Gewaltfreier Widerstand – Singen für den Zugang zum Gebet

Checkpoint am Eingang zu H2; Foto © EAPPI
Checkpoint am Eingang zu H2; Foto © EAPPI

Hebron, oder arabisch „Al Khalil“, ist die größte Stadt des Westjordanlandes und liegt im Süden des besetzten Gebietes. Sie gilt als einer der Brennpunkte des israelisch-palästinensischen Konflikts, denn sie ist die einzige palästinensische Stadt, in deren Zentrum nach Beginn der Besetzung israelische Siedlungen errichtet wurden. Aufgrund der Siedlungen wurde die Hebron im „Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen“ (auch als Oslo II bekannt) von 1995 nicht berücksichtigt, welches der palästinensischen Autonomiebehörde nach und nach unterschiedliche Level an Kontrolle über einige Teile der palästinensischen Gebiete übertrug. Stattdessen wurde die Stadt mit dem Hebron Protokoll 1997 in zwei Zonen geteilt: Hebron1 (H1) wird seitdem von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet, während Hebron2 (H2, 20% der Stadt) unter israelischer Militär- und Zivilverwaltung und somit unter vollständiger israelischer Kontrolle steht.[1]

Etwa 40.000 Palästinenser und ungefähr 800 israelische Siedler leben in H2[2]. Die palästinensische Bevölkerung ist von umfassenden Restriktionen durch das israelische Militär betroffen. So finden sich in H2 über 100 physische Hindernisse unterschiedlicher Art, wie Checkpoints oder Straßensperren. Palästinenser*innen dürfen hier keine Autos fahren und nur bestimmte Straßen betreten, während Siedler*innen sich sowohl zu Fuß als auch im Auto frei bewegen können. Hinzu kommt, dass ein Teil von H2 seit Ende 2015 militärisches Sperrgebiet ist, nachdem es in der Stadt, wie auch in anderen Teilen der palästinensischen Gebiete und Israels, vermehrt zu gewalttätige Übergriffe und Auseinandersetzungen kam. Die palästinensischen Anwohner*innen im militärischen Sperrgebiet mussten sich bei den israelischen Behörden registrieren lassen, um weiterhin Zugang zu ihren Häusern zu erhalten.

Bei jeder Überquerung eines Checkpoints in H2 bzw. zwischen H2 und H1 müssen sich die Palästinenser*innen einer z.T. zeitaufwendigen und nervenaufreibenden Kontrolle unterziehen. Für einen Großteil der Anwohner*innen ein tägliches Prozedere, allein, um zur Arbeit, in die Schule, zu Ärzten oder Verwandten und Freunde zu gelangen. Die Familien können zudem keinen Besuch von Palästinenser*innen erhalten, die nicht als Anwohner*innen im Sperrgebiet registriert sind.[3]

Geschlossene Geschäfte auf der Shuhada Straße; Foto © EAPPI
Geschlossene Geschäfte auf der Shuhada Straße; Foto © EAPPI

Viele Palästinenser*innen sind vor und während der zweiten Intifada wegen andauernder Ausgangssperren aus H2 weggezogen. Dementsprechend stehen knapp 260 Wohnungen leer und verfallen. Früher befanden sich der größte Markt Hebrons sowie die zentrale Busstation entlang der Shuhada Straße mitten im heutigen H2. Während der 2.Intifada wurden 512 Geschäfte vom israelischen Militär geschlossen. Etwa 1.000 weitere mussten aufgrund des erschwerten Zugangs für Kunden und Lieferanten aufgegeben werden.[4] Dieser Teil Hebrons wird deswegen heute von den Einheimischen auch die „Geisterstadt“ genannt.

Hebron ist für die drei monotheistischen Religionen von großer Bedeutung, denn es heißt, dass Abraham, Isaak und Jakob und deren Frauen Sara, Rebekka und Lea hier im „Grab der Patriarchen“ beerdigt sind. Die religiöse Stätte, deren ursprünglicher Bau auf König Herodes zurückgeht, ist heute zweigeteilt: Ein Teil dient als Synagoge und Grabstätte, während der andere Teil als Moschee für Muslime zugänglich ist. Die Palästinenser*innen der Stadt müssen durch mehrere Checkpoints, um in die Ibrahimi Moschee zu gelangen.

Einer der Checkpoints auf dem Weg zur Ibrahimi-Moschee; Foto © EAPPI
Einer der Checkpoints auf dem Weg zur Ibrahimi-Moschee; Foto © EAPPI

Eine unserer Aufgaben als Ökumenische Begleiter*innen ist die Beobachtung des Zugang zum Freitagsgebet in der Ibrahimi-Moschee und somit die Wahrung des Rechts auf Ausübung einer Religion und Zugang zu religiösen Stätten (u.a. IV. Genfer Konvention).

Als wir an unserem ersten Freitag in Hebron den Zugang zur Moschee beobachteten verliefen die Kontrollen am Checkpoint sehr schleppend. Die anwesenden israelischen Soldatinnen ließen nur jeweils eine Person durch die Drehkreuze und warteten dann lange, bevor sie der nächsten Person den Eingang zum Checkpoint freigaben. Die meisten jungen Männer (Alter etwa 14-40) wurden aufgefordert, ihre T-Shirts hochzuziehen, die Hosengürtel abzulegen, ihre Hosenbeine hochzuziehen, die Socken und Schuhe zu zeigen und mehrmals durch den Metalldetektor zu gehen.

Warten auf Einlass; Foto © EAPPI
Warten auf Einlass; Foto © EAPPI

Durch den verlangsamten Durchgang zur Moschee wurde die Schlange immer länger und der Zeitpunkt für das Freitagsgebet rückte näher. Junge Männer, Frauen mit Kindern und Kinderwagen, Kinder mit Fahrrädern, ältere Männer und Frauen und einzelne Personen mit Behinderungen standen alle eng zusammengedrängt im Checkpoint. Es wurde zunehmend lauter, die Wartenden fingen an zu schreien und forderten die Soldatinnen auf, das Drehkreuz zu öffnen. Ein älterer, gehbehinderter Mann rüttelte an den Gitterstäben des humanitären Zugangs (für ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, Schwangere etc.) und schrie auf Arabisch “aufmachen”. Die Anspannung war mehr als deutlich zu spüren.

Dann passierte es: Einige der Wartenden fingen plötzlich an, einen Teil eines muslimischen Gebets zu singen. Sie forderten alle in der Schlange auf, mitzusingen. Einige fingen an zu lächeln und die Anspannung schien sich etwas zu lösen. Nach ein paar Minuten singen und Protest kam ein israelischer Kommandeur und öffnete den humanitären Zugang für alle Wartenden.  Die Menschen strömten schnell hindurch. Den jungen Männern wurde weiterhin befohlen, durch den Metalldetektor zu gehen.

Der Jugendliche betet neben den Checkpoints an der Ibrahimi-Moschee; Foto © EAPPI
Der Jugendliche betet neben den Checkpoints an der Ibrahimi-Moschee; Foto © EAPPI

Zwei Wochen später, als wir erneut den Checkpoint vor der Moschee beobachteten, wurde einem siebzehnjährigen Jugendlichen der Zutritt verweigert. Er wohnt ein paar hundert Meter von der Moschee entfernt und kam somit von der anderen Seite des Checkpoints. Er versuchte immer wieder, den Checkpoint vor der Moschee zu betreten, aber die Soldaten wiesen ihn zurück und schrien, er solle gehen. Er blieb vor der Moschee stehen, ein Checkpoint hinter ihm, der andere Checkpoint direkt neben ihm. Er fing an, alleine auf der Straße zu beten. Ohne Gebetsteppich kniete er  immer wieder auf den Steinen nieder.  Während er betete weinte er schluchzend. Wir blieben stehen, um ihn in dieser Situation, umgeben von Soldat*innen, nicht allein zu lassen. Als er das Freitagsgebet beendet hatte, redeten wir kurz mit ihm. Er sagte, ihm sei kein Grund für die Verweigerung des Zugangs zum Freitagsgebet genannt worden.

Es scheint, dass die betroffenen Menschen in diesen Situation versucht haben, sich zumindest ein stückweit ihre Würde zu bewahren und mit Hilfe gewaltlosen Widerstand zu zeigen, dass sie die täglichen Einschränkungen und die Verletzung ihrer Menschenrecht durch die Besatzung nicht einfach so hinnehmen.

Karte ©B’Tselem: Die Karte zeigt den israelisch kontrollierten Teil von Hebron (H2). Hellblau sind die vier israelischen Siedlungen dargestellt. Die Straßen, die diese vier Siedlungen verbinden, dürfen von Palästinensern zum größten Teil nicht betreten werden (rot unterlegte Straßen). Etwas außerhalb der Innenstadt liegen die zwei große Siedlungen Qiryat Arba und Givat Ha’avot. Auf den Straßen entlang dieser Siedlungen dürfen Palästinenser nur zu Fuß gehen (lila unterlegte Straßen). Die dunkelroten, durchkreuzten Kreise zeigen die 16 Checkpoints der Stadt. An den meisten steht rund um die Uhr mindestens ein*e Soldat*in, der*die die Ausweise der Passanten kontrolliert. Einige Checkpoints sind weniger als 50 Meter voneinander entfernt.
Karte ©B’Tselem: Die Karte zeigt den israelisch kontrollierten Teil von Hebron (H2). Hellblau sind die vier israelischen Siedlungen dargestellt. Die Straßen, die diese vier Siedlungen verbinden, dürfen von Palästinensern zum größten Teil nicht betreten werden (rot unterlegte Straßen). Etwas außerhalb der Innenstadt liegen die zwei große Siedlungen Qiryat Arba und Givat Ha’avot. Auf den Straßen entlang dieser Siedlungen dürfen Palästinenser nur zu Fuß gehen (lila unterlegte Straßen). Die dunkelroten, durchkreuzten Kreise zeigen die 16 Checkpoints der Stadt. An den meisten steht rund um die Uhr mindestens ein*e Soldat*in, der*die die Ausweise der Passanten kontrolliert. Einige Checkpoints sind weniger als 50 Meter voneinander entfernt.

Der gewaltfreie Widerstand in Hebron hat viele Gesichter. Einige lassen sich ihr Recht auf Zugang zum Freitagsgebet nicht nehmen. Andere tragen ständig Videokameras bei sich, um immer bereit zu sein, mögliche Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Das Material kann dann in Gerichtsverhandlungen eingesetzt werden, oder aber, um Menschen in aller Welt die Realitäten eines Lebens unter Besatzung zu zeigen. Andere organisieren sich in Gruppen wie “Youth Against Settlements”, die mit kreativem Protest z.B. die Öffnung der in weiten Teilen für Palästinenser*innen gesperrten Shuhada-Straße fordern.

Die Einwohner*innen von H2 leisten aber vor allem Widerstand durch ihre bloße Präsenz. Trotz eingeschränkter Bewegungsfreiheit, trotz der ständigen Anwesenheit und wiederkehrenden Gewalt seitens der Siedler und israelischer Sicherheitskräfte, trotz der Armut, die durch die Isolation entstanden ist. Diese Menschen bleiben standhaft und lassen sich nicht verdrängen.

Milena, Oktober 2018

Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] UN OCHA (Februar 2018): https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-impact-israeli-settlements-hebron-city

[2]  B´tselem (Januar 2011): https://www.btselem.org/hebron

[3] UN OCHA (Februar 2018): https://www.ochaopt.org/sites/default/files/h2_fs_2018_v5_english11.pdf

[4]  ebenda

 

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