New Profile – für eine entmilitarisierte Gesellschaft

Ruth Hiller, Foto: Albin Hillert/WCC
Ruth Hiller, Foto: Albin Hillert/WCC

Nun ist auch unsere „Halbzeitpause“, das Zwischenseminar in Haifa und Jerusalem, schon wieder einige Tage vorbei. Ein buntes und volles Programm hat diese Woche geprägt und wir hatten nicht nur Gelegenheit, einige Tage etwas anderes zu sehen, sondern vor allem auch, mit verschiedenen israelischen Friedensaktivist*innen und -organisationen ins Gespräch zu kommen. Besonders in Erinnerung ist mir der Vortrag von Ruth Hiller geblieben. Ruth hat die feministische Organisation New Profile mitgegründet, die sich für eine Entmilitarisierung der israelischen Gesellschaft sowie für das Recht auf Verweigerung des Militärdiensts einsetzt[1].

Ruths Vortrag beginnt sehr persönlich: Sie berichtet uns, wie sie in eine tiefe Sinnkrise gestürzt sei, als ihre älteste Tochter zum Militär musste. In Israel werden alle jüdischen jungen Frauen und Männer sowie die jungen Männer aus der Gemeinschaft der Druzen zur Armee einberufen. Nicht alle gehen letztlich zum Militär. Junge Ultra-orthodoxe können den Wehrdienst durch den Besuch einer Yeshiva (Tora-Schule) ersetzen, gesundheitliche Einschränkungen können zu einer Freistellung führen. Arabisch-israelische Jugendliche werden nicht einberufen, einige melden sich dennoch freiwillig. Für diejenigen, die den Wehrdienst absolvieren, gilt: Frauen für zwei Jahre, Männer für drei Jahre. Einen großen Aufgabenbereich des Militärs und damit der Soldat*innen nimmt die Aufrechterhaltung der Besatzung der palästinensischen Gebiete ein.

Ruth selbst ist in den USA aufgewachsen und stammt aus einer politisch sehr aktiven und sehr pazifistischen Familie. Mit 17 Jahren sei sie zum ersten Mal nach Israel gekommen, um für ein Jahr in einem Kibbutz zu leben – und dort lebt sie mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern auch heute noch. Während ihre beiden ältesten Töchter jeweils ihren Militärdienst ableisteten, beschloss ihr ältester Sohn mit damals 15 Jahren, dass er auf keinen Fall zum Militär gehen wolle.

Ruth holt etwas aus und erzählt uns davon, wie der Einberufungsprozess in die israelische Armee abläuft. Offiziell beginnt der Prozess mit 16 Jahren, aber eigentlich, so Ruth, sei das Leben israelischer Kinder schon von Geburt an auf den Militärdienst ausgerichtet. Kinder würden mit dem Gedanken erzogen, eines Tages ihr Land und ihre Eltern zu schützen, indem sie ihren Dienst im Militär leisten. Je älter die Kinder werden, umso mehr sei die Vorbereitung auf den Militärdienst präsent und vor allem Teil des Schulalltags. Soldat*innen besuchen bspw. regelmäßig Schulen und veranstalten Einführungs- und Trainingswochenenden für Schulklassen. Ruth erzählt uns, dass Schulen ein höheres Budget erhalten, je mehr Absolvent*innen nach der Schule einer Kampfeinheit der Armee beitreten. Sie beschreibt sehr anschaulich, wie die Militarisierung der Gesellschaft in vielen Aspekten des täglichen Lebens sichtbar wird. Das Militär ist im öffentlichen Leben Israels sehr präsent, schon allein, weil viele Soldat*innen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu und von ihren Militärbasen reisen. Ruth erzählt uns, dass Soldat*innen während ihres gesamten Militärdienstes verpflichtet sind, ihr Gewehr permanent bei sich zu haben, auch an freien Tagen und wenn sie ihre Familien besuchen. Ruth ist sichtbar empört: „Und wer fragt mich als Mutter, ob ich ein Maschinengewehr in meinem Haus haben möchte, wenn mein Sohn oder meine Tochter am Wochenende nach Hause kommen?“ Und sie berichtet weiter: Militärische Denkmäler oder Relikte aus zurückliegenden militärischen Konfrontationen stehen auf öffentlichen Plätzen. Werbekampagnen sind auf Soldat*innen und ihre Familien zugeschnitten, junge Rekrut*innen in Uniform unterstützen den Schulunterricht, ehemalige hochrangige Militärs bekleiden führende Positionen in Politik, Wirtschaft und Bildung und die Rüstungsindustrie stellt einen der größten Wirtschaftszweige dar.

Welchen Stellenwert das Militär in Israel einnimmt, zeigt Ruth uns außerdem anhand einer Grafik, die verschiedene öffentliche Ausgaben in Israel vergleicht. Das Verteidigungsministerium hat mit Abstand das höchste Budget. Eine Studie[2] des Bonn International Center for Conversion (BICC), das zu den Themen Rüstungskontrolle und Konfliktprävention forscht, kommt zu dem Ergebnis, dass Israel das am stärksten militarisierte Land der Erde ist, gefolgt von Singapur, Armenien und Russland. Der Grad der Militarisierung wird u.a. darauf zurückgeführt, dass dem Militär im Vergleich zu anderen öffentlichen Sektoren besonders viel Budget zugeteilt wird und dass ein Land im Verhältnis zu seiner Bevölkerung einen deutlich höheren Anteil an schweren Waffensystemen besitzt als andere Länder. Auch die Tatsache, dass in Israel eine so umfassende Wehrpflicht besteht, findet Eingang in die Studie.

Doch zurück zu Ruths persönlichen Erfahrungen: Während heute relativ viele junge Menschen in Israel den Militärdienst nicht oder nur teilweise absolvieren (laut Ruth gehen 25 % der Schüler*innen jüdischer Schulen in Israel nicht zum Militär und weitere 25 % verlassen das Militär vor dem Ende ihres ersten Jahres dort), sehen sich Jugendliche, die den Militärdienst z.B. aufgrund ihrer Opposition zur Besatzung der palästinensischen Gebiete, verweigern wollen, teilweise mit Haftstrafen konfrontiert[3].

Auch für Ruths Sohn war die Verweigerung Mitte der 1990er Jahre nicht leicht. Er weigerte sich zwar, an den Vorbereitungen teilzunehmen, die an der Schule stattfanden, aber den Militärdienst selbst tatsächlich zu verweigern erschien nahezu unmöglich. Ruth aber beschloss, die Sache in die Hand zu nehmen, und erzählt, wie sie über viele Ecken mit einer Gruppe von Kriegsdienstverweigerern in Kontakt kam. Diese Organisation half ihrem Sohn, sich auf die Gewissensprüfung vorzubereiten, der man sich unterziehen muss, um den Dienst zu verweigern. Trotz der Vorbereitung wurde das Gesuch ihres Sohnes mit der Begründung, er sei nicht pazifistisch genug, abgelehnt. Und das, obwohl er sogar willens war, stattdessen drei Jahre freiwillige, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Aufgeben kam jedoch für Ruth und ihren Sohn genauso wenig in Frage wie eine Haftstrafe. Sie kämpften mit Hilfe eines Anwalts weiter und waren schließlich erfolgreich: Ihr Sohn konnte die Gewissensprüfung ein zweites Mal ablegen und seine Verweigerung aus pazifistischen Gründen wurde schließlich akzeptiert.

In der Zwischenzeit hatte Ruth andere Mütter kennengelernt, deren Kinder den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern wollten und schloss sich mit diesen zusammen. Was zunächst als eine kleine Diskussionsrunde in ihrem Kibbutz geplant war sollte der Grundstein für die Organisation New Profile werden. Ruth selbst hat sich vor zwei Jahren zwar aus der aktiven Arbeit bei New Profile zurückgezogen, um sich nun stärker ihrem weiteren gesellschaftlichen Engagement zu widmen. Sie betont aber, wie wichtig die kontinuierliche Aufklärungsarbeit hinsichtlich der zunehmenden Militarisierung ihrer Gesellschaft sei, da die Auswirkungen ihrer Meinung nach schwerwiegend seien: Israelische Kinder, die aufgrund ihrer Geschichte und einer bis heute angespannten politischen Situation häufig mit einem Gefühl der Unsicherheit aufwüchsen, lernten, so Ruth Hiller, dass man dieser Unsicherheit vor allem mit einem starken Militär und einer zunehmend bewaffneten Gesellschaft begegnen kann. Auch auf die Geschlechterverhältnisse wirke sich die starke Militarisierung aus, so Ruth. Frauen würden in die Rolle der Unterstützerinnen gedrängt, wodurch stereotypische Rollenbilder von Mann und Frau reproduziert würden, die mit Geschlechtergleichheit wenig zu tun hätten. Aus ihrer Sicht ist das größte Problem, dass die Menschen (wie sie betont nicht nur in Israel) zunehmend gleichgültig gegenüber der starken Rolle des Militärs und bewaffneten Konflikten seien und sich daher kaum Protest dagegen entwickeln könne. Die Einschätzung, dass die Militarisierung der eigenen Bevölkerung immens schadet, hat Ruths Empfinden nach aber noch viel zu wenige Menschen erreicht.

Mirjam, im November 2018

 

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] http://newprofile.org/english

[2] Mutschler, Max (2017): Globaler Militarisierungsindex 2017. Online unter: https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/GMI_2017_DE.pdf

[3] https://972mag.com/idf-jails-conscientious-objector-for-30-days-over-her-refusal-to-enlist/130043/

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