Ein Thema, das mich und mein Team sehr beschäftigt und in dem wir recht aktiv sind, ist der Zugang zu Bildung. Nachdem das neue Schuljahr vor gut einem Monat begonnen hat, gehören die ‚School Runs‘ zu unseren regelmäßigen Aufgaben. An verschiedenen Orten in der Westbank und Ost-Jerusalem begleiten Teilnehmende des EAPPI Programms Kinder und Lehrpersonal auf Schulwegen und an Schulen, seit 2012 in Kooperation mit UNICEF.
Dreimal pro Woche begleiten wir die Schüler*innen der As Sawiya Secondary School, die direkt an der vielbefahrenen zentralen Verbindungsstraße 60 zwischen den Dörfern As Sawiya und Al Luban liegt, auf ihrem Weg zur Schule. Die Straße wird von Palästinensern ebenso genutzt wie vom israelischen Militär und von israelischen Siedlern. Mehrere israelischen Siedlungen und Außenposten liegen in unmittelbarer Nähe der Dörfer und der Schule. Von Zeit zu Zeit kommt es hier zu Zusammenstößen. Entlang der Straße und manchmal sogar direkt am Eingang der Schule sind die Schüler*innen fast täglich mit militärischer Präsenz konfrontiert, weshalb wir die Begleitung auf dem Schulweg zu einer unserer Prioritäten gemacht haben.
Wenn wir morgens um 7.30 Uhr eintreffen, kommen uns schon die ersten Gruppen lärmender und lachender Schüler*innen entgegen, mit denen wir dann gemeinsam entlang der Route 60 zu ihren Schulen laufen. Meist stehen entlang des Weges schon ein bis zwei Jeeps des Militärs und eine Reihe schwer bewaffneter Soldaten. Die Lehrer sind froh, dass wir mehrmals in der Woche kommen können und erklären uns, dass die Situation im Vergleich zu vergangenen Schuljahren bisher noch verhältnismäßig ruhig ist. Sie zeigen uns Fotos und berichten von Situationen in den vergangenen Jahren, in denen die Armee bis auf den Schulhof vorgedrungen ist oder die Schule von allen Seiten umkreist hat. Die Schüler*innen, so berichtet uns der Schulleiter, können sich an Tagen, an denen das Militär präsent ist, schlechter konzentrieren und haben Schwierigkeiten beim Lernen.
Nach Artikel 50 der IV.Genfer Konvention soll eine Besatzungsmacht in Zusammenarbeit mit den Landes- und Ortsbehörden den geordneten Betrieb der Einrichtungen erleichtern, die zur Pflege und Erziehung der Kinder dienen[1]. Doch auch an anderen Schulen, die wir besuchen, hören wir ähnliche Berichte wie in As-Sawiya. Ein Ort, der mir noch lange in Erinnerung bleiben wird, ist die Schule für Jungen in Burin. Auch Burin liegt an der Route 60, zwischen den Siedlungen Yitzhar und Har Bracha. Die Jungenschule befindet sich in exponierter Lage am Rande des Dorfes. Der Schulleiter berichtet uns, dass Schule und Schüler in der Vergangenheit in besonderem Maß unter Übergriffen durch Siedler der nahen Siedlung Yitzhar, aber auch durch das israelische Militär gelitten hätten, vor allem in den Pausen, aber auch auf dem Weg zur Schule.
Bei unserem ersten Besuch komme ich mir eher vor wie in einem Gefängnis, als an einem Ort, an dem junge Menschen wachsen und frei lernen können. Bereits das Eingangstor ist gut durch ein großes Schloss und Ketten gesichert. Direkt neben dem Schulhof entdecken wir das riesige Fußballfeld, das komplett eingezäunt ist. Direkt dahinter können wir einen Wachturm des israelischen Militärs erkennen. Während der großen Pause stellen wir fest, dass noch ein Jeep direkt neben diesem Wachturm Stellung bezogen hat.
Der Schulleiter berichtet uns, dass die Armee die Schüler in den Pausen häufig durch verbale Attacken einschüchtere, aber auch schon Tränengas auf den Schulhof geworfen hat. Auch die Siedler, die auf dem Hügel direkt oberhalb der Schule leben, hätten die Schüler*innen schon häufig attackiert. Als eine Konsequenz beschloss die Schule, das Fußballfeld einzuzäunen und den Zugang dazu einzuschränken, um die Schüler zu schützen Der verbleibende Pausenhof erscheint mir für über 200 Kinder und Jugendliche sehr klein – so richtig austoben kann man sich da nicht. Seit kurz vor den Sommerferien dürfen die Schüler in den Pausen wieder auf das Fußballfeld, da die Situation derzeit etwas ruhiger ist. Gemeinsam haben die Schüler das Feld wieder hergerichtet, nachdem es lange Zeit sich selbst überlassen geblieben war. Der Schulleiter betont aber: „Wir wissen nicht, was morgen ist. Es kann jederzeit wieder zu Übergriffen kommen.“
In den vergangenen Jahren wurde nach Aussage des Schulleiters auch Land, das eigentlich zur Schule gehört, vom israelischen Militär konfisziert. Über 10 Dunum[2] Land habe die Schule schon verloren. Um weitere Konfiszierungen zu verhindern und das verbleibende Land aktiv zu nutzen, gibt es seit diesem Schuljahr ein neues landwirt-schaftliches Projekt. Dieses Projekt hat mich besonders beeindruckt und mir trotz der traurigen Tatsache, dass Kinder hier auf ihrem Schulweg und in ihren Schulen häufig Einschüchterungen und Gewalt erfahren müssen, Hoffnung gegeben. Gemeinsam mit der Unterstützung des ganzen Dorfes konnte die Schule ein großes Gewächshaus auf ihrem Gelände bauen. 19 Schüler sind Teil der ersten landwirtschaftlichen Klasse der Schule, die dort Gemüse und Obst anpflanzen wollen.
Stolz zeigt uns der Schulleiter die ersten Ergebnisse und führt uns durch den Garten, in dem die Schüler bereits eine Reihe von Aprikosenbäumen gepflanzt haben. Auch im großen Gewächshaus laufen die ersten Vorbereitungen für den Anbau. Die Schüler haben große Pläne und wollen sogar einige Schafe und Ziegen anschaffen – einen kleinen Stall gibt es bereits. Der landwirtschaftliche Unterricht soll neben der praktischen Wissensvermittlung auch dazu dienen, die Schüler zu animieren, aktiv zu werden und sich auf friedliche Weise gegen die Landkonfiszierungen zu wehren, erklärt uns der Schulleiter.
‚Sumut‘ ist ein Wort, das während unseres Gespräches immer wieder fällt – es bedeutet sie viel wie ausharren, Standhaftigkeit, für viele Palästinenser*innen das „Weitermachen“ trotz der Auswirkungen der Besatzung.
Ich bin gespannt, was bei unserem nächsten Besuch im Gewächshaus schon gedeiht und hoffe, dass die Schüler ihre Pläne nach und nach in die Tat umsetzen können – damit ihre Schule wieder ein Ort wird, an dem auch sie selbst gut lernen und wachsen können.
Mirjam, September 2019
[1] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19490188/index.html#a50
[2] 1 Dunum entspricht 1000 qm.
Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.