anstelle von Fliehen), im Aufrecht-Stehen (anstatt sich in die Opfer-Rolle zu begeben) liegt eine Kraft, die zuweilen erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist.

Die Betenden laufen entlang der Mauer Richtung Checkpoint Bethlehem 300; © WCC-EAPPI/Simon

Die Betenden an der Mauer an jedem Freitagabend zeigen eine beeindruckende fast trotzige, aber dennoch von großer Hoffnung getragene Widerstandskraft. Die 78jährige Nadia*, auf deren Land die Mauer gegen ihren Willen errichtet wurde und die bis heute, wenn es ihr gesundheitlich möglich ist, gestützt von anderen am Gebet teilnimmt, erzählt: „Einmal hat mich ein Grenzpolizist gefragt, was wir hier machen. Ich habe ihm gesagt, dass wir hier beten. Wofür, hat er dann weiter gefragt. Dass eines Tages diese Mauer nicht mehr steht, war meine Antwort. Das wird nie passieren, war er sich sicher. Da habe ich gesagt: Ich werde meine Hand so lange über die Mauer ausstrecken, bis sie jemand von der anderen Seite ergreift.“

Nadia kann nicht mehr oft teilnehmen an dem Gebetsspaziergang an der Mauer, die auf ihrem Land steht. Ihre Beine lassen es nicht mehr zu. Aber sie wird nicht aufhören zu hoffen und zu beten. So wie die anderen Standhaften, die sich jeden Freitag treffen bei der Ikone von der Frau, die Mauern niederreißt.

Simon, im Februar 2023

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

*Name geändert

[1] 2002, auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada, begannen die israelischen Behörden mit dem Bau einer Sperranlage. Diese soll die israelische Bevölkerung vor gewalttätigen Angriffen von Palästinensern aus der Westbank schützen. Etwa 65% der Barriere wurden bisher fertiggestellt. In städtischen Gebieten wurde die Barriere als etwa 8 Meter hohe Mauer, in ländlichen Gebieten als Anlage aus Zäunen, Gräben und militärischen Wegen errichtet. Ca. 85 % der Barriere verläuft auf dem Gebiet der Westbank und nicht auf der sog. Grünen Linie. Diese Waffenstillstandslinie von 1949 ist international als Grundlage für die Verhandlungen über eine Grenze zwischen Israel und einem zukünftigen palästinensischen Staat anerkannt. Wird die Barriere wie geplant fertiggestellt, dann wird sie 9% der Fläche der Westbank abtrennen. In diesem Bereich liegen die großen israelischen Siedlungsblöcke in der Westbank. Bereits heute führt der Verlauf der Barriere dazu, dass über 10.000 Palästinenser:innen im Bereich zwischen Grüner Linie und Barriere nur noch mit speziellen Genehmigungen der israelischen Behörden in ihren Häusern und auf ihrem Land leben dürfen. Palästinenser:innen aus 150 Dörfern haben keinen oder nur noch sehr eingeschränkten Zugang zu ihren Olivenhainen und landwirtschaftlichen Flächen in dieser Zone. 2004 hat der internationale Gerichtshof die Sperranlagen dort für völkerrechtswidrig erklärt, wo sie nicht auf der Grünen Linie verläuft.

Weitere Informationen und eine Übersichtskarte zur Sperranlage: https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-impact-20-years-barrier-december-2022

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