„Erzählt es weiter!“

Seit über einer Stunde blicken wir in tausende Männergesichter, müde, muffelige, muntere, ab und an ein Frauengesicht. Wir stehen am CP 300, dem Übergang für Palästinenser:innen aus der Region Bethlehem und anderen Orten der südlichen Westbank nach Ost-Jerusalem und Israel.

Gegen 6 Uhr hören wir das Klicken der beiden Drehkreuze, durch die immer nur eine Person passt, plötzlich nicht mehr. Eine Masse von Menschen, dicht an dicht gedrängt, staut sich zurück, zunächst bis zu uns, dann bis zu dem Verkaufsstand hinter uns, wo ein Morgenkaffee und Imbiss erhältlich ist, und schließlich bis zu den Taxis, die auf Fahrten warten. Einige Männer klettern am Drehkreuz der humanitarian lane hoch auf eine Mauer und springen vor die beiden Drehkreuze des Haupteingangs, um vorne zu sein, wenn der Durchgang wieder möglich ist. Sie springen an und zwischen die Körper anderer. Solche Szenen haben wir schon öfter beobachtet, wenn es drinnen im Checkpoint nicht mehr weitergeht und die ersten Panik bekommen, ihren Arbeitsplatz nicht rechtzeitig zu erreichen.

Ein schmales Drehkreuz und eine schmale Tür: Die sogenannte humanitarian lane am Checkpoint 300; © WCC-EAPPI/Helga

Die humanitarian lane – der sogenannte humanitäre Durchgang – scheint ebenfalls geschlossen zu sein. Nirgendwo gibt es ein Schild oder einen sonstigen Hinweis, wann und für wen dieser Durchgang geöffnet wird. Aus unseren bisherigen Erfahrungen und dem, was das Vorgängerteam uns berichtet hat, schließen wir, dass die humanitarian lane um 5:45 Uhr für Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen und Personen mit besonderen Genehmigungen wie etwa für Arztbesuche, geöffnet sein sollte. Und zwar theoretisch so lange, wie der Haupteingang die große Zahl der Menschen bewältigen muss, die morgens auf dem Weg zur Arbeit sind. Aber wie so vieles, was wir hier erleben, spiegelt auch die scheinbare Wahllosigkeit der Öffnung oder Nichtöffnung der humanitarian lane wider, was viele Menschen hier als besonders belastend in ihrem Alltag unter Besatzung empfinden: Die häufige Willkürlichkeit des Systems, das Gefühl, nie genau zu wissen, was einen als nächstes erwartet. Das Gefühl, nicht als menschliche Wesen wahrgenommen zu werden. Hier am Checkpoint äußert sich diese eingespielte Form der Besatzungsbürokratie vielleicht für viele besonders deutlich, denn hier sind die meisten Abläufe mittlerweile elektronisch geregelt, ist kaum menschlicher Kontakt möglich, z.B. wenn es zu Problemen kommt und der Durchgang verweigert wird.

Samstag, Sonntag und Montag war der Checkpoint für Menschen mit Arbeitserlaubnis in Israel aufgrund von jüdischen Feiertagen ganz geschlossen. Deshalb sind heute besonders viele hier: Alle, die eine Arbeitswoche lang in Israel bleiben, alle, die Tag für Tag zu festen Arbeitgeber:innen pendeln und alle, die täglich passieren, nur um an Baustellen auszuharren, ob sie vielleicht stundenweise als Tagelöhner aushelfen dürfen.

Dicht gedrängt stehen die Menschen am frühen Morgen am Checkpoint, einige versuchen, über die Absperrung zu klettern; © WCC-EAPPI/Helga

Ein junger Mann hinter uns, auf einem Mäuerchen sitzend, spricht uns an: „Das staut sich nicht so zurück, weil es so viele sind und Feiertage waren. Das kontrollieren die da drinnen.“ Wir nicken. Wenn erst einmal die beiden ersten Drehkreuze überwunden sind, könnten theoretisch ca. 16 weitere Türen geöffnet werden, an die sich elektronische Taschen- und Körperkontrollen anschließen. Danach gibt es ebenfalls elektronische Passierstellen mit Augenscan für die Überprüfung der Ausweiskarten und der Arbeitserlaubnis sowie ein paar wie Boxen wirkende Räume, in denen israelischen Soldat:innen sitzen, die im Zweifelsfall persönlich prüfen.

„Die haben da drinnen einfach zugemacht! So zeigen sie uns, dass sie uns kontrollieren.“ Das Wort „Kontrolle“ wiederholt er immer wieder. „Erzählt das zuhause! Dass ihr das gesehen habt. Das glaubt ja kaum jemand!“ Er möchte uns seine persönliche Situation darstellen, stellt sich vor. „Ich heiße Mohammed und das hier (er zeigt auf den neben ihm sitzenden älteren Mann) ist mein Vater. Wir kommen aus Hebron, aus dem H2 Gebiet[1], unsere ganze Familie wohnt zusammen, das geht nicht anders. Wir brauchen eine Stunde von Hebron bis hierher nach Bethlehem, müssen früh aufstehen, einplanen, dass wir hier eventuell nicht rechtzeitig durchkommen. Abends um neun sind wir zurück. Was ist das für ein Leben?! Wir tun das alles füreinander in der Familie, aber wir haben kaum Zeit mit- und füreinander übrig.“

„Ich habe in Ägypten internationale Finanzen und Wirtschaft studiert und arbeite eigentlich in einer Bank für Mikrofinanzierung, aber das ist zu wenig Geld für meine Stunden dort. Also mache ich was alle machen, ich arbeite zusätzlich ab und zu auf dem Bau, dort kann man mehr Geld machen.“

Wir fragen nach, wer alles zur Familie gehört. Er greift in seine Jackentasche nach seinem Handy und zeigt uns stolz das Foto eines niedlichen kleinen Mädchens. „Das ist meine Tochter, ein Jahr alt.“ „Deine Frau arbeitet nicht?“ „Nein, wie so viele in Palästina. Sie hat Geografie studiert, aber trotz guter Universitätsausbildung finden viele in Palästina keine Arbeit. Und nicht jeder darf in Israel arbeiten. Ich bin 30 Jahre alt, nur weil ich verheiratet bin und ein Kind habe, erhalte ich überhaupt eine Genehmigung. Eine Erlaubnis rüberzugehen, um dort überhaupt nach Arbeit zu suchen. Manche gehen Tag für Tag nur rüber, um irgendwo herumzusitzen, wo jemand sie vielleicht als Tagelöhner einsetzen will. Mit diesem Prinzip verspricht sich Israel keine Terrorist:innen ins Staatsgebiet zu bekommen. Meine Familie hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Mein Vater arbeitet seit Jahrzehnten in Israel, aber er kann auch nicht aufhören, falls er sich vielleicht zu alt dafür fühlt, denn er ist ja einer der wenigen in der Familie, die sich glücklich schätzen können, eine Genehmigung zu haben. Wir schaffen es nur zusammen als ganze Familie, jeder mit seinem Beitrag.“

Zur Familie gehören noch drei Brüder und eine Schwester. Die Schwester lebt in den USA, ein Bruder in Nordzypern. Mohammeds Gesicht strahlt dabei auf, als ob er sagen möchte, dass sie etwas geschafft haben. Dass sie zwar fern sind, aber große Beiträge für die Familie leisten.

Mohammed gibt uns seine Telefonnummer, versichert uns, dass wir von ihm erzählen dürfen. Er wünscht sich, dass bekannt wird, in welch unwürdigen Umständen sein Leben, das seiner Familie, seiner Landsleute unter israelischer Besatzung verläuft.

EA beobachtet den Zugang am Checkpoint 300 in Bethlehem; © WCC-EAPPI/Helga

Es kommt Bewegung in diese ansonsten anonyme Menschenmasse vor uns. An der humanitarian lane taucht grünes Licht auf. Trotz der Drängelei wird den Frauen ein nicht so beengter Durchgang ermöglicht. Mohammed bleibt noch einen Moment beobachtend sitzen; er meint, dass das Militär ab und zu nur Minuten lang eine Öffnung zulässt, um noch mehr Unruhe und Wut unter den Wartenden anzustiften. „Ruft an, meldet euch und kommt nach Hebron! Besucht mich und meine Familie!“ ruft er uns dann zum Abschied zu.

Eine Viertelstunde später „fließt“ die Menge wieder durch den Checkpoint. An der humanitarian lane ist ein großer kräftiger Soldat auf der anderen Seite des Drehkreuzes erschienen, er hält das Kreuz fest, winkt Frauen durch und stoppt es, um die Ausweise von Männern, die hier passieren wollen, zu kontrollieren.

Ich gehe an eine Stelle, von der aus ich das Prozedere besser sehen kann. Ein palästinensischer Mann streckt seine Hand mit dem Ausweis durch die Gitterstäbe, bittend, flehend, dem uniformierten und bewaffneten Soldaten entgegen. Neben dem kräftigen, Arabisch sprechenden Soldaten steht mit zwei Meter Abstand ein sehr junger Soldat, vielleicht gerade erst zur Armee eingezogen, klein, schmächtig, ein zart wirkendes Gesicht, es scheint, als würden sich seine Hände unsicher um seine schwere Waffe krampfen. Und dennoch, es ist dieses Bild, auf der einen Seite die Menschen, die einfach nur zur Arbeit, zum Arzt oder wohin auch immer wollen und auf der anderen Seite die Kontrolle durch die Gitterstäbe des Drehkreuzes unter bewaffneter Aufsicht, das mir ungewollt die Tränen in die Augen treibt. Mit Menschenwürde hat das hier nicht viel zu tun, die Machtverhältnisse sind klar verteilt, spiegeln sich in den Abläufen.

Mir schießen zwei Dinge durch den Kopf: Heute Morgen rief jemand „Was tut Ihr eigentlich hier“, danach das „Erzählt alles weiter!“, das uns Mohammed noch zugerufen hat.

Tatsächlich fühle ich mich in manchen Situationen hier durchaus machtlos. Wenn ich Dinge mit ansehen muss, aber nichts tun kann, um Abhilfe zu schaffen. Wenn mir mal wieder bewusst wird, dass das System der Besatzung und der Kontrolle so ziemlich jeden Lebensbereich der Menschen hier beeinflusst. Aber: Nicht selten treffe ich in solchen Situationen auf Menschen wie Mohammed, deren Bitte ich folgen kann: Weiterzuerzählen, was ich hier sehe und erlebe, damit mehr Menschen darüber informiert sind was es heißt, unter Besatzung zu leben. Viele Menschen wie Mohammed am Checkpoint wünschen sich in erster Linie einen verlässlichen und selbstbestimmten Alltag, so dass sie ihren Arbeitsplatz und den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien sichern können. In diesem Sinne hoffen sie auf ein Ende der Besatzung und einen gerechten Frieden.

Helga, im Oktober 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] Das H2 Gebiet von Hebron steht unter vollständiger israelischer Kontrolle, hier gibt es mehrere Siedlungen mitten in der palästinensischen Stadt

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