Ibziq – die Konsequenzen der militärischen Präsenz

Ein Besuch in der kleinen Gemeinde Ibziq im Norden der West Bank lässt mich nicht los. Wir treffen dort Saltiya und Aziz, die uns aus ihrem Alltag berichten, von regelmäßigen temporären Vertreibungen aufgrund von Militärtrainings bis hin zu Verlusten in den Familien durch zurückgelassene Munition.

Die Gemeinde Ibziq in der Nähe von Tubas, die grau gepunkteten Flächen sind militärische Sperr- und Übungsgebiete; Karte ©UNOCHA
Die Gemeinde Ibziq in der Nähe von Tubas, die grau gepunkteten Flächen sind militärische Sperr- und Übungsgebiete; Karte ©UNOCHA

Ibziq liegt sehr abgelegen im Jordantal, recht weit entfernt von der nächsten asphaltierten Straße oder dem nächsten Dorf. Der Feldweg nach Ibziq ist kaum befahrbar, vor allem im Winter, wenn es regnet. Ein Jeep, der von der Stadt Tubas mithilfe japanischer Entwicklungshilfe finanziert wird, bringt die 22 Kinder aus Ibziq jeden Tag zur Schule. Fast die Hälfte des Jordantals wurden von Israel zu militärischem Sperr- und Übungsgebiet erklärt[1], einschließlich 11 sogenannter „Firing Zones“, Übungsgelände, auf denen mit scharfer Munition geschossen wird. Auch die Gemeinde Ibziq liegt zum Teil in einer solchen Firing

Ein Bild aus dem wenige Kilometer entfernten Farisiya veranschaulicht die Problematik: während die Erwachsenen auf den Feldern arbeiten und die Kinder spielen ziehen im Hintergrund Panzer zu militärischen Übungen auf; ©EAPPI
Ein Bild aus dem wenige Kilometer entfernten Farisiya veranschaulicht die Problematik: während die Erwachsenen auf den Feldern arbeiten und die Kinder spielen ziehen im Hintergrund Panzer zu militärischen Übungen auf; ©EAPPI

Zone. 2012 und 2014 kam es deshalb zu Hauszerstörungen, insgesamt 59 Objekte waren betroffen[2]. Familien, deren Land und Behausungen in der Firing Zone liegen, dürfen keine Traktoren benutzen, um ihre Felder zu bearbeiten oder Trinkwasser mit Hilfe von Tankanhängern zu beschaffen. Es kommt regelmäßig zur Konfiszierung der Fahrzeuge.

Aziz zeigt auf das verlassene Haus am Fuße des großen Hügel; dort finden immer wieder Militärübungen stattfinden; ©EAPPI
Aziz zeigt auf das verlassene Haus am Fuße des großen Hügel; dort finden immer wieder Militärübungen stattfinden; ©EAPPI

Neben der ständigen Angst vor Hauszerstörungen und Vertreibung bleiben die militärischen Übungen selbst das größte Problem der Gemeinde. Immer wieder wird in der unmittelbaren Nähe des Dorfes trainiert. Den Bewohner*innen wird nur manchmal Bescheid gesagt, bevor das schwere militärische Gerät anrückt. In einigen Fällen, so wird uns berichtet, bekommen sie einen kurzfristigen Evakuierungsbefehl und müssen das Dorf für mehrere Stunden oder auch über Nacht verlassen. In anderen Fällen werden sie nicht benachrichtigt und verfolgen dann aus ihren Zelten, wie die Soldaten Schießübungen durchführen, etwa in einem alten verlassenen Haus in der Nähe von Aziz und seiner Familie. Während der Übungen sei es verboten die Schafe aus den Stallungen zu lassen und die Felder würden häufig z.B. durch Panzer beschädigt.

Am schlimmsten ist jedoch der Verlust von Familienmitgliedern durch zurückgelassene, nichtexplodierte Munition. Saltiya berichtet uns von ihrem Bruder, der vor drei Jahren starb. Er sei mit den Tieren in den Hügeln nahe der Gemeinde unterwegs gewesen und habe dort einen Sprengkörper gefunden, der nach einer Militärübung auf dem Feld lag. Da dort viele Kinder vorbeilaufen wollte er den Sprengkörper wohl an einen anderen Ort bringen. Der Sprengkörper sei daraufhin in seiner Hand explodiert und er starb an Ort und Stelle. Saltiya versteht bis heute nicht, wie so etwas passieren konnte: „Wie ist es möglich, dass das Militär Sprengkörper in der Nähe unserer Zelte hinterlässt?“. Als sie im letzten Sommer nach Ibziq zurückkehrten, nachdem sie vier Monate mit ihren Schafen in Jenin verbracht hatten, fand die Familie laut Saltiya drei nicht-explodierte Sprengkörper direkt neben ihrem Zelt. Sie erzählt, dass Familienmitglieder im Rathaus von Tubas angerufen haben, und nach Koordinierung mit der israelischen Polizei und dem Militär seien die Sprengkörper entfernt worden.

Aziz und sein Vater berichten uns, was mit Oudai passiert ist; ©EAPPI
Aziz und sein Vater berichten uns, was mit Oudai passiert ist; ©EAPPI

Auch die Familie von Aziz ist betroffen. Sein Sohn Oudai, 16 Jahre alt, fand im Oktober einen Sprengkörper, während er mit anderen Familienmitgliedern die Schafe hütete. Als er diesen aufhob ist er explodiert und Oudai starb an Ort und Stelle. Die israelische Menschenrechts-organisation B’Tselem hatte den Fall damals dokumentiert[3]. In diesem Bericht wird auch darauf hingewiesen, dass die Familien von Ibziq seit 2014 29mal für militärische Übungen ihr Dorf verlassen mussten, teilweise über Nacht.

Aziz und seine Familie haben einen kleinen Gedenkort für Oudai aufgebaut, den sie uns zeigen. Sie berichten von dem Vorfall, aber wie es ihnen heute geht, nur wenige Monate nach dem Verlust von Oudai, dazu sagen sie lieber nichts. Das Team vor uns hatte diesen Vorfall schon dokumentiert und wir hatten die Informationen gelesen. Das Ganze aber noch einmal vor Ort und direkt von den Angehörigen erzählt zu bekommen macht uns doch sehr betroffen und traurig.

Der kleine Gedenkort für Oudai; ©EAPPI
Der kleine Gedenkort für Oudai; ©EAPPI

Es ist nicht viel, was wir in einer solchen Situation anbieten können. Wir geben den Familien die Nummer des Halo Trust, einer internationalen Organisation die sich um das Entfernen von Minen, Bomben und anderen nicht-explodierten Sprengkörpern kümmert, und die auch in der Westbank tätig ist. So verletzt sich in Zukunft hoffentlich keiner mehr. Und wir werden wiederkommen, werden die Gemeinde regelmäßig besuchen, werden ihnen zuhören und von ihrem Alltag berichten.

Vanessa, Januar 2018

 

[1] https://www.btselem.org/jordan_valley

[2] UNOCHA-OPT

[3] https://www.btselem.org/jordan_valley/20171015_udai_nawajah_killed_by_dud

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