Keine Hoffnung auf einen sicheren Zugang zu Bildung?

Vor einer Woche besuchten wir das kleine, südlich von Hebron gelegene Dorf Isfay al Fauqa, weil die gerade erst mit internationalen Hilfsgeldern gebaute Dorfschule einen Abrissbefehl erhalten hatte.

Bei unserem ersten Besuch finden noch letzte Malerarbeiten an der neuen Grundschule von Isfay al Fauqa statt; © WCC-EAPPI/Christiane

Ein Militärfahrzeug der israelischen Zivilverwaltung traf am Tag zuvor ein und die Soldaten befestigten den Abrissbefehl an der Schulmauer. Diese Anordnung sollte nach 96 Stunden in Kraft treten. Die Schule besteht aus 6 Klassenzimmern, einer Toilette, einem Lehrerzimmer und einem Büro des Direktors. Die Bauarbeiten sind fast abgeschlossen und die Schüler:innen bereits eingezogen. In dem Dorf gab es bisher keine Schule. Die neue Einrichtung wird von 22 Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 1 bis 4 besucht.

Wir treffen Miriam und ihre sieben Kinder in ihrem Haus. Sie erzählen uns, dass die neu gebaute Schule für Kinder im Alter von 5 bis 10 Jahren gedacht ist, die vorher 4 bis 11 km zu alternativen Schulen laufen mussten. Isfay al Fauqa liegt in der sogenannten Firing Zone 918 in Masafer Yatta, über 1.000 Menschen sind hier von Zwangsräumung zugunsten eines israelischen militärischen Übungsgeländes bedroht.[i] Die Bewohner:innen der Dörfer in der Firing Zone haben keine Möglichkeit, Baugenehmigungen von den israelischen Behörden zu erhalten. Aufgrund der ständigen militärischen Präsenz israelischer Soldaten hatten die Kinder bislang große Schwierigkeiten, zur Schule zu gehen. Sie berichten uns, dass sie täglich von Soldat:innen aufgehalten wurden, manchmal eine Stunde lang, und häufig zu spät zur Schule kamen. Es sei immer wieder vorgekommen, dass sie aufgefordert wurden, nach Hause zu gehen, aber stattdessen liefen sie um die Hügel herum und gelangten so über Umwege zur Schule. Die Kinder sagen uns:  „Wir haben Angst vor der Besatzung“. Schule muss für Kinder ein sicherer Ort sein. Dazu gehört auch ein sicherer Schulweg. Die neue Schule soll den Kindern ersparen, täglich schwerbewaffneten Soldat:innen zu begegnen, von deren willkürlichen Entscheidungen abhängt, ob und auf welche Weise sie zur Schule gelangen können. Miriam ist sichtlich erleichtert, dass ihre Kinder nun geschützt sind, da sie die kleine Dorfschule besuchen können.

Die von Zwangsräumung bedrohten Dörfer in der Firing Zone 918 – Masafer Yatta, südlich von Hebron; © UNOCHA-OPT Fact sheet: Masafer Yatta communities at risk of forcible transfer | June 2022

Einen Tag nach unserem Besuch hob der israelische oberste Gerichtshof eine einstweilige Verfügung auf, die den Abrissbefehl gegen die Schule auf Eis gelegt hatte. Am nächsten Morgen erhalten wir einen Anruf von einem unserer Kontakte, dass Bulldozer und Armeefahrzeuge in Masafer Yatta unterwegs seien, um möglicherweise die Schule abzureißen.

Wir fahren nach Tuba, in das Nachbardorf der betroffenen Schule. Von dort aus laufen wir zu Fuß weiter nach Isfay al Fauqa. Weite Teile der Firing Zone 918 sind für Palästinenser:innen gesperrt und unser Fahrer hat Angst, dass sein Auto konfisziert werden könnte. Über uns kreisen Helikopter.

Als wir in dem Dorf ankommen, sind bereits 5 Militärjeeps, ein Bagger und ein Bulldozer vor Ort. Etwa 20 Soldat:innen haben einen Bereich um die Schule abgesperrt und sind dabei, Palästinenser und Palästinenserinnen von der Rückseite der Schule nach vorne zu bringen. Der Bulldozer und der Bagger befinden sich auf der Rückseite, dem Eingangsbereich der Schule. Nidal Younis, der Vorsitzende des Gemeinderates von Masafer Yatta berichtet, dass Knallgranaten benutzt worden seien, um die Kinder, ihre Eltern und Aktivist:innen zu erschrecken und aus der Schule zu holen.

Frauen und Kinder stellen sich den Soldat:innen vor der Zerstörung der Grundschule entgegen; © WCC-EAPPI/Christiane

Wir werden Zeuge chaotischer Szenen, als sich eine Menge Palästinenser:innen, angeführt vor allem von Frauen und Kindern, der Reihe von Soldat:innen entgegenstellt. Es gibt immer wieder Tumulte, während die Soldaten versuchen, die Menge von der Schule wegzudrängen. Ich erkenne auch Miriam, die wir noch bei unserem Besuch vor wenigen Tagen so zuversichtlich erlebt hatten, in der Menschenmenge. Jetzt ist sie empört. Sie wird mit den anderen Frauen, Kindern und Männern zurückgedrängt, aber immer wieder stellt sie sich mutig den Soldat:innen entgegen.

Bei einer Gelegenheit fällt ein etwa 5 Jahre alter Junge auf den Rücken und beginnt zu weinen, er wird schnell aufgefangen und getröstet. Viele Kinder weinen, wir hören Schreie und die Befehle der Soldaten. Vor allem die Jungen, die Fahnen tragen, werden von den Soldat:innen ins Visier genommen. Die Fahnen werden ihnen entrissen und weggeschafft. Ein etwa 12-jähriger Junge wird aus der Menge herausgeholt, von zwei Soldaten festgehalten und mit dem Kopf nach unten gedrückt, dann auf die Knie gezwungen, bevor er wieder in die Menge entlassen wird.

Eine Gruppe von Kindern stellt sich vor den in einer Reihe stehenden Soldaten und Soldatinnen auf und schreit sie laut an. Ein alter Mann aus dem Dorf schreitet immer wieder ein und versucht, die Kinder zu beruhigen. Doch die Wut und Verzweiflung der Kinder ist groß.

Als der Bagger beginnt, das Dach abzutragen, verstummt die Menge größtenteils, und wir sehen zu, wie die Schule in weniger als 30 Minuten abgerissen wird.

Zerstörung der Schule in Isfay al Fauqa am 23.11.2022; © WCC-EAPPI/Christiane

Nasser Nawaja, ein Fieldofficer der israelischen Menschenrechtsorganisation B’´Tselem, erzählt uns, dass ein ihm bekannter Siedler aus einem nahen illegalen Außenposten die Abrissfahrzeuge bediene. Eid Suleyman, ein lokaler Friedensaktivist, berichtet uns, dass er die Schule am Vortag zusammen mit japanischen und deutschen Vertretern im Rahmen eines diplomatischen Besuchs aufsuchte. Anschließend sprechen wir mit Yasser Mohammed, Direktor des Bildungswesens im Bezirk Yatta. Auch er weist darauf hin, dass noch gestern Vertreter der UNO und Vertreter aus Japan und Deutschland in diplomatischer Mission vor Ort waren: „Es hilft nichts. Sie sehen ja, wie wir behandelt werden.“

Trümmer der Schule von Isfay al Fauqa; © WCC-EAPPI/Christiane

Wir möchten von ihm wissen, wie es nun weitergeht und er antwortet: „Das Ziel der Besatzung ist es, Bildung zu verhindern. Das ist ein Verbrechen. Wir haben diese Schule gebaut, um die Kinder vor der militärischen Präsenz der israelischen Armee zu schützen und ihnen eine angemessene Ausbildung und Umgebung zu bieten. So wie es alle Schüler auf der Welt verdienen. Niemandem sollte es so ergehen. Nach dieser schrecklichen Aktion werden wir sofort ein Zelt bauen, in dem der Schulunterricht weitergeführt werden kann. Morgen werden Psychologen kommen, um den Abriss der Schule mit den Kindern aufzuarbeiten.

Schild an der provisorischen Toilette; © WCC-EAPPI/Christiane

Tatsächlich beobachten wir, wie schon bald ein erstes Schreibpult herangeschafft wird. Als wir ein paar Tage später wieder in den Ort kommen steht tatsächlich ein Zelt in den Trümmern, daneben eine provisorische Toilette mit einem Schild der europäischen Geldgeber.

Von der Vertretung der Europäischen Union in den palästinensischen Gebieten war in Folge der Zerstörung zu lesen: „Entsetzt über die Nachricht, dass ISF einen Tag nach einem diplomatischen Besuch mehrerer EU-Mitgliedstaaten die von Spendern finanzierte Sfai-Schule in Masafer Yatta im besetzten palästinensischen Gebiet abgerissen hat. Das Recht der palästinensischen Kinder auf Bildung muss respektiert werden.“[ii]

Christiane, im November 2022

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des  Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[i] Masafer Yatta ist eine Ansammlung von 19 kleinen palästinensischen Weilern südlich von Hebron, im vollständig von Israel kontrollierten C-Gebiet der Westbank. Ein Teil von Masafer Yatta wurde vor in den 1980er Jahren von der israelischen Armee als „Firing Zone 918“ deklariert und seither mit wechselnder Intensität für militärische Übungen genutzt. Zwölf traditionelle palästinensische Dörfer, die im Übungsgelände gelegen sind, erhielten 1999 sogenannte Evakuierungsanordnungen. Etwa 700 Einwohner:innen wurden Ende 1999 aus den Dörfern vertrieben, Häuser und anderes Eigentum wurden zerstört. Seit 2000 sind einige betroffene Familien gegen die Evakuierungsanordnungen gerichtlich vorgegangen. Am 4. Mai 2022 entschied der Oberste Gerichtshof Israels, dass es keine rechtlichen Hindernisse für die geplante Vertreibung der palästinensischen Bewohner:innen von Masafer Yatta gibt, um Platz für ein militärisches Übungsgelände zu schaffen. Z.Zt. sind mehr als 1000 Bewohner:innen akut von Zwangsräumung und Vertreibung bedroht.
Vgl.: Fact sheet: Masafer Yatta communities at risk of forcible transfer | June 2022 | United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – occupied Palestinian territory https://www.ochaopt.org/content/masafer-yatta-communities-risk-forcible-transfer-june-2022

[ii] https://twitter.com/eupalestinians/status/1595372056899891200  besucht am 25.11.22, Übers.d.A.

 

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